Coltrane

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Z serii: Hannibal-Jazz
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Mit „I’m Old-Fashioned“, einem Song von Jerome Kern und Johnny Mercer, zeigte Coltrane, dass er auch als Balladeninterpret große Fortschritte machte. Man muss bedenken, woher er kam: Erst im Jahr davor hatte er mit seiner schleppenden Version von „Round Midnight“, einer Aufnahme von Miles Davis für Columbia, beachtliche Fortschritte gemacht. Jetzt spielte er seine schaurigen, dicken, langen Töne in den mittleren Lagen und mit minimalem Vibrato – es war das ikonische Zentrum dessen, was einmal Coltranes Sound werden sollte.

Theoriebesessen

Am Ende von Coltranes Engagement bei Monk stellte ihn Miles Davis sofort wieder ein. Der letzte Tag im Five Spot war der 26. Dezember 1957; der erste Tag, als er wieder mit Miles auftrat, war der 2. Januar 1958. Er war ein ganz anderer Musiker geworden. Er hatte einen Weg gefunden, wie er von Recherche und Übung zu seinem eigenen, offenen Ausdruck finden konnte. Wenn ihn jemand fragte, wie sich sein Spiel seit seiner letzten Zusammenarbeit mit Davis entwickelt habe, sagte er:

Ich versuchte, einen mitreißenden, fließenden Sound zu kreieren.

Ich dachte in Notengruppen, nicht in einzelnen Tönen.

Ich begann, den Drei-Akkord-Ansatz anzuwenden, und damals neigte man dazu, die gesamte Skala des jeweiligen Akkords zu spielen. Deshalb wurden die Töne in der Regel sehr schnell gespielt und klangen manchmal wie Glissandi. Ich fand heraus, dass man eine gewisse Anzahl von Akkordwechseln in einer bestimmten Zeit spielen konnte, und manchmal funktionierte das, was ich spielte, eben nicht in Form von Achteln, Sechzehnteln oder Triolen. Ich musste die Töne in ungleiche Gruppen zu fünf oder sieben zusammenfassen, um sie alle unterzubringen.

So ungefähr 1958, als ich lieber Arpeggien statt herkömmlicher Melodien spielte, begann ich mich für die Harfe zu interessieren. … bedingt durch die direkten und frei fließenden Melodien (in der neuen Musik von Davis 1958) fiel es mir leicht, die harmonischen Ideen, die ich hatte, anzuwenden. Ich konnte Akkorde überlagern – über einem, sagen wir, Dominant-Sept-Akkord C7 spielte ich manchmal einen Eb7, manchmal nach oben einen F#7, manchmal nach unten einen F-Dur. Auf diese Weise konnte ich drei Akkorde über den einen legen. Auf der anderen Seite konnte ich, wenn ich wollte, aber auch melodisch spielen. Die Musik von Miles ließ mir viele Freiheiten.

Im Februar tauchte Coltrane im 30th Street Studio von Columbia auf, einer umgebauten armenischen Kirche nahe der Third Avenue auf der East Side, um als Teil des neuen Miles Davis Sextet mit der Arbeit an dessen neuem Album zu beginnen. Das sechste Mitglied war Julian „Cannonball“ Adderley, ein Altsaxofonist. Adderly war ein hingebungsvoller Bluesspieler mit einem honigtriefenden Sound und einer präzisen Achtelrhythmik, die einen beruhigenden und fast komischen Effekt hatte. Er schnürte keine seltsamen, ungeraden Notenbündel, wie Coltrane es tat, aber die Spielweisen der beiden Musiker färbten bald aufeinander ab. In Adderleys einfühlsamem Stil tauchten auf einmal überquellende, mit Noten vollgestopfte Abschnitte auf, in denen er die gesamte Bandbreite seines Instruments ausschöpfte. Beide hatten einen etwas scharfen Ton. Das ist auch der Grund, warum einige Hörer, die sich im Jazz noch nicht so gut auskannten, regelmäßig verwirrt waren, weil sie Coltrane mit Adderley verwechselten und umgekehrt.

Das Stück „Straight, No Chaser“ aus der Columbia-Session vom 4. Februar, das schließlich auf der LP Milestones landete, ist einer der großen Coltrane-Momente. Er beginnt nach einem Solo von Adderley und einer verdammt scharfen Improvisation von Davis, indem er den letzten Ton des Solos von Davis aufnimmt. Er bedient sich zunächst des Bluesmusters der bekannten Monk-Melodie, doch dann sprengt er es und überschreitet dessen Grenzen.

Am Anfang stellt er sich erst vor und richtet sich mit einigen langen Tönen während seines ersten Chorus ein. Der zweite und dritte Chorus jedoch bestehen zum großen Teil aus Sechzehnteln, die durch Akkorderweiterungen preschen und so mehrere Akkorde gleichzeitig andeuten. Es ist wie ein Motocross-Rennen. Der Kritiker Ira Gitler hatte diese Spielweise damals im Umschlagtext der bei Prestige erschienenen Coltrane-LP Soultrane als „Klang-Blätter“ beschrieben. Coltrane übte damals nach Harfen-Büchern, vermutlich nach Carlos Salzedos Modern Study of the Harp, was ihn an extravagante, schnelle Arpeggien und Skalen heranführte. Danach folgt Red Garland mit einem Solo, das er mit einer Blockakkordfigur beschließt. Diese lehnt sich an die Improvisation von Miles Davis aus „Now’s The Time“ an, eine 1945 mit Charlie Parker entstandene Aufnahme. Sie ist ein Musterbeispiel für trockenen Swing und Präzision innerhalb einer traditionellen Tonalität. Insgesamt spürt man ein seltsames Moment der Ungereimtheit, eine unbequeme Gegensätzlichkeit.

Es ist der Beginn von Coltranes Trancemusik, seiner Methode, die Grenzen konventioneller Harmonie zu ignorieren. Es ist der Beginn dessen, was viele Hörer später dazu brachte, sich vehement von ihm abzuwenden.

In diesem Coltrane-Solo liegt eine gewisse Zügellosigkeit, aber mit einer Breite und einem Maß an Können, die Emotionalität nicht von vornherein ausschließen. (In seinem vierten Chorus beginnt er eine geradlinige Rhythm & Blues-Melodie.) Er hatte der allgemeinen Definition von Kohärenz den Krieg erklärt. Die zahlreichen Konzertmitschnitte aus dieser Phase, die unter Sammlern kursieren, zeigen regelmäßig, dass Coltrane der einzige in der Gruppe war, der gegen das herkömmliche Tonverständnis rebellierte. Es war jedoch eine Rolle, die bald Unterstützung aus der Band erfuhr. Als Wynton Kelly Anfang 1959 in die Gruppe einstieg, förderte er diese Tendenzen, indem er Akkorde spielte, die Coltranes erweitertem Tonalitätsbegriff entgegenkamen. Dadurch geriet er allerdings mit dem Walking-Bass von Chambers in Konflikt.

In seinen Soli in „Dial Africa“ und „Gold Coast“, die er später im selben Jahr mit dem Trompeter Wilbur Harden aufnahm, umspielt Coltrane abermals auf verschwenderische Weise simple Harmoniewechsel. Weniger interessant, aber als Beispiel für seine systematische Entwicklung besser geeignet ist die Figur, die er am Anfang seines zweiten Chorus in „Dial Africa“ spielt. Das ist ein Ausblick darauf, was er acht Monate später am Beginn seines zweiten Chorus in „So What“ von Kind Of Blue spielen wird.

Da wir gerade von Kind Of Blue sprechen: Milestones enthielt neben einem weiteren Vorgriff auf den nächsten Schritt von Miles auch einen Vorgriff auf einen späteren Schritt von Coltrane, und zwar im Stück „Milestones“, das mit sehr sparsamen Harmoniewechseln auskam.

Erinnern wir uns daran, dass Miles und Coltrane als Bebopper groß geworden waren, die sich als ganz eigene Kaste gern damit brüsteten, möglichst schnelle und schwierige Akkordwechsel mühelos spielen zu können. Miles jedoch, stets bereit, neue Wege zu gehen, hatte daran gearbeitet, solche Stereotypen zu überwinden. Er hatte eine Möglichkeit gefunden, die scharfen Wendungen in der Harmoniefolge des Bebop abzumildern, indem er weniger Töne spielte und dadurch jedem einzelnen mehr Gewicht verlieh. Würde man Musik nach Geschlechterrollen einteilen, dann könnte man dies einen femininen Ansatz nennen. Man könnte aber auch ganz einfach sagen, es sei ein populärer Ansatz gewesen. Sanftheit kommt meistens gut an, Strenge dagegen eher selten. Die neue musikalische Auffassung, die in Milestones zum Ausdruck kommt, war jedenfalls so etwas wie das Gegenteil von Bebop.

Miles Davis hatte sich einer musikalischen Theorie bedient, um seine Neigung hin zu mehr Einfachheit und Gefühlsbetontheit zu vertiefen. Diese Theorie stammte von George Russell, einem Jazzschlagzeuger, Komponisten und Arrangeur, und war in dessen Buch Das lydisch-chromatische Konzept tonaler Organisation erschienen. Russell war als Sohn einer Eisenbahnarbeiterfamilie in Cincinnati aufgewachsen. Nach einer Lehrzeit bei Benny Carter kehrte er dem Dasein als aktiver Bandmusiker den Rücken. 1947 schrieb er für Dizzie Gillespies Big Band das Stück „Cubana Be/Cubana Bop“; sein Buch schrieb er Anfang der Fünfziger, als er an Tuberkulose erkrankt war und sechzehn Monate lang das Haus nicht verlassen konnte. Allerdings hatte er mit Miles schon über Modi gesprochen, bevor das Buch erschien – nach seinen eigenen Angaben war das bereits Ende der Vierziger.

Das Buch enthielt Vorschläge, keine Vorschriften. Russell analysierte die Beziehungen zwischen Akkorden und Skalen und nahm dabei vor allem Dur-Skalen, Bebop-Skalen, die Musik der französischen Komponisten aus der Zeit des Impressionismus und alte Kirchentonleitern unter die Lupe. Als er entdeckte, dass der ionische Modus in C-Dur vor etwa fünfhundert Jahren zur beherrschenden Skala der westlichen Musik geworden war, stellte er die These auf, dass der lydische Modus vielleicht ein wenig vielseitiger sei: Dieser umfasse mehr Akkorde und biete dem Jazzmusiker mehr Skalen zur Auswahl, die dieser vielleicht noch gar nicht in Betracht gezogen habe. Wenn man längere Zeit innerhalb eines Modus ein Solo spielte, brauche man zudem nicht mehr ständig die Akkordwechsel zu beachten und sich andauernd harmonisch neu zu orientieren. Man könne weiter in dieselbe Richtung gehen und habe so mehr Zeit, seine Ideen auszuarbeiten. Miles Davis formulierte das Ganze in einem 1958 in The Jazz Review erschienenen Interview mit Nat Hentoff so:

„Wenn man diese Richtung einschlägt, kann man spielen, solange man will. Man braucht sich um die Wechsel keine Sorgen mehr zu machen und kann sich mehr auf die Melodie konzentrieren. Es ist eine Herausforderung, denn es zeigt, wie erfindungsreich man im Melodiespiel ist. Wenn man sich an Akkorden orientiert, dann weiß man, dass einem die Akkorde am Ende von zweiunddreißig Takten ausgehen und einem nichts übrigbleibt, als zu wiederholen, was man gerade gespielt hat – mit kleinen Variationen.“

 

Weiter sagte er: „Ich glaube, im Jazz gibt es eine neue Bewegung, die sich von konventionellen Akkordmustern verabschiedet. Es wird künftig weniger Akkorde, dafür aber unendliche Möglichkeiten geben, was man mit ihnen anstellen kann. Klassische Komponisten – zumindest einige von ihnen – arbeiten schon seit Jahren in dieser Richtung, Jazzmusiker jedoch bislang eher selten.“

„Milestones“, ein grüblerisches Stück mit einem klaren, mittleren Tempo, hat eine AABBA-Struktur – eine erweiterte, vierzigtaktige Version des zweiunddreißigtaktigen Standardmusters amerikanischer Populärmusik. Außerdem klingt es anders, antiquierter: Es ist modal. Red Garland spielte im A-Teil zwar über drei Akkorden, doch waren sie alle in F-Dur und umfassten daher jeweils einen bestimmten Teil der F-Dur-Skala. Als er in den B-Teil überging, umschrieben die drei Akkorde einen Teil der C-Dur-Skala.

Miles, der sich mit Modi auskannte, hatte mit „Milestones“ ein Stück geschrieben, das einen Bläser bei der Improvisation dazu animierte, das ganze Stück lang zwischen zwei Modi hin- und her zu pendeln: G dorisch (das die F-Dur-Tonalität ein bisschen erweiterte) und A äolisch (das die C-Dur-Tonalität ein bisschen erweiterte). Dass man nicht mehr so schnell zwischen den Akkorden wechseln musste, bot den Musikern die Chance, entspannter und – so stand zu hoffen – mit mehr Gefühl zu improvisieren. Darüber hinaus hatte Paul Chambers eine brillante Idee für eine Begleitung der Modi: Im B-Teil des Stücks spielte er nicht die üblichen Walking-Bass-Figuren, sondern eine gestische, gezupfte Phrase aus zwei Tönen, wobei er die „Eins“ ausließ, was sehr afrikanisch klang, wie ein Daumenklavier. Es passte perfekt: Die Figur unterstreicht den antiquierten Charakter der Nummer.

Coltrane indes berauschte sich immer noch an Akkordwechseln. Er war mit seinem Studium der Harmonielehre noch nicht fertig. Ein paar Tage nach der Aufnahme von Jazz At The Plaza spielte Coltrane bei einer Studiosession von George Russell. Es war Musik, die schließlich auf dem Album New York, New York landete. Er sah sich die komplizierte Akkordfolge von Russells „Manhattan“ an. Russell zufolge stand er kurz vor Aufnahmebeginn auf und nahm sich eine fünfundvierzigminütige Auszeit, um die Harmonien zu studieren. Die teure Studiozeit lief derweil weiter, und vierzehn erstklassige Musiker warteten irritiert. Dann legte er ein brillantes Solo hin. „Er variierte meine Variationen“, sagte Russell. In anderen Worten: Auf dem Weg zurück zum Anfang eines jeden Akkordzyklus baute er so viele Haltestellen wie möglich ein.

Er befand sich dabei in einer ganz neuen Gesellschaft: Leute wie Doc Severinsen, Ernie Royal, Milt Hinton und Hal McKusick waren professionelle Studiomusiker und nicht, wie gewohnt, Mitglieder seines Freundeskreises. Trotz aller Variationen und Einschübe gelang es ihm diesmal doch, ein maßvolleres Solo zu spielen. Er mag die Harmoniefolge mit weiteren Akkorden angereichert haben, aber insgesamt spielte er weniger Noten als früher. Dies war ein Anzeichen für eine musikalische Entwicklung. Immer wenn Coltrane anfing, weniger oder mehr Töne zu spielen, passierte etwas in ihm.

Das Solo von Coltrane in „Straight, No Chaser“, bei dem er mit Tönen förmlich um sich wirft, jenes, das sich selbst lautstark zu beschwören scheint, ist ein Beispiel für den Extremismus, den die Zuhörer mit Coltrane zu assoziieren begonnen hatte. Es war genau die Sorte von Musik, die gelegentlichen Jazzhörern das Gefühl vermittelte, der Jazz sei nun hoffnungslos elitär geworden, eine undurchsichtige, schwierige Katzenmusik. Coltranes Beitrag zu den Liveaufnahmen Miles Davis At Newport 1958 und Jazz At The Plaza, die im Hoch- und Spätsommer jenes Jahres entstanden, haben einen Totschlägereffekt: Ein Solo jagt das andere; er spielt einfach zu schnell, will zu viele Töne, viel zu viel Information unterbringen. Er spielt schlicht alles, was er kann.

In einer Kritik des Newport-Konzerts in Down Beat nannte der Autor Don Gold sein Spiel „wütend“. Für jemanden, den es verblüffte, wenn er einen schwarzen Mann ausführlich und mit großer Kraft reden hörte, mochte durchaus auch solche Musik das Äquivalent einer wütenden Rede gewesen sein.

Von Beginn der späten Fünfziger an öffnete sich Coltrane immer weiter für große musikalische Zusammenhänge, Philosophie und Ausdruck. 1959 fiel er eine Zeitlang aus, als er sich von einer Zahnoperation erholte, bei der ihm acht Zähne im Oberkiefer durch eine Brücke ersetzt werden mussten – Drogen, das Rauchen und Süßigkeiten hatten ihren Tribut gefordert. Seine Freundin Zita Carno erinnert sich, dass Coltrane sich zu Hause intensiv mit zeitgenössischer sinfonischer Musik beschäftigte: Maurice Ravels Daphnis et Chloë, Igor Strawinskys Konzert Dumbarton Oaks und Ballett Le Sacre du Printemps, Claude Debussys La Mer und viel von Paul Hindemith.

Im Spätsommer 1959 lud er Wayne Shorter ein, ihn und seine Frau in ihrem Apartment in der West 103rd Street in Manhattan zu besuchen. Coltrane war zweiunddreißig, und der jüngere Shorter (er war erst fünfundzwanzig), der gerade bei Art Blakeys Jazz Messengers eingestiegen war, sah zu Coltrane wie zu einem Erwachsenen auf. Für ihn war er jemand, der seinen Sound und seinen Stil gefunden hatte und nun ein verantwortungsbewusstes Leben führte.

Coltrane hatte bereits Russ Wilson von der Oakland Tribune gegenüber geäußert, dass er beabsichtige, Miles zu verlassen. In jenem Sommer sagte er Shorter, dass es nun zunehmend dringlicher würde, es endlich auf eigene Faust zu versuchen. „Ich muss Miles verlassen“, sagt er. „Was ich bei ihm spiele, klingt falsch.“

Coltrane fragte Wayne Shorter, ob er jemals von „Om“ gehört habe. (Da er später stets an den Geruch der Tomatensoße dachte, die Naima in der Küche zubereitete, war „Om“ seitdem für Shorter gleichbedeutend mit „Home“ – Zuhause.) Nach dem Essen saßen Coltrane und Shorter beim Klavier zusammen. Ihre Saxofone hatten sie aus den Koffern genommen. Coltrane legte seinen ganzen Unterarm quer auf die Tastatur: Drrronggg! „Mal sehen, wie viele Töne du erwischst“, sagte er zu Shorter. Shorter spielte so schnell er konnte, um noch möglichst viele der in der Luft liegenden Töne zu treffen. Darauf bat Coltrane Shorter, dasselbe für ihn zu tun. Später redeten sie über Improvisation und Musik als Sprache, und warum es gegebenenfalls ideal sein könnte, einen Satz in der Mitte zu beginnen und sich dann gleichzeitig vor und zurück zu bewegen, sowohl zum Subjekt als auch zum Prädikat.

Im Frühjahr 1959 standen die Aufnahmen zu Kind Of Blue an, das zur populärsten Jazzplatte seit dem zweiten Weltkrieg werden sollte, eine lyrische Platte, die in der Geschichte des Jazz ihresgleichen sucht. Für Coltrane war es ein weiterer Wendepunkt in einer fünfjährigen Phase, die bereits voller Wendepunkte war.

Es ist sanfte, ausdrucksstarke Musik, die ihre formale Intention jedoch ziemlich klar offenlegt. „Bei seinen Modi auf Kind Of Blue ließ er sich ganz vom lydischen Konzept inspirieren“, meinte George Russell. „Er sagte einfach: ,Hier sind fünf Modi, spiel darüber, solange du Lust hast.‘“ – Es ist wichtig, hier anzumerken, dass diese Freiheit eigentlich nur auf einem Stück des Albums voll ausgenutzt wird, und zwar bei „Flamenco Sketches“. Die restlichen Stücke folgen einer vorgegebenen Form. – „Das bedeutete, dass sich der Musiker nicht darum kümmern musste, wann irgendein Akkord endete, denn diese Modi sind ja auch Akkorde. Es sind Akkord-Modi. Miles sagte: ,Anstatt zwei Schläge lang auf jedem Akkord zu bleiben, bleibt ihr auf diesem einen Akkord, so lange der Solist spielt.‘“

Die seltsame, neue Facette an Kind Of Blue insgesamt ist, dass sich darauf nichts von dem Funk und dem schnellen Swing wiederfindet, die noch auf Milestones zu hören waren. Mit „So What“ als erstem Kapitel – zwischen D dorisch und Eb dorisch pendelnd, jeweils acht Takte von einer Skala – ist die Platte eine ruhige Angelegenheit, die sich mühelos entspinnt. Sie klingt mehr wie Kammermusik, mehr wie Folklore, sogar europäischer als bisher. In seiner faszinierenden, nervtötenden, selbstverliebten Autobiografie offenbarte Davis zwei Inspirationsquellen für die Stimmung auf Kind Of Blue: eine aus seiner Kindheit in Arkansas, als er einmal mit einem Cousin von der Kirche nach Hause ging, und eine von kurz vor der Aufnahme, als er sich das Ballet Africaine in New York ansah, wo die Tänzer von einem Daumenklavier begleitet wurden.

Ein Grund für diese neue Schlaftrunkenheit auf Kind Of Blue war der Schlagzeuger Jimmy Cobb, der seit Mai 1958 an Bord war. Davis schien es vorzuziehen, wenn seine Schlagzeuger exakt auf dem Beat spielten, anstatt ein wenig zurückzufallen. Cobb jedoch war sogar noch strenger: Er spielte einen beinahe wissenschaftlich geraden Rhythmus, aber mit einem watteweichen Groove. Er kam einem nicht in die Quere, noch klang er wie die knackigen Snareschläge von Philly Joe Jones, die den Sound der Band von Miles Davis mit geformt hatten. Bill Evans, der neue Pianist, hatte ebenfalls großen Anteil am Charakter der Musik. Er verstand es, in einem zurückhaltenden Flüsterton zu spielen, indem er die Akkorde der linken Hand ohne den Grundton anschlug oder einen Akkord der rechten Hand mit den höchsten Tönen zuerst anstimmte.

Einen Monat nach den Aufnahmen zu Kind Of Blue nahm das Quintett von Miles Davis „So What“ im Rahmen der CBS-Fernsehsendung The Robert Herridge Theater Show noch einmal auf. Dabei zeigte sich, wie ungewöhnlich die Aufnahmesession von Kind Of Blue und wie bestrebt Miles gewesen war, eine unaufdringliche Aufnahme zu machen. Dieses spätere „So What“, mit Wynton Kelly statt Evans und ohne Adderley, hat ein fröhlicheres Tempo. Es swingt stärker und deutet mehr in Richtung dessen, was Miles und Coltrane normalerweise spielten. Bei seinem Solo bleibt Miles auf dem Teppich. Es ist vermutlich eines der sachlichsten, swingendsten Midtempo-Soli, die er jemals aufnahm. Coltranes Solo ist weniger melodisch, vertikaler und obsessiver – eines seiner besten, bei dem er all seine fixen Ideen auslebt, von den langen Tönen über sich wiederholende Bündelungen von Skalentönen bis hin zu simplen Dreiklängen, die sich zu längeren, arpeggierten Nuggets auftürmen, die hin und her gewendet, rauf und runter und in alle Richtungen gespielt werden.

1959 begann Coltrane, sich von Davis zu emanzipieren. Es war nicht leicht, obwohl Miles ihm dabei half. Weil er Coltrane sehr schätzte, wies ihm Miles einen Fluchtweg, band ihn dadurch aber nur noch enger an sich. Davis missfiel es, wie Coltrane in aller Öffentlichkeit verkündete, es sei an der Zeit, die Band zu verlassen. Trotzdem muss er diesen Prozess unterstützt haben, denn in jenem Jahr wurde sein Manager Harold Lovett auch zum Manager von Coltrane und sicherte ihm einen Plattenvertrag bei Atlantic Records. Daneben begann Jack Whittemore, der Agent von Miles, Coltranes Band zu buchen, wenn die Band von Miles Davis nicht auf Tournee war.

Coltranes erste Session für Atlantic fand am 1. April 1959 statt, einen Monat nach jener Session, bei der ein Großteil von Kind Of Blue entstanden war. Unter den aufgenommenen Stücken befand sich auch eine frühe Fassung von „Giant Steps“. Am Tag darauf kam es zu der bereits erwähnten Fernsehaufnahme von „So What“ mit der Davis-Band in der Sendung The Robert Herridge Theater Show.

„Giant Steps“ und „So What“ sind zwei der bekanntesten und wichtigsten Stücke im Jazz, doch zwischen ihnen liegen Welten. Coltrane, der an beiden beteiligt war, muss einiges Selbstvertrauen daraus gewonnen haben, dass er sich in jeder dieser Welten zuhause fühlte. „So What“, eine Komposition von Miles Davis, ist ein Experiment. Die fließende Somnolenz des modalen Spiels wird in vertraute Dimensionen verpackt – in die zweiunddreißigtaktige AABA-Songstruktur, das Grundmuster der amerikanischen Popularmusik. Jeder Teil dieses AABA-Musters ist eine einzelne Skala (oder ein Akkord, wenn man so will), die sich über acht Takte erstreckt. Das Ganze ist in einem angenehmen, mittleren Tempo gehalten, und die modale Spielweise bietet dem Musiker größere Freiräume, ohne sich gleich außerhalb der tonalen Harmonie wiederzufinden. Er wird nicht durch andauernde Akkordwechsel eingeengt.

„Giant Steps“, komponiert von John Coltrane, ist ebenfalls ein Experiment. In einem wesentlich aufgekratzteren Tempo als „So What“ schreibt es bei jedem zweiten Schlag einen Akkordwechsel vor. Die abfallenden Akkordsequenzen entsprechen einer Folge von Terzschritten, so dass sich innerhalb von vier Takten effektiv dreimal die Tonart ändert. Dies sind die „Giant Steps“ – die Riesenschritte, auf die sich der Titel bezieht. Jede neue Tonart wird durch eine Art ii-V-Progression ausgedrückt, jenem in Jazzstücken allgegenwärtigen Bewegungsmuster. Jeder, der „Giant Steps“ spielt, wird von seinen Akkordwechseln vorangetrieben. Darin liegt der gesamte Reiz der Nummer, ihre ganze Identität.

 

Die meisten Jazzmusiker entdecken irgendwann, dass sich ein Vorläufer dieser harmonischen Bewegung bereits in der Überleitung des Standards „Have You Met Miss Jones?“ findet, dessen Musik aus der Feder von Richard Rogers stammt. Coltrane kannte höchstwahrscheinlich die unvergessliche Version seines Idols Coleman Hawkins, die dieser ein paar Jahre zuvor für eine LP mit dem Titel The Hawk In Hi Fi eingespielt hatte, doch die Spur führt wesentlich weiter zurück.

Coltrane war theorieversessen. Mit Dennis Sandole hatte er an der Granoff School die terzbezogenen harmonischen Strukturen eingehend studiert. Dies schlägt sich bereits in seiner Komposition „Nita“ nieder, die drei Jahre zuvor für Whims Of Chambers von Paul Chambers aufgenommen worden war. Einige Übungen aus Nicolas Slonimskys 1947 erschienenem Buch Thesaurus of Scales and Melodic Patterns, einem Nachschlagewerk für Skalen und melodische Figuren, mit denen Coltrane sich gründlich befasst hatte, verweisen ebenfalls auf das Muster von „Giant Steps“, sogar bis in einzelne Teile der Melodie.

Die Akkordwechsel von „Giant Steps“ waren die schwierigste Übung, die er sich, ein wahrer Athlet der Improvisation, bis zu diesem Zeitpunkt selbst auferlegt hatte. Coltrane hatte damit etwas ersonnen, das Jazzmusikern bis in alle Ewigkeit dazu dienen sollte, ihre eigenen Fingerfertigkeiten zu verbessern; es war in etwa dasselbe, was die Überleitung von Ray Nobles „Cherokee“ für die Generation von Charlie Parker gewesen war – mit dem Unterschied, dass die Häufigkeit der Akkordwechsel in „Giant Steps“ doppelt so hoch ist wie die von „Cherokee“.

Er setzte die Akkordwechsel von „Giant Steps“ als vielseitig anwendbaren Kniff ein, mit dem er auf der Basis von Standards neue Melodien schuf, und so tauchten sie in vielen anderen Songs, die er in den folgenden zwei Jahren einspielte, wieder auf: zum Beispiel in „26-2“ (auf der Grundlage von Charlie Parkers „Confirmation“), „Countdown“ (auf der Grundlage von Eddie Vinsons „Tune Up“), „Central Park West“, „Satellite“ (auf der Grundlage von „How High The Moon“), „Sweet Sioux“ (eine Variation von „Cherokee“), „Fifth House“ (nach Parkers „Hot House“), „But Not For Me“ von George und Ira Gershwin sowie in den Überleitungen der Standards „Body And Soul“ und „The Night Has A Thousand Eyes“.

Das Tempo von „Countdown“ war sogar noch schneller als das von „Giant Steps“. Es war durch und durch konstruierte Musik, hart an der Grenze zum Fachidiotentum, beherrscht von Coltranes breitem leidenschaftlichen Ton, seinem fantastischen Rhythmusgefühl und einer ausgefallenen Arrangementidee: Das Stück begann mit einem Schlagzeugsolo und endete nach furiosen zwei Minuten und einundzwanzig Sekunden mit seinem melodischen Thema.

Der Rest bestand aus Akkordwechseln. Reine Akkordwechsel können die Melodie verdrängen, wenn sie derart schnell kommen. Tommy Flanagan, der bei „Giant Steps“ Klavier spielte und ein ausgezeichneter Melodienspieler war, erinnerte sich an die Anforderungen, die das Einspielen des Titelsongs an ihn stellte: Es sei dabei ausschließlich um Akkorde gegangen und nicht um Melodien.

Warum tat Coltrane das? Gut Jazz zu spielen und jede beliebige Akkord-folge spielen zu können, sind nicht dasselbe. Wenn man davon ausgeht, wie selbstkritisch er stets war, dachte er offensichtlich, dass er diese Übung nötig hätte. Er war nicht gut genug. Selbst nachdem er eine Reihe der bekanntesten Jazznummern aller Zeiten geschrieben hatte, sie perfekt beherrschte und ein wasserdichtes Album daraus gemacht hatte, Giant Steps, war er immer noch unzufrieden. Auf der Rückseite des Albumcovers gab er dies offen zu. „Ich befürchte, dass meine Musik manchmal nur wie eine akademische Übung klingt“, sagte er Nat Hentoff, der den Text für die Plattenhülle schrieb. „Daher bemühe ich mich nun verstärkt, dass sie ein wenig hübscher klingt.“ In einem späteren Interview führte er diesen Gedanken genauer aus:

„Alles, was ich auf Giant Steps tat, war, Harmonieforschung zu betreiben, Harmoniefolgen zu erkunden, mit denen ich bis zu diesem Zeitpunkt noch nicht vertraut war. Ich arbeitete strikt nach einem Akkordfolgemuster und nicht melodisch. Diese harmonische Sache hat sich dann aber bald erschöpft. Es ist das Beste, von der Melodie aus zu schreiben, denn dann muss man sich nicht nach diesen oder jenen Vorgaben richten. Man kann alles machen. Ich bleibe viel flexibler und habe größere Spielräume, als wenn ich auf einer harmonischen Basis schreibe. Jetzt, wo ich versuche, die Melodie als erstes zu schreiben, nimmt sie einen viel wichtigeren Stellenwert ein. Vielleicht gelingen mir so irgendwann ein paar Melodien von einer gewissen Qualität, die irgendeinen bleibenden Wert haben.“

Atlantic ließ ihn zwei Jahre lang, von März 1959 bis Mai 1961, immer wieder Aufnahmen machen. Das Label gewährte ihm sogar eine Auszeit: im Sommer 1959, der Zeit seiner philosophischen Treffen mit Wayne Shorter, als er nach einer Kieferoperation seinen Ansatz neu bilden musste. Im Mai 1959, nach den abschließenden Aufnahmen zu Giant Steps, bekam er eine Brückenprothese im Oberkiefer eingesetzt und betrat sechs Monate lang kein Tonstudio. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die Musik auf dem hauptsächlich im November eingespielten Album Coltrane Jazz etwas zögerlicher klingt.

Es scheint, als sei Coltrane damals mehr und mehr davon abgekommen, eine Melodie nur einmal zu verwenden. Er hatte gerade einen Musikverlag zum urheberrechtlichen Schutz seiner Songs gegründet, doch plötzlich flossen alle diese Songs ineinander. Wenn man sich die Platten von Atlantic anhört, die von einem beispiellosen Arbeitseifer zeugen, ist man zuweilen verwirrt und stellt sich die Frage, um welchen Titel es sich gerade handelt. Ein bisschen aus „Like Sonny“ rutschte in „Village Blues“, „Mr. Knight“ und „Mr. Day“ hatten ähnliche Motive (ebenso wie zwei Jahre später der Anfang von „India“). Viele große Künstler – Ali Akbar Khan, Thomas Bernhard, Björk, James Brown oder Mark Rothko – schaffen ihre Kunstwerke im Grunde als Teile eines laufenden Diskurses. Je stärker und persönlicher das Werk ist, desto mehr gewinnt der Sound Vorrang vor den Tönen, desto größer und verblüffender wird die Ähnlichkeit zwischen den einzelnen Stücken. Giant Steps war das erste Album, auf dem Teile der Atlantic-Aufnahmen veröffentlicht wurden. Alle Atlantic-Veröffentlichungen wurden mit großer Umsicht organisiert. Nesuhi Ertegun, in der Abteilung Jazz für Künstler und Repertoire zuständig, wollte keinen groben oder beiläufigen Einblick in das Alltagsschaffen eines Jazzmusikers geben, sondern zog es vor, die abgeschlossenen Aufnahmen sorgfältig zu Sets zusammenzustellen.

Das Album enthielt Coltranes terzbezogene Kompositionen – der Beweis für seine Studien, der sich entweder schnell („Giant Steps“) oder schneller („Countdown“) präsentierte. Es gab auch ein paar bemerkenswerte Hardbop-Bluesmelodien („Mr. P. C.“ und „Cousin Mary“), die damals, bedingt durch den Einfluss Art Blakeys, sehr „in“ waren, sowie eine von Coltrane komponierte, hymnenhafte Ballade in der Art von „While My Lady Sleeps“ – „Naima“, das ein Lieblingsstück unter seinen Eigenkompositionen blieb. Was auf Giant Steps fehlte, war ein Blues mit nennenswertem Tiefgang – ein Schritt in die Richtung von Blue Train, nur darüber hinaus.

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