Göttergold

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Aufbruch

Von seiner Siedlung aus folgte Nalumbin stets dem Höhenkamm, der sich vom Sonnenberg nach Osten zum Donnerberg zog. Eine Strecke weit war er den Weg schon mit seiner Mutter auf der Suche nach bestimmten Pflanzen gegangen. Mit Büscheln an Kräutern, soviel sie tragen konnten, waren sie zurückgekehrt, und kein anderer als Jedaure war es dann, der die Pflanzen mit magischen Worten beschwor. In Wurzeln, Blättern und Blüten sollten die Kräfte wachgerufen werden, die Mensch und Vieh von Krankheiten heilen und vor umherschweifenden Geistern aus dem Schattenreich schützen sollten.

In Hochstimmung über das unerwartete Auffinden der Schale der Talischen und mit frischem Mut war es Nalumbins Ziel, den Donnerberg noch am selben Tag zu überschreiten. Je mehr sich aber der Tag neigte, umso langsamer und müder wurde sein Schritt und der Gipfel des Berges war immer noch fern. Der Schmerz im Knöchel quälte ihn und zwang ihn zur Rast. Unter einer Tanne von mächtigem Wuchs ließ er sich nieder. Er erinnerte sich, dass es der Ort war, an dem Aithe und er sich vor dem Rückweg zur Lomersiedlung ausgeruht und gestärkt hatten.

Die Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit vertrieb er sich mit dem Schnitzen eines Bechers aus einem Stück Eschenholz. Als dann die Dämmerung das Land blau überschattete, beendete er sein Werk, auf das stolz zu sein, es keinen Grund gab. Schief und krumm stand der Becher vor ihm.

Während das Land in Finsternis versank, sank auch Schweres, Bedrohliches in Nalumbins Herz. Fernes Wolfsgeheul ließ ihn ängstlich in die Nacht hinaushorchen. Durch das Geäst des Baumes blickten Sterne auf ihn herab und hielten ihm seine Kleinheit und Schwachheit vor Augen.

Die halbe Nacht lang lag er wach. Unter seinem Umhang wälzte er sich ruhelos. Erst gegen Morgen fiel er in schweren Schlaf.

Es ging auf Mittag zu, als er wieder zum Aufbruch bereit war. Den Fuß hatte er in einem Bächlein gekühlt und mit dem Rest an Birkenbast verbunden, der sich in seinem Beutel fand. Von nun an gestaltete sich der Weg durch ein pfadloses Dickicht mühselig und kraftzehrend. Wunsch und Wille aber, das ersehnte Ziel zu erreichen, ließen ihn durchhalten.

Am frühen Abend endlich erreichte er den Gipfel des Donnerberges. Um freie Sicht zu haben, stieg er in den Wipfel eines Baumes. Vor ihm, am nordöstlichen Horizont, erhoben sich die Höhenzüge der Tafelberge. Berge, deren Gipfel in der Tat so eben waren, wie sie Jedaure beschrieben hatte. Vor ihnen erstreckte sich die Baaranebene. Irgendwo dort musste die Divone fließen.

Nach langem Schauen wandte Nalumbin den Blick nach Westen. Noch einmal wollte er den Sonnenberg sehen. Heimweh überkam ihn. Der Hunger aber trieb ihn fort. Vielleicht würde er irgendwo auf eine Siedlung stoßen und sich eine Mahlzeit erbetteln können. Entschlossen machte er sich an den Abstieg zu einem vorgelagerten Gipfel.

Schaudern überkam ihn, als er sich über den Rand eines Felsvorsprungs beugte und tief unter sich den Kessel eines kreisrunden Sees liegen sah. Bis auf eine Uferseite, von der aus ein Tal nach Nordosten führte, fiel das Gelände um den See fast senkrecht ab.

Dies musste der Dunkle See sein, ein Ort, den die Menschen mieden und in dem sich ein Schatz verbergen sollte. Dämonen der Unterwelt trieben dort ihr Unwesen und bewachten ihn. Wehe, wer ihnen zu nahe kam, der war verloren, erzählten sich die Leute. Ein Schritt zu weit ans Ufer, und die Dämonen griffen mit schlangengleichen Armen zu und zogen den Eindringling mit sich hinab in die Tiefen des Sees. Wie gebannt starrte Nalumbin in das dunkle Wasser. Es schien, als schaute der See zu ihm herauf, als wollte er ihn mit seinem finsteren Blick durchbohren und ihn festhalten. Nun verstand er, warum die Bewohner des Beleintals den Dunklen See auch das ‚Auge des Donnerberges‘ nannten.

Über Nalumbin rauschte es plötzlich bedrohlich. Ein großer Raubvogel schoss an ihm vorbei in die Tiefe. Nalumbin erschrak. Sein Herz schlug schneller.

„Die Dämonen mit den Schlangenarmen!“, fuhr es ihm durch den Kopf.

„Fort, nur fort!“

Und schon hastete er davon, mit einer Hand den Beutel am Gürtel fest umklammernd. Fels- und Steinbrocken, mächtige Farne und Wurzeln bremsten bald schon seine Schritte, und sein Herzschlag beruhigte sich wieder. Tiefer stieg er mit der Absicht, in das Tal zu gelangen, das er vom Felssporn aus erblickt hatte. Ein kleiner Bach begleitete ihn, als wolle er ihm den Weg weisen.

Die Strahlen der Sonne fielen schräg durch die Wipfel. Der Buchenwald warf lange Schatten. Ein paar Mal hatte Nalumbin versucht, Eichkatzen und Tauben mit einem Stein zu treffen. Die Versuche misslangen. Die Tiere waren flinker als seine Wurfhand. Steinschleuder und Bogen fehlten. Zu ihrer Herstellung würde er das Gedärm eines Tieres benötigen.

Durch Gebüsch und Unterholz zog es ihn voran, er war bestrebt, die grüne Kühle des Waldes hinter sich zu lassen. Steinblöcke und Baumstämme kehrten unter den Schatten des Abends ihre Gesichter und Gestalten hervor. Nalumbin bemühte sich, nicht hinzuschauen. Die Furcht vor den Geistern der Dunkelheit lauerte.

„Nicht daran denken! Vorwärts, nicht zurückschauen!“

Bald schon führte ihn der Bach zum Ufer eines Sees. Die untergehende Sonne tränkte sein Wasser in glühendes Rot. Auf einem Stein sitzend tauchte Nalumbin die heiß gelaufenen Füße ins kühle Nass. Seine Hand ließ mit flachem Wurf Kieselsteine über die Wasseroberfläche hüpfen. Die Steine, sie zogen Wellenkreise; leichte Wellen, die über zitternde schwarze Baumwipfel glitten, die sich vom Ufer aus im Rot des Sees spiegelten. – Ein Farbenspiel, das ihm Jedaures Worte zum Feuer und Wasser ins Gedächtnis rief.

„Feuer ist mehr als das, was du am Herd spürst. Im Feuer ist der Sonnenfunke. Sonnenkräfte, die alles Lebendige durchdringen und ihm eine Ordnung geben. Auch im Wasser sind diese Himmelskräfte. Nicht die Form der Welle ist es, die sie zur Welle macht, sondern die Kraft ist es, die sie bewegt. Unvergänglich, so wie die Seele alles Lebendigen.“

Diese Worte Jedaures hatte Nalumbin damals nicht ganz verstanden. Doch hatte er es nicht gewagt, die Rede des weisen Mannes mit Fragen zu unterbrechen. Jetzt, wo er die Vermählung von Feuer und Wasser mit eigenen Augen sah, keimte eine leise Ahnung in ihm auf, was Jedaure gemeint haben könnte. War das Unsichtbare hinter den Dingen größer und bedeutender als das, was er sehen konnte? Im Blätterdach des Baumes über ihm flüsterte der Abendwind, als wolle er ihm antworten. Grillen zirpten. Vögel sangen ihr spätes Lied. Leuchtkäfer krochen hervor.

Es war schon dunkel, als noch immer ein roter Schein über dem Wasser lag. Die schmale Sichel der Mondin? Nein, denn diese verbarg sich hinter Wolkenfetzen. Der rote Schein aber leuchtete weithin: Es war der Schein eines Feuers, das in einiger Entfernung am Rand des Sees aufloderte.

Stimmen drangen an Nalumbins Ohr. War er auf eine Siedlung gestoßen? Als dann der Geruch von Gebratenem zu ihm herüberwehte, wurde ihm fast schwindlig vor Hunger. Nichts hielt ihn mehr zurück. Vielleicht konnte er von dem, was da so herrlich roch, etwas abbekommen?

Es dauerte nicht allzu lange, und die Stimmen rückten näher. Auch meinte er, ein paar Mal das Gebrüll von Rindern und das Schreien eines Esels gehört zu haben. Seine Hoffnung aber auf eine Siedlung sollte sich nicht erfüllen. Hinter einen Baum geduckt, blickte er auf abenteuerlich und finster aussehende Gestalten.

Wer waren die Männer, die um das Feuer saßen und die sich über gebratenen Fisch hermachten? Angst überfiel ihn. Was würde sein, wenn es sich um die gleichen Männer handelte, die sein Dorf niedergebrannt hatten? Wieder zog das Erlebte an ihm vorüber: die Gestalten, die die Linde umrundet hatten. Sein Sprung aus dem Baum. Die Hände, die nach ihm greifen wollten. Seine Flucht vor den Verfolgern in den Wald ...

Jäh riss ihn eine Hand aus seinen Gedanken und packte ihn im Nacken.

„Was machst du hier? Willst wohl stehlen?“, brüllte eine raue Stimme.

„Ich ... ich bin kein Dieb,“ stotterte Nalumbin.

„Warum schleichst du dich dann an wie eine Viper?“

„Weil ... weil ... Ich hab’ Hunger! Würd’ alles tun für ... für ein Stückchen von eurem Fisch.“

Da brachen die Männer, die ums Feuer saßen, in Gelächter aus.

„Hört euch das an! Kommt so ein Bürschchen mitten in der Nacht daher und will sich auf unsere Kosten den Bauch vollschlagen! Na, dann komm mal her!“

Widerstrebend näherte sich Nalumbin. Der Griff in seinem Nacken hatte sich gelockert. Einer der Männer, mit hellem struppigem Haar und Schnurrbart, erhob sich. In der Hand hielt er einen gebratenen Fisch, den er dem Jungen vor die Nase hielt. Als Nalumbin den betörenden Duft einatmete, wurde ihm vor Hunger fast schwarz vor Augen. Wie ein Hund schnappte er danach. Da hatte der Mann auch schon den Fisch in die Höhe gehoben und ließ ihn über Nalumbins Kopf baumeln, sehr zur Erheiterung seiner Gesellen. Noch ein paar Mal wiederholte sich das Spiel. Dann endlich überließ er dem Jungen den Fisch. Jemand warf ihm ein Stück Brot zu.

Kaum dass Nalumbin alles gierig schmatzend verschlungen hatte, spottete eine hagere Gestalt:

„Wünscht der junge Herr auch noch in den Schlaf gesungen zu werden?“

Wiederum stieg Gelächter aus den rauen Kehlen. Nalumbin sah sich Hohn und Spott preisgegeben. Zorn stieg in ihm auf.

„Mach nur große Sprüche!“, warf er dem Hageren entgegen.

„Willst mich in den Schlaf singen, wo sich dein Gesang doch wohl eher anhören dürfte wie das Röhren eines Hirsches!“

Die Runde brüllte vor Lachen. Doch lachte sie diesmal über den Hageren bei der Vorstellung seines Gesangs, denn so hager wie er war, so dünn war auch seine Stimme.

 

„Oho! Mumm scheinst du ja zu haben!“, sprach die Stimme, zu der die harte Hand gehörte.

„Von mir aus kannst du dich mit ans Feuer setzen. Erzähl, warum lauert ein Junge nachts ein paar harmlosen Händlern wie uns auf? Und das in dieser verlassenen Gegend!“

Felsengroß war der Stein, der Nalumbin bei diesen Worten vom Herzen fiel. Es waren also einfache Händler. Und doch keimte Unsicherheit in ihm auf, was er antworten sollte. Was würde sein, wenn die Männer den Inhalt seines Beutels entdeckten? Dann würden sie ihn erst recht für einen Dieb halten.

Es war der milde Blick aus den freundlichen Augen des Mannes, der Nalumbin das Brot zugeworfen hatte, der ihn dazu bewog, vom Überfall auf seine Siedlung zu erzählen. Den Inhalt seines Beutels aber verschwieg er. Als er seinen Bericht beendet hatte, herrschte Schweigen. Im Flackerlicht des Feuers schaute er auf sorgenvolle Mienen. Dann bemerkte der Mann mit der harten Hand:

„Es sind schwierige Zeiten. Nicht nur der Hunger ist’s, der sich in vielen Siedlungen als ungebetener Gast eingenistet hat, sondern auch die zunehmenden Überfälle von Diebesgesindel. Es sind die Metalle, von denen alles abhängt, und das bedeutet Macht und Reichtum. Weit im Osten soll es sogar ein Metall geben, das weit härter ist als unsere Bronze, und das zu Waffen geschmiedet wird, so wird erzählt. Die Rede ist von Eisen!“

„Ja, das war früher anders, als es nur den Stein im alltäglichen Leben gab, so jedenfalls erzählen’s die Alten“, warf ein anderer ein.

„Da gehörten Gold und ein Teil der Bronze allein den Göttern. Keinem Menschen, und sei er auch noch so schlecht gewesen, wär’s in den Sinn gekommen, die Götter zu bestehlen. Aber heute, da treiben sich viele Schurken auf den Wegen herum, die das Gesetz nicht mehr achten. Sogar auf Pferden kommen sie. Sie fallen über Händler wie unsereins her und brennen ganze Dörfer nieder. Sie morden und plündern. Wer weiß, was uns noch auf dem Weg zur Divone erwartet ...“

„Ihr zieht zur Divone?“, fragte Nalumbin aufgeregt.

„Ich bitte euch, lasst mich mit euch ziehen! Ich möchte zur großen Thainesiedlung, um einen Mann namens Arfund aufzusuchen. Ich bitte euch, Männer, nehmt mich mit! Dass ich euch nicht zur Last fallen werde, das verspreche ich! Gebt mir Arbeit, soviel ihr wollt!“

„Von mir aus!“ Fragend blickte der Mann mit der harten Hand in die Runde.

„Seid ihr einverstanden, den Jungen mitzunehmen?“

Da schüttelte der Hagere den Kopf, blickte Nalumbin scharf an, und bemerkte: „Ein Esser mehr? Das können wir uns nicht leisten!“

Daraufhin ergriff der Mann, der Nalumbin das Brot zugeworfen hatte, das Wort:

„Er könnte das Salz befördern. Mein Esel hat sich gestern den Huf verletzt und sollte keine großen Lasten tragen. Für Suppe und etwas Brot wird’s wohl noch reichen.“

Dieser Aussage konnte man sich nicht verschließen. Und nun gaben sich alle, bis auf den Hageren, einverstanden.

„Bis zur Divonesiedlung in der Baaranebene kannst du mit uns ziehen!“, sprach der Anführer.

„Von dort aus wird dich der Fluss durch's Tal der Steinriesen in die Tafelberge führen. Morgen früh aber wird gearbeitet, sonst gibt’s nichts zu essen! Feuerholz sammeln, Tiere versorgen!“

„Ich will mir Mühe geben!“, antwortete Nalumbin.

„Hier Junge, nimm!“, sagte der Anführer, indem er ihm eine Decke aus Ziegenhaar zuwarf.

Dankbar wickelte sich Nalumbin ein und legte sich nieder. Unter halb geschlossenen Lidern beobachtete er die Fremden. Es waren derbe Gesellen, von Wind und Wetter gegerbte Gesichter, aus denen die Erfahrung sprach, Männer, die bunt gefärbte Kittel unter ihren Umhängen trugen. Da waren heitere, freundliche Mienen, aber auch verschlossene und mürrische. Zu den Letzteren gehörte der Hagere, der mit einer Fischgräte in seinen schief stehenden Zähnen stocherte und Grimassen zog.

„Was meinst du Fear, wie weit ist’s noch bis zur Baaranebene?“, fragte ein Mann mit scharf geschnittenem Gesicht und dunklen Augen, die wie Kohlen im Feuerschein glühten. Auf dem Kopf trug er eine speckige Lederkappe, die mit ihm verwachsen zu sein schien. Der Anführer mit der harten Hand erwiderte:

„Wenn du mich fragst, so müssten wir’s in spätestens zwei Tagen geschafft haben. Es ist der Weg am Moor entlang mit dem unberechenbaren Nebel – ein gefährliches Stück.“

Schaudern überkam Nalumbin bei den Worten Fears, und er war froh, dass er in den nächsten Tagen und schwarzen Nächten nicht allein bleiben musste.

Im Einschlafen gaukelten die Bilder des zuvor Erlebten an ihm vorbei: Gesichter und Stimmen, kleine und große Gestalten im Feuerschein, eingehüllt in weite, dicht gewebte Mäntel, kupferbraun und hellgrün. Männer mit derben Fäusten und breiten Schultern, Fell- und Wollkappen auf dem Kopf, an den Beinen festgezurrte Stiefel aus Leder oder grobem Tuch. Brummendes Lachen klang nach und vermischte sich mit lauten Schnarchtönen. Und darüber wurde es Morgen. Nalumbins erster Gedanke beim Erwachen war:

„Ich muss mich sogleich nützlich machen, ich will den Männern beweisen, dass ich keine Last bin.“

Mit dürrem Reisig und spröden Baumästen kehrte er aus dem Wald zurück. Er entfachte das Feuer und trug Wasser für die Bereitung der Gerstensuppe herbei. Er machte sich nützlich beim Tränken und Füttern der Tiere und beim Aufladen der Waren auf die Rücken der Zugtiere. Als dann alle um den Kessel mit der dampfenden Suppe saßen, wies Fear seine Männer ein weiteres Mal auf die Gefahren des Moores hin, das vor ihnen lag.

Das frühe Mahl war beendet, das Feuer gelöscht, der Trupp zur Weiterreise bereit. Vielstimmiges Geschrei war zu hören, als man sich anschickte, die Furt eines wild dahinströmenden Baches zu durchqueren – die Guache. Ochsen und Esel waren beladen mit Rohkupferbarren. Die einen wiesen eine henkel-, die anderen eine rippenartige Form auf. Mit der Peitsche zwangen die Männer die Tiere ins Wasser.

Nalumbin hatte man einen Ledersack mit schweren Salzbrocken auf den Rücken gebunden. Er hatte Mühe das Gleichgewicht zu halten. Sein Fuß schmerzte. Die glitschigen Steine im Flussbett brachten ihn beinahe zu Fall. Fear bemerkte seine Unsicherheit.

„Wehe, du lässt das Salz ins Wasser fallen, dann gibt's Ärger mit meinen Männern! Du weißt ja, wie wertvoll es für uns ist! Dafür gibt’s Fleisch, Brot und Honigwein! Und zwölf erwachsene Männer wollen ernährt sein. Und du wohl auch!“

Dann, in leiserem Ton, sagte Fear unvermittelt: „Du hinkst. Warum hast du uns verschwiegen, dass du einen schlimmen Fuß hast? Nachher, wenn wir rasten, geh zu Fallain, der versteht sich aufs Heilen.“

Fear deutete auf einen Mann mit auffallend rotem, zerzaustem Haar. Es war derselbe, der Nalumbin das Brot zugeworfen hatte.

Nalumbin watete weiter, bemüht sich trittsicher zu zeigen. Unter dem Gebrüll der Ochsen, dem Geschrei der Esel, unter Stoßen, Ziehen und lautem Fluchen der Männer gelangte der Zug wieder ans trockene Ufer. Man beschritt nun einen Talweg, der in Richtung Nordosten führte, und der sich an den gefürchteten Sümpfen und Mooren vorbeiwand.

Es begann zu nieseln. Ab und zu kam die Sonne durch und zerfetzte die Nebelschwaden, die über dem Moor waberten. Geisterhafte Gestalten entsprangen ihnen, so erschien es Nalumbin. Baumskelette ragten aus dem sumpfigen Wasser. Dazwischen Inseln aus sattgrünen Moosen, bleichen Flechten und rötlichem Binsendickicht. Dunstschleier und Nebelstreifen, aus denen den Reisenden kalte Luft entgegenwehte. Sumpflöcher, die nach Tod und Verwesung rochen.

Vereinzelte, schwarzweiß gescheckte Birken, an denen Zunderschwamm in den seltsamsten Formen wucherte. Darüber, am Horizont, der Gipfel eines bewaldeten Berges, der nun in dunkle Regenwolken eintauchte.

Manche der Männer stützten sich auf Stöcke aus dem Holz der Haselnuss. Sie waren mit magischen Symbolen versehen. Mit ihnen hielten sie nicht nur die Tiere auf dem Weg, sondern sie sollten auch die Natur- und Schicksalsdämonen abwehren. Andere trugen kleine Kästchen aus Holz oder Metall um den Hals, in denen sie Stücke von Stoff oder Leder, Tierzähne, Klauen, heilige Pflanzen und Steine oder kleine Schellen aufbewahrten, die für sie als Besitzer magische, schützende Kräfte besaßen.

Am frühen Nachmittag, kurz vor dem Aufstieg aus dem Tal der Guache, musste der Fluss ein weiteres Mal durchquert werden. Am jenseitigen Ufer wurde kurz gerastet. Dann zog man weiter. Der steile Anstieg zur Hochebene war für die schwer beladenen Tiere nur schwer zu bewältigen, und so kam der Zug nur langsam voran. Auch Nalumbin keuchte unter der Last der Salzbrocken.

Es ging auf den Abend zu, als die Händler auf einer Waldlichtung in der Nähe einer Quelle das Nachtlager aufschlugen. Nalumbin wurde angewiesen, Holz und Reisig für das Feuer zu sammeln. Auch hielt der Wald eine Fülle von Beeren bereit, die gepflückt werden wollten. Fallain machte sich auf, um nach Heilpflanzen zu suchen. Nalumbin hörte, wie er mit den Pflanzengeistern redete und sie um ihre Hilfe bat, und er sah, wie Fallain nach Wurzeln grub und Rinde von Bäumen löste. Sorgfältig bereitete der Heiler dann sein Sammelgut mit dem Wasser aus der Quelle zu. Es galt einige Verletzungen bei Mensch und Tier zu behandeln.

Der Brei aus Pflanzen, den Fallain Nalumbin auf den geschwollenen Knöchel strich, als er an der Reihe war, tat alsbald seine Wirkung. Ebenso die Suppe, die Fear später austeilte. Erst recht aber das geräucherte Fleisch, das die Männer in einer kleinen Siedlung gegen Salz und Kupfer eingetauscht hatten.

Eine Weile noch saßen die Händler am Feuer, das die einbrechende Abendkühle fernhielt. Sie tauschten ihre Reiseerfahrungen aus. Einige von ihnen waren ziemlich weit herumgekommen. Es wurden Beschwörungen und Formeln ausgesprochen, die das Lager vor dem Zugriff der bösen Geister der Nacht und vor Schlangenbissen schützen sollten. Amulette wurden geöffnet, damit die darin enthaltenen Zauberstoffe ihre Wirkung entfalten konnten.

Fear trug einen aus Bändern geflochtenen Anhänger, der das getrocknete Herz eines Wolfs enthielt. Ein anderer, ein riesenhafter Mann namens Scroban, der durch besondere Stärke auffiel, führte die Klaue eines Bären mit sich. In Fallains Amulett befand sich ein Stück Leder mit geheimen Zeichen. Der Hagere verbarg in seinem Behälter das Auge eines Adlers. Steinerne Talismane mit von der Natur geschaffenen Löchern darin wurden in rhythmische Bewegung versetzt.

Ein besonders mächtiger Vernichter alles Bösen aber war das Feuer, das wieder die ganze Nacht über flackern würde. Nachdem die Wachen eingeteilt waren, sahen die Reisenden noch eine Weile dem Spiel der Flammen zu. Dann legten sie sich schlafen.

Die Nacht war klar, die Regenschleier hatten sich verflüchtigt. Noch war es finster bis auf den funkelnden Sternenhimmel. Bald würde über dem Lager wieder die silbrige Mondin schweben. Alles war ruhig. Die Tiere gaben kaum Laute von sich. Ringsum erhoben sich die schwarzen Bäume wie eine mächtige Wand. Erschöpft von den Anstrengungen des Tages lag Nalumbin noch eine Weile wach und schaute hinauf zum Himmel.

Er bat in Gedanken um Schutz für die Nacht. Bevor er in den Schlaf sank, tastete er noch einmal nach dem Beutel mit seinem kostbaren Inhalt. Auch an diesem Tag war er bemüht, seinen Schatz unter dem Umhang vor den Blicken der Männer zu verbergen. Das Letzte, was er noch hörte, war der Schrei einer Eule.

Die Behandlung, die Fallain an Nalumbins Fuß noch einmal vor dem Aufbruch am Morgen vornahm, zeigte Erfolg. Eingebunden in dicht gewobene Wollbinden und Birkenbast, trug ihn der Fuß deutlich leichter als am Vortag. Die Traglast drückte den Jungen nun weniger.

Bald schon erreichten sie den Rand der Waldberge. Die Landschaft fiel jetzt leicht ab hin zur Baaranebene und erleichterte ihnen das Vorankommen. Es eröffneten sich zwar nur wenige Sichtlücken inmitten des dichten Waldes, durch den sich schlangengleich der Pfad wand, und doch zeigte sich im Zurückblicken noch einmal von einer unbewaldeten Kuppe aus das mächtige Massiv des Donnerbergs.

In der entgegengesetzten Richtung, zum Sonnenaufgang hin, erhoben sich in der Ferne zwei stumpfe Bergkuppen, ein Zeichen, dass man sich der Divone näherte. Die Landschaft begann sich zu verändern. Mehr und mehr trat der dichte Wald zurück und machte lichten, von Eichen gesäumten Heckenlandschaften Platz, durchzogen von Siedlungen, Ackerland und Viehweiden. Die menschenarmen Waldberge hatte man hinter sich gelassen.

 

Eine Strecke lang begleitete ein munterer Bach den Weg. Die Tiere wurden getränkt, man wusch sich Schmutz und Staub ab, denn es sollte nicht mehr allzu lange dauern, und die Männer würden ihr Tagesziel erreicht haben. Zwei von ihnen, erfahrene Jäger, hatten mit der Wurflanze einen Hirsch erlegt. Ausgeweidet, das armdicke Geweih mit Waldgrün geschmückt, trugen sie ihn an eine Schulterstange gebunden.

Auch Nalumbin hatte Jagdglück gehabt. Es war ihm gelungen, an einem Waldteich eine Wildgans zu fangen. Voller Stolz, da man seine Geschicklichkeit anerkannte, überreichte er Fear die Beute. Darüber hinaus war er bei einem Abstecher in den Wald auf mehrere üppig ausladende Ringe an goldgelben Sommerpilzen gestoßen. Die Ernte war so groß, dass die Weidenkörbe dafür kaum ausreichten. Einen Teil der Pilze hatte er stehen lassen – er gehörte den Waldgöttern.

Die Schatten fielen länger, als sich der Zug der Divonesiedlung näherte. Der Weg wurde breiter und führte durch Weideland und vorbei an Feldern, auf denen Hirse, Gerste und Emmer im Wind wogten, längst nicht so ertragreich wie noch vor Jahren. Auch hier hatte das regenreiche Frühjahr seine Spuren hinterlassen.

Der Geruch von Wasser lag in der Luft, und somit sahen die Händler ihrer Begegnung mit den Divoneleuten entgegen. Als sich dann die ersten Häuser vor ihnen erhoben und ihnen der Duft von frischem Brot in die Nase stieg, da beschleunigten sie ihren Schritt in der Vorfreude auf eine handfeste Mahlzeit.

An manchen Häusern waren die Eingangspfosten mit Schnitzwerk versehen. Auf dem Dorfplatz, vor dem Speicherhaus, befand sich eine mit frischem Blut bestrichene Holzfigur. Nalumbin erkannte in ihr die Göttin der Waldberge. Männer und Frauen gingen geschäftig umher, verfolgt von den Augen ihrer neugierigen Kinder, die an dem bunten Treiben ihre Freude hatten. Stimmengewirr und Hundegebell erfüllten die Siedlung. Nun wurden die Geschäfte getätigt.

Fear bot dem Oberhaupt des Dorfes den erlegten Hirsch zum Tausch gegen Übernachtung und Verpflegung für seine Leute. Bronzeteile zum Umschmelzen sowie Salzbrocken und Glasperlen ergänzten die Gastgeschenke. Die Pilze übergab man den Frauen, die zum Essen für die Gäste rüsteten. Danach tauschten die Händler sorgfältig gewebte, mehrfarbige Spinnstoffe gegen Dörrfleisch und Mehl ein. Auch Speere, Keulen, Schleudern und Steingeräte gehörten dazu.

Die Lasttiere wurden entladen und die Waren im Speicherhaus verstaut. Bald darauf wurden die Reisenden von den Divoneleuten in ihren Häusern mit einem Gastmahl bedacht, bevor man ihnen ihre Nachtlager zuwies.

Nach den knapp bemessenen Essensrationen der vergangenen Tage genoss Nalumbin die aufgetragenen Speisen wie nie zuvor in seinem Leben. Eine junge Frau mit einem Lächeln, das ihn an seine Mutter erinnerte, füllte seine Essschale mit geröstetem Fisch, Wassernüssen, Sommerpilzen und Hirsebrei. An ihrem Rocksaum hing ein kleines Mädchen mit einer Holzpuppe im Arm.

Nach der Mahlzeit wurde eine Talglampe entzündet, bei deren Schein Fallain und Fear noch eine Weile mit ihren Gastgebern zusammensaßen. Der Hausherr hatte ein Messer zur Hand genommen und begann eine Figur aus einem Stück Holz zu schnitzen. Die Frau an seiner Seite wob auf einem Handwebrahmen an einem bunten Band. Neben ihr, in einem weichen Bettchen aus Binsen und Moos, schlummerte bald schon das kleine Mädchen.

Alte Geschichten, aber auch Neues, wurden ausgetauscht. Auf seinem Lager unter dem Vordach des Hauses sitzend, lauschte Nalumbin den Stimmen und spähte in die Nacht hinaus. Es war Fears Stimme, die jetzt fragte:

„Rudan, ist’s euch recht, wenn wir einen Tag Pause einlegen und erst übermorgen aufbrechen? Meine Männer möchten sich ein bisschen ausruhen, Bärte schneiden, Schuhe und Kleider in Ordnung bringen, bevor wir weiter nach Norden zum Schwarzen Fluss ziehen. Dort wollen wir Salz übernehmen.“

„Dagegen gibt’s nichts einzuwenden. Euer Geschenk können wir wirklich gut gebrauchen. Solch großzügige Gäste haben wir nicht alle Tage“, antwortete die Stimme des Hausherrn.

„Den Jungen, den Ihr bei Euch habt, den könnte ich morgen allerdings gut einsetzen. Er könnte Cerin im Holz helfen.“

„Gut, nehmt den Jungen, wie Ihr wollt, er ist ein guter Arbeiter.“

Unerwartet tauchte ein Schatten neben Nalumbin auf. Es war ein Junge, wie Nalumbin im Schein der Lampe, der durch eine Luke fiel, erkannte.