Göttergold

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Des Schlachters Ruf

Jor war der Erste im Haus, den das Gebell der Hunde aus dem Schlaf riss. Sein vom Jagen geschärftes Gehör nahm das Surren von Pfeilen wahr, die klackend auf das Dach prallten. Feuerschein drang durch die Luke. Bei ihrem Öffnen sah Jor einen brandhellen Himmel. Sein Herz zog sich zusammen. Entsetzen! Das Dorf der Talischen! Es brannte! Über Jor erfasste ein mächtiger Windstoß die noch spärlichen Flammen und ließ den Dachfirst wie von Geisterhand auflodern.

„Räuber!“, schrie er: „Männer, schlagt die Pfeile ab, löscht das Feuer!“

Jetzt waren auch die anderen Männer der Lomersiedlung auf den Beinen, griffen zu allem, was sich zur Verteidigung fand, stießen die Türen auf und stürzten hinaus.

„Hierher, Jendur, zu mir ans Haupttor! Du, Tiann, übernimm die Ketten! Leuk und Norin, öffnet das Fluchttor!“, drang die Stimme seines Vaters an Nalumbins Ohr, während er sich aus dem Schlaf quälte. Danach hörte er die Schläge von aufeinandertreffendem Metall und das Krachen von Beilen, wie sie ins Holz des Palisadenrings schlugen. Schmerzensschreie, wilde Flüche und das Geklirr von Ketten zerrissen die Nacht.

„Was ist das?“, stammelte Nalumbin. Da spürte er auch schon Aithes Hand, die ihn hochriss.

„Raus, Kinder! Schnell, es brennt!“, befahl sie.

Sie drückte Nalumbin seinen Beutel in die Hand, warf ihm den Umhang zu und drängte ihn und die kleine Suri auch schon ins Freie. Am Fluchttor der Siedlung warteten bereits Leuk und Norin und entließen die Flüchtenden in den angrenzenden Wald. Auch die anderen Frauen waren bereits mit ihren Kindern und Bündeln auf den Beinen. Sie hasteten den Pfad entlang, der zu einem Felssporn führte. Darunter verbarg sich die Fluchthöhle.

Die Angreifer aber hatten die Absicht der Flüchtenden erkannt. Sie schnitten ihnen den Weg ab. Leuk und Norin kämpften mit Todesverachtung, um ihn zu verteidigen. Der Feind aber war in der Überzahl. Mit einem gellenden Schmerzensschrei sank Leuk zu Boden. Ein Schwert hatte ihn durchbohrt.

Da wurde Nalumbin im Gemenge von Aithe und seiner Schwester getrennt. Panische Angst erfasste ihn. Ziellos hastete er umher, stolpernd, schwankend. Sein Herzschlag dröhnte in den Ohren. Es knisterte und knackte im Unterholz. Schreie und Waffengeklirr hinter ihm trieben ihn wieder auf die Siedlung zu. Beim Anblick des brodelnden Feuers, das sich pfeifend in die Häuser hineinfraß, kamen ihm die Tränen.

Jetzt hatten sich die einzelnen Brandherde vereinigt. Rauchschwaden verdunkelten die Mondin. Ein Teil des Schutzzaunes aus aufgerichteten Stämmen war niedergerissen. Im Feuerschein der Flammen sah der Junge, wie Jendur gegen mehrere Angreifer mit einer bronzenen Sichel kämpfte, ihm zur Seite Tolte, der Weber, die schwere Steinaxt schwingend. Tiann ließ die Ketten durch die Luft rasen, und wehe jedem, der in ihren Sog geriet. Mit Kampfgeschrei rannten Pjat und seine Männer aus der Nachbarsiedlung herbei. Das Grauen packte Nalumbin, als er über einen abgeschlagenen Kopf stolperte. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, irrte er am Rand des Schlachtfeldes umher.

Eine Hand, die Nalumbin plötzlich auf seiner Schulter spürte, ließ sein Herz für Augenblicke stillstehen. Es war eine Hand, die sich blutig anfühlte. Es war die Hand seines Vaters, die den Sohn noch einmal berühren wollte. Sterbend brach Jor zusammen.

„Nalumbin! Rette die Schale, rette den Stein! Bring sie in Sicherheit! Hier, mein Dolch, nimm ...“!

Es waren Jors letzte Worte. Verzweifelt und in brennendem Schmerz umklammerte Nalumbins Hand noch einmal die blutige Hand des Vaters. Dann stürzte er blind vor Tränen davon, mitten durch den Schauplatz des Grauens, vorbei an Wimmern, Stöhnen und Klageschreien. Der Geruch von Blut folgte ihm bis zur Linde.

Eine nie gekannte Schwäche überfiel ihn und lähmte seinen Willen. Es war, als würde eine Nebelwand vor ihm aufziehen. Und doch drangen Stimmen und Hufschläge hindurch. Den Stamm der Linde umfassend, spürte er nach Augenblicken, die ihm wie Ewigkeiten schienen, seine Kräfte zurückkehren. Die Stimmen kamen näher.

„Rasch, den Dolch verstauen!“, befahl er sich.

Dann, ein Griff in den gespaltenen Stamm des Baumes, und schon zog er sich hinauf. Hinauf, nur hinauf in den Schutz des Baumes! Das Feuer, das die Nacht erhellte, entsandte flackerndes Licht bis in das Blätterdach und enthüllte den Schrein.

Mit zitternder Hand öffnete Nalumbin den Kasten. Sie griff nach dem Bernstein und steckte ihn in seinen Beutel. Ein zweiter Griff! Die goldene Schale der Talischen, die im Feuerschein aufblinkte.

„Was machst du da?“, schrie es von unten.

Die Stimme fuhr Nalumbin durch Mark und Bein. Die Schale entglitt seiner zitternden Hand, noch bevor diese sie in den Beutel stecken konnte. Mit leisem Klirren fiel die Schale in die Tiefe. Entsetzen packte Nalumbin. Zu Stein erstarrt verharrte er im Baum. Unter sich hörte er Schritte. Sie umrundeten den Baum. Er wagte kaum zu atmen. Die Schritte entfernten sich. Es war der Augenblick, in dem der Junge all seinen Mut zusammennahm und sich in fliegender Hast den Stamm hinabhangelte. Ein letzter Sprung, und er hatte wieder festen Boden unter den Füßen.

Doch noch bevor er nach der verlorenen Schale suchen konnte, bauten sich auch schon zwei dunkle Gestalten drohend vor ihm auf und wollten nach ihm greifen. Mit einem scharfen Haken entfloh er und hetzte auf den Wald zu, den Beutel fest umklammert. Die Furcht vor den nächtlichen Geistern verblasste vor der Angst, von den Gestalten ergriffen zu werden, die ihm auf den Fersen waren.

Er rannte und rannte, ohne jeden Plan. Äste und Zweige peitschten ihm ins Gesicht. Scharfe Dornen griffen nach seinen Kleidern. Gebüsche und Baumwurzeln versperrten ihm den Weg und ließen ihn immer wieder straucheln. Dichter und schwärzer wurde die Wand aus Unterholz. Wie ein Rasender kämpfte er sich hindurch. Todesangst im Nacken erstickte jeden Schmerz. Dort, wo sich unerwartet Abhänge vor ihm auftaten, verließ er sich nicht auf seine Füße, sondern rutschte hinab. Nur fort, weit fort von den wilden Flüchen, die hinter ihm durch die Nacht hallten. Sein Atem dampfte, und er verlor jedes Gefühl für Zeit und Raum, und er wusste nicht, ob seine Flucht durch den Wald jemals ein Ende nehmen würde.

Als ihm dann ein Bach den Fluchtweg abschnitt, hielt er erschrocken an. Die Angst vor den Verfolgern aber trieb ihn weiter. Eilends watete er ins Wasser, das im Licht der Mondin hell aufschimmerte. Unter seinen Füßen fühlte er große, runde Steine. Da geschah es! Er glitt aus und stürzte. Ein rasender Schmerz am Knöchel!

„Weiter!“, befahl er sich. Triefend nass humpelte er durch den Bach zum anderen Ufer, den Beutel immer noch umklammernd. Die Stimmen seiner Verfolger verloren sich. Irgendwann und irgendwo wich die Angst der Erschöpfung. Er sank auf den Waldboden.

Der Morgen dämmerte herauf. Prasselnder Regen weckte Nalumbin. Zitternd vor Kälte versuchte er aufzustehen. Es wollte kaum gelingen. Durch den Regenschleier nahm er in unmittelbarer Nähe übereinandergetürmte Felsblöcke wahr. Das Verlangen nach einem trockenen Unterschlupf war genauso stark wie der Schmerz im Fuß, und so schleppte er sich zu den Felsen, auf der Suche nach einem schützenden Dach, das es doch hier irgendwo geben musste.

Sein Gefühl hatte ihn nicht getäuscht. Unter Ranken und Gesträuch verbarg sich eine höhlenartige Nische, in die er hineinkroch. Unter großer Anstrengung zog er seine nassen Kleider aus. Nur sein lederner Umhang schützte ihn. Seine Mutter hatte das Leder gut eingefettet. Ihr, dem toten Jor und seiner Schwester Suri galten seine Gedanken, bevor er auf dem moosigen Grund in schweren Schlaf fiel ...

Fieberträume

Der Tag war längst gegangen. Sturm war aufgekommen. Er fegte an der Felsspalte vorbei und entsandte sein Heulen in das Dunkel der Nacht. Nalumbin lag in schwerem Schlaf. Auch der Ruf des Eichelhähers, der den Morgen ankündigte, vermochte ihn nicht zu wecken. Fieber lähmte seinen Körper.

Unzählige Tropfen des nächtlichen Regens, die sich von den Baumwipfeln hinabstürzten, glänzten im Sonnenlicht und ließen die Welt vor der dunklen Höhle wie einen Kristall erstrahlen. Nalumbin aber hatte keinen Blick für die Schönheit des Morgens. Frierend und doch voll innerer Glut kroch er aus der Felsnische. Die Zunge klebte am Gaumen. Als er aufzustehen versuchte, durchfuhr ein brennender Schmerz den Fuß. Seine Hand tastete nach dem aufgeschürften Knöchel und fühlte unter der heißen, gespannten Haut eine starke Schwellung. Dann aber siegte der Durst über den Schmerz.

So sehr er nach seinem Sturz den Bach verflucht hatte, umso dankbarer war er nun, ihn in der Nähe zu wissen. Durch regennasses Gras kroch er fort, den kranken Fuß als eine Last mit sich ziehend, die sein Körper kaum tragen konnte.

Endlich, das Kinn auf einen flachen, glatten Stein am sumpfigen Ufer gestützt, gelang es ihm zu trinken. Beinahe unersättlich. Frische Kräfte kehrten in ihn zurück. Nicht für lange, jedoch lange genug, um einen Blick auf die Umgebung zu werfen.

Vor sich sah er die schaufelartigen Blätter des Wasserklees. Sie erinnerten ihn an die Frauen seiner Sippe, an Aithe, wie sie ihren fieberkranken Kindern mit dem Kraut Erleichterung verschafft hatten. Entschlossen riss seine Hand Blätter von der Pflanze. Den Kopf immer noch auf dem Stein, halb im Wasser liegend, umspült vom leise dahinplätschernden Bach, kaute er Blatt um Blatt. Es schmeckte unangenehm bitter und es kostete ihn Überwindung, den Brei zu schlucken. Und während er sich dazu zwang, war ihm, als flüstere es aus dem Bach:

 

„Es gibt noch andere Pflanzen an meinem Ufer, die dir helfen können!“

„Welche?“, wollte er fragen. Da trat auch schon Jedaure in seine Fieberfantasien und deutete auf Körbe mit Weidenrinde und wildem Flieder, und er konnte sich selbst sehen, wie er beim Schneiden und Pflücken der Heilmittel geholfen hatte. Jetzt verschwammen die Bilder.

Der Bach schwieg. Um Nalumbin wurde es Nacht. Eine innere Stimme aber rief ihn wach, die ihm befahl, den Kopf aus dem Wasser zu heben. Vom Fieber geschüttelt kroch der Kranke zurück zur Höhle.

Später, als sich der Tag neigte und der Durst wieder unerträglich wurde, verließ der Junge seine Behausung auf ein neues und suchte den Bach auf, nicht nur um zu trinken, sondern in der Hoffnung, einen Weidenbaum zu finden. Die Wegstrecke zu einer Gruppe Weiden, die auf einer verlandeten Bachschleife stand, schien ihm endlos. Getrieben vom Wunsch, den stechenden Schmerz im Fuß zu lindern, brachte er es mit vielen Unterbrechungen dann zuwege, mit dem Messer seines Vaters Bast und Rindenstücke von den Weidenstämmen zu lösen.

Unter ihnen wucherte wilder Knoblauch, der schon verblüht war. Die zerkauten Blätter drückte er auf den verletzten Knöchel. Von Jedaure wusste er um die reinigende Wirkung der Pflanze. Es brannte.

Zurückgekehrt in sein Lager, löste er die Lederschnur von seinem Beutel und band damit die Weidenrinde um den Knöchel. Erschöpft, willenlos und mit hämmerndem Kopf überließ er sich dem Schlaf. Immer wieder trat Jor in seine Fieberträume, fragte ihn nach dem Bernstein und der Schale. Nalumbin wollte antworten, wollte ihm sagen, dass er den Stein hatte retten können, doch die Zunge lag ihm wie ein Klumpen im Mund. Auch sah und hörte er seine Sippe, wie sie nach ihm rief. Er wollte aufspringen, wollte ihr entgegenlaufen.

Eine Macht aber drückte ihn nieder, schwarz und drohend – Fieber, das ihn umzubringen drohte.

Wie viele Sonnen und Monde auf- und untergegangen waren, wusste Nalumbin später nicht zu sagen. Er wusste nur, dass er sich von Zeit zu Zeit zum Bachufer geschleppt hatte. Der Bach – er war sein Lebensretter. Dem frischen Wasser verdankte er es, dass er lebte. Auch den Pflanzen dankte er. Sie hatten mitgeholfen, das Fieber und die Entzündung im Fuß zu bekämpfen.

Zum ersten Mal, auf schwachen, jedoch beiden Beinen verließ er humpelnd die Höhle. Er hatte Hunger, unsäglichen Hunger. Jetzt war der Jagdtrieb in ihm erwacht, denn die Beeren allein, die ihm die Vögel an einem Strauch übrig gelassen hatten, konnten den entkräfteten Körper nicht stärken. Und so, wie es ihn die älteren Jungen seiner Sippe gelehrt hatten, suchte er sich nun am Bach eine Stelle, an der sich kleine Krebse vermuten ließen.

Vorsichtig und langsam tastete er in das grün schimmernde Bachgeröll am Uferrand, wendete Stein um Stein. Seine Geduld wurde mit einem Krebstier belohnt. Er brach die Schale auseinander und schlang das weiße Fleisch hinunter. Flussmuscheln, die er ausschlürfte, rundeten diese erste Mahlzeit ab. Die Entzündung im Fuß war am Abklingen und die Schwellung am Zurückgehen, doch steigerte sich der Schmerz am Knöchel mit der Anzahl seiner taumelnden Schritte.

Heißhunger nach gebratener Nahrung überkam ihn. Er watete in den Bach. Nach langem Ausharren im kalten Wasser, was seinem kranken Fuß guttat, gelang es ihm einen Fisch zu fangen. In seinem Beutel fanden sich Feuerstein und Zunderschwamm. Jetzt galt es nur noch trockenes Holz zu sammeln. Er fand es unter Felsvorsprüngen und in geschützten Spalten, abgestorbene Äste, die Wind und Wetter den Bäumen entrissen hatten.

Nach mehreren Versuchen, Feuer zu entfachen, leckten dann endlich die ersten Flämmchen nach der aufgeschichteten Rinde. Blauer Rauch kräuselte sich. Aus den Flämmchen wurden alsbald Flammen. Zweige und Äste brannten hell. Darüber briet der aufgespießte Fisch. Betörender Duft stieg dem Jungen in die Nase, und in Erwartung der köstlichen Mahlzeit wurde ihm der Hunger fast zum Genuss.

Dann der erste Biss in den rauchgeschwärzten Fisch! Es war köstlich. Das Leben kehrte zurück. Jetzt hatte er das Gröbste überstanden. Er fasste neuen Mut und beschloss, noch am gleichen Tag nach Hause aufzubrechen. Der kostbare Stein in seinem Beutel rief ihn zur Pflicht. Der Gedanke aber an die goldene Schale der Talischen, die ihm entglitten und mit Sicherheit verloren war, bereitete ihm großes Unbehagen. Wie enttäuscht würden sie sein, wenn er ohne ihr Heiligtum zurückkehrte?

Wer waren die Männer, die sein Dorf überfallen und angezündet hatten? Waren Aithe und Suri noch am Leben? Und wie mochte es dem alten Jedaure ergangen sein? – Fragen über Fragen, die sein Herz bewegten und bei denen sich seine Stirn umwölkte.

Nachdem sich Nalumbin noch eine Zeit lang am Feuer aufgewärmt hatte, packte er zusammen. Gestützt auf einen Ast trat er den beschwerlichen Heimweg an. Immer wieder zwang ihn Schwäche zur Rast. So stand die Sonne schon weit über dem Zenit, als er sich seiner Siedlung näherte. Warum war es so still?

Warum schlugen die Hunde nicht an? Ein beklemmendes Gefühl beschlich ihn. Dem Land entströmte Brandgeruch. Eine entsetzliche Gewissheit griff nach ihm.

Und dann sah er es mit eigenen Augen, die brannten, tränenlos, fassungslos: Die Siedlung war menschenleer. Auch aus dem Dorf der Talischen wehte derselbe Gestank. Vom Haus seiner Eltern waren nur noch verkohlte Reste und Aschehaufen übrig. Alle Bauten boten denselben Anblick: Zerborstenes, wie von wütender Riesenhand durcheinander geworfenes Rundholz, schwarz und rußig!

Die wenigen nicht verbrannten Häuser wie verloren – leblos, menschenlos. Die Windschwestern trieben ihr Spiel mit einer offenen Türe und bewegten sie knarrend hin und her. Zögernden Schrittes näherte sich Nalumbin und trat ein. Es war Jedaures Haus. Es war leer. Kein Topf und kein Tiegel über dem Herd. Kein Feuer. Kein Krug und kein Becher. Keine wundersamen Gegenstände mehr auf dem Wandbrett, kein Lederkästchen mit Schmetterling und Kleeblatt.

Nur ein Bett, in dem ein zerfranstes Fell lag. Daneben ein unförmiger, großer Stuhl aus Birke und Binsen. Jedaures Ratsstuhl. Und da wusste Nalumbin: Sie waren fortgezogen. Ohne ihn.

„Warum haben sie nicht auf mich gewartet? Warum haben sie nicht nach mir gesucht?“, schrie es aus ihm heraus.

„Haben sie vielleicht geglaubt, ich bin verschleppt worden? Oder dachten sie etwa, ich sei tot?“

Doch das Haus blieb stumm, und so verstummte auch Nalumbin. Waren die Rufe seiner Sippe, die er im Traum gehört hatte, vielleicht Wirklichkeit gewesen? Bei diesem Gedanken wurde ihm das Herz so schwer, dass er meinte, er könne es nicht mehr tragen. Tränen flossen über sein zerkratztes Gesicht. Ausgelaugt von Schmerz und Kummer sank er auf Jedaures Stuhl und verharrte dort, bis irgendwann die Schatten des Abends den Raum verdunkelten. Mit ihnen meldete sich die Nacht mit ihren Geistern. In Jedaures Bett verkroch er sich unter das Fell, wagte sich nicht zu rühren. Verlassenheit drückte ihn nieder, und er glaubte nie wieder aufstehen zu können. Wie enttäuscht würde sein Vater – lebte er noch – von ihm sein, wenn er ihm ohne die Schale der Talischen entgegentreten würde!

Draußen pfiffen die Windschwestern und brachten Regen, der auf das Dach trommelte und dessen Eintönigkeit Nalumbin müde machte. Erschöpfung und Sehnsucht nach Geborgenheit nahmen ihn schließlich in die Arme und ließen ihn einschlafen.

Dann, im fahlen Licht eines nebeltrüben neuen Morgens, erblickte Nalumbin frisch aufgeschichtete Steinhügelgräber am Waldrand – auch Reste von Scheiterhaufen in einiger Entfernung. In einem der Gräber vermutete er die Asche und die Knochenreste seines Vaters. Er fragte sich, woraus wohl die Urne beschaffen war? Hatte Jendur, der Töpfer, falls er den blutigen Überfall überlebt hatte, vor dem Wegzug der Sippe noch Zeit für die Herstellung von tönernen Urnen gefunden, oder befanden sich die Leichenbrände in einfachen Behältnissen aus Holz? Oder hatte man die Reste der Toten ohne jeden Schutz auf den Boden der Gräber gestreut? Mit welchen Beigefäßen, Speisen und Getränken war sein Vater für die Reise in die andere Welt ausgestattet worden? Diese Fragen jagten Nalumbins Gedanken.

Den steinernen Hügel flankierten aufgerichtete Pfosten. Stoffbänder hingen an ihnen. Ihre Farben und Muster entsprachen denen von Jors Mantel. Ein flacher Graben umzog die Grabstätte. Versunken in Trauer und Hoffnungslosigkeit kniete Nalumbin davor.

Flüsternd, fast unhörbar, als wolle er die Ruhe der Toten nicht weiter stören, fragte er:

„Vater! Was soll ich tun? Welchen Weg soll ich nehmen? Wenn du doch nur antworten könntest! Nur ein Wort! Ein einziges Wort!“

Der kleine Steinhügel schwieg. Die Nebel begannen sich aufzulösen. Die Sonne stand am Himmel. Eine leere Stille lastete auf Jors Sohn. Tränen rollten über sein Gesicht. Er ließ es zu, denn es gab ja niemanden, der sie sehen konnte. Er sehnte sich zurück in die Welt seiner Kindheit, wissend, dass er an einem Scheideweg angelangt war. Er dachte an vergangene Feste, dachte daran, wie die Menschen fröhlich unter der Stammeslinde getanzt und gesungen hatten. Trauer mischte sich ein, aber auch Dankbarkeit. Trauer über das Verlorene.

Noch einmal rief ihn die Linde auf dem Dorfplatz zu sich. Nur wenige Äste zeigten noch grünes Laub. Die meisten Blätter hatte die Feuerhitze versengt; die einen schlaff geworden, die anderen spröde und wartend auf den nächsten Stoß der Windschwestern, der sie davontreiben würde. Nalumbin kauerte sich an den Stamm. Seine Finger ertasteten die Rinde – ein Stillstehen zwischen Heimat und Ferne.

Sein Blick wanderte über den Stamm, entlang von Spalten, Furchen und Rinnen, in denen es feucht schimmerte. Der uralte Baum mit seiner Rinde entführte ihn in winzige Welten: Landschaften, in denen sich schroffe Berge und tiefe Täler auftaten, durchzogen von Flüssen und Wäldern aus Moosen und Flechten. Auch die Wurzeln des Baumes, die weit hinab in das Erdreich griffen, bargen tiefe Spalten.

Vom Regen blank gewaschene Steine schimmerten wie aus einem dunklen Versteck im Sonnenlicht hell herauf. Als sich Nalumbin wieder vom Baum abwandte und ins volle Licht trat, zogen die Bilder des Sonnenfestes an ihm vorüber: Die letzten Schritte auf den Gipfel des Berges, der Sprung durchs Feuer, die goldene Schale der Talischen, wie sie unter den ersten Sonnenstrahlen aufgeleuchtet hatte.

Dann fiel es ihm wie Schuppen von den Augen: Hatte ihm vorhin nicht etwas entgegengeblinkt, hatte heller geleuchtet als die anderen Steine? Mit klopfendem Herzen kehrte er zum Baum zurück, warf sich zu Boden und spähte ins Erdendunkel. Nun erkannte er das Muster auf dem Gegenstand, den er zuvor für einen Stein gehalten hatte: Reihen von zentriert angeordneten getriebenen Kreisen und ineinander verschlungene Doppelornamente, die an Flussschleifen erinnerten, und sich wiederholende Strichmuster – die Schale der Talischen!

In höchster Erregung spürte Nalumbin ungeahnte Kräfte zurückkehren. Das Leid, das ihn vor wenigen Atemzügen noch schwer niedergedrückt hatte, fiel von ihm ab. Ein fast schmerzhaftes Glücksgefühl durchströmte ihn. War es die Göttin, die die Schale vor dem Zugriff der Plünderer geschützt hatte, den Mördern seines Vaters? War sie es, die ihm soeben ein Zeichen gesandt hatte? – Es war der Augenblick, in dem er sein Schicksal annahm, und in dem sich die Verantwortung für den Bernstein der Lomer und für die Schale der Talischen tief in sein Herz grub.

Wo aber war der Weg, dem er folgen sollte? Von seinem Vater wusste Nalumbin, dass die beiden Sippen vom Sonnenberg aus zuerst nach Südosten ziehen wollten, um so manchen Waldberg zu umgehen. Wie lange waren sie schon unterwegs, fragte er sich? In den nächsten Tagen würde ihn sein Fuß daran hindern, ihnen zu folgen. Einholen konnte er sie nicht mehr. Das soeben noch empfundene Glücksgefühl wich Zweifeln, die jetzt in ihm aufkamen. Selbst wenn er den Langen See irgendwann erreichen würde, wie sollte er dann jemals den genauen Ort finden, an dem sich die beiden Sippen niedergelassen hatten?

Da fiel ihm das Gespräch mit Jedaure vor Jendurs Werkstatt ein. Jedaure hatte von den Tafelbergen erzählt, von ihren östlich gelegenen Siedlungen und von seinem alten Freund Arfund, der dort in der großen Thainesiedlung lebte und der den Weg übers Weiße Gebirge kannte wie kein anderer.

Wieder stand die wilde Erscheinung von Jedaures Freund Arfund mit ihrem mächtigen kahlen Schädel vor ihm, umrahmt von einem Kranz schwarzen Kraushaares. Das Gesicht, sturmerprobt, von dunkler Farbe, so wie die Augen, die unter dichten Brauenbüscheln in die Welt blickten, als würden sie alles durchschauen.

 

Einer, der die Welt kannte und der in Nalumbin das Fernweh geweckt hatte. Ja, wenn ihn jemand zu seinen Leuten führen konnte, dann war es Arfund.

Nalumbin wusste, dass die Divone auf der Baraanebene östlich der Waldberge floss. War er erst einmal dorthin gelangt, so würde ihn der Lauf des Flusses bestimmt durch die Tafelberge zur Thainesiedlung im Osten führen. Zu Arfund. Doch auch diese Reise konnte er nur mit einem gesunden Fuß überstehen. Wohl oder übel würde er noch ein paar Tage in der Siedlung ausharren müssen.

Es kostete ihn Geschicklichkeit und Geduld, bis es ihm gelang, die goldene Schale mit einem Stock aus dem Wurzelgeflecht des Baumes zu befreien. Ergriffen betrachtete er aus nächster Nähe das kostbare Wunderwerk. Mit der Schale in der Hand stand Nalumbin lange unter der alten Linde. Sie hatte sich mit Sonnenlicht gefüllt.

Es war dann der Hunger, der ihn zu den wenigen Häusern trieb, die das Feuer nicht ganz vernichtet hatte, um dort nach etwas Essbarem zu suchen. Unter herabgestürzten Dachsparren stieß er auf einen angekohlten Kasten mit Hirseresten. Voller Gier kratzten seine Finger jedes Korn zusammen und stopften es in seinen Mund. Im verbrannten Dorf der Talischen fanden sich in einer vom Feuer verschonten Vorratsgrube getrocknete Bohnen.

In den nächsten Tagen ergänzten Beeren, Pilze und ein paar Bachforellen die Mahlzeiten, und so ging es Nalumbin zunehmend besser. Sein Knöchel schmerzte zwar noch immer, doch wollte er keine Zeit mehr verlieren und beschloss aufzubrechen. In seinen Beutel steckte er den Bernstein und die in einen Fetzen Ziegenleder gewickelte Schale. Das Zweiglein mit Samen, das er von der Linde brach, kam hinzu. Ebenso ein paar Nüsse, die er in der Fluchthöhle der Lomer gefunden hatte.

Es war ein trauriger Abschied vom Grab seines Vaters, bevor er davonschritt; tief beseelt von dem Wunsch, an jenen fernen Ort zu gelangen, den er noch nicht kannte und von dem er nur eine vage Vorstellung besaß. Dann warf er sich den Umhang über und ging festen Schrittes davon, in der Absicht, sich nicht mehr umzuwenden und nur noch nach vorne zu schauen ...