Coltrane

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Z serii: Hannibal-Jazz
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Wären John Coltrane und Sonny Rollins auf die Idee gekommen, sich zusammenzutun und auf Tournee zu gehen, hätte man ihnen vermutlich viele Engagements angeboten. Sie arbeiteten jedoch aus völlig unterschiedlichen Gefühlswelten heraus und wären nie eines jener Saxofondoppel geworden, die sich mit einer Rhythmusgruppe im Hintergrund das Rampenlicht teilten und sich die Soli gegenseitig zuwarfen.

Solche Doppel waren von der Blütezeit des Bebop bis weit in die Sechziger hinein ein Konzept, auf das man bei Tourneen und Aufnahmen immer wieder gern zurückgriff. Das Ganze begann in den populären Big Bands als Wettkampf unter Kollegen. Das erste Tenordoppel, das aus einer unterstellten Rivalität Gewinn zog, waren Dexter Gordon und Wardell Gray, die ihr Kräftemessen auf „The Chase“ kanonisierten, einer sechsminütigen, doppelseitigen Platte, die 1947 von Dial veröffentlicht wurde. Später kamen Johnny Griffin und Eddie „Lockjaw“ Davis, Sonny Stitt und Gene Ammons, Zoot Sims und Al Cohn. Es waren immer zwei Männer, die etwa gleich alt und gleich gut und in einem ähnlichen Stil verwurzelt waren.

Coltrane und Rollins indes verfolgten unabhängig voneinander eigene Ziele. Sie waren eng miteinander befreundet und respektierten einander sehr. Auf einer Liste von Einflüssen, die er ungefähr zu jener Zeit dem Magazin Down Beat für ein Feature zur Verfügung stellte, nannte er auch Rollins. Es war der einzige persönliche Freund auf dieser Liste. Coltrane wie auch Rollins betrachteten Coleman Hawkins als ihren wichtigsten Einfluss – nicht nur den populären, romantischen Hawkins der Balladen, sondern den Hawkins, der waghalsig mit Harmonien umging und in ganzen Akkordfolgen dachte. Beide erarbeiteten sich langsam einen Ruf als Denker und Schwerarbeiter. Später definierten sie das Bild des übenden Musikers wie auch des Bühnenmusikers neu.

Die beiden Saxofonisten waren gelegentlich mit Miles Davis gemeinsam aufgetreten – eine jener Gelegenheiten war 1950 im Audubon Ballroom der „Tanzjob“, als Coltrane zum ersten Mal mit Davis die Bühne teilte. Im Studio trafen sie jedoch nur ein einziges Mal zusammen. Es war am 24. Mai 1956, und sie nahmen nur eine einzige Nummer mit dem Titel „Tenor Madness“ auf. Die Aufnahme kam nur deshalb zustande, weil Rollins gerade die Rhythmusgruppe von Davis für die Aufnahmen zu seiner nächsten Platte engagiert hatte. Coltrane verbrachte damals viel Freizeit mit Paul Chambers und Philly Joe Jones, und so begleitete er sie auf ihrer Fahrt zu Rudy Van Gelders Studio in Englewood Cliffs, New Jersey. Typisch für eine Prestige-Session, war ihr spontanes Duett einfach ein Song, der irgendjemandem in diesem Augenblick einfiel: „Royal Roost“, im Original eine Aufnahme von Kenny Clarke aus dem Jahr 1946. Als Komponist wurde Sonny Rollins genannt.

Das Herzstück des Songs, eines zwölftaktiger Blues, sind die fünfzehn improvisierten Schemata am Anfang, aufgeteilt in sieben für Coltrane und dann acht für Rollins. Coltranes Sequenz zeigt eine Logik von wachsender Kontinuität und eine größere Anzahl seiner eigenen Figuren, darunter seine Aufwärts-Glissandi, die eine Oktave umfassen, und kurze, gebündelte Arpeggien in schrittweiser Abwärtsbewegung. Einer der entscheidenden Schritte in dieser frühen Phase von Coltranes Entwicklung war, dass er lernte, ohne Brüche zwischen schnellen Passagen und langen Tönen abzuwechseln. Es gab ihm das multilinguale Gefühl, das er anstrebte – als würden zwei Stimmen gleichzeitig aus seinem Instrument sprechen. War es zu viel von der einen oder zu viel von der anderen, funktionierte das Ganze jedoch nicht. Der Trick bestand darin, kunstvoll hin und her zu schalten.

Als er an der Reihe war, klang Rollins wesentlich selbstsicherer. Sein Ton war ruhiger, breiter und tiefer als Coltranes plötzliche, trockene Einwürfe und lange Töne. Statt Coltranes nadelspitzer Sechzehntel verwendete er ein Achtelgrundmuster, das er nach der Art von Louis Armstrong gekonnt swingen ließ. Er machte Pausen und verlieh so einzelnen Tönen mehr Gewicht.

Wegen seiner Einzigartigkeit hat man „Tenor Madness“ zu viel Bedeutung beigemessen. Es ist keine besondere Aufnahme. Es dokumentiert die Spielweise jedes der beiden Musiker in einem nicht gerade inspirierten Kontext.

Coltrane sagte Rollins, er wolle noch einmal mit ihm aufnehmen, aber dazu kam es nie. Beide hatten genug Anziehungskraft und künstlerische Ambition, um Bandleader zu werden. Die äußeren Umstände, die in der populären Musik meist über Schicksale entscheiden, wollten es anders. Dennoch erklärt das nicht abschließend, warum sie der offensichtlichen Versuchung widerstanden, die zwischen ihnen herrschende Rivalität – selbst wenn diese nur in der Vorstellung des Publikums existierte – als Show zu verpacken und damit auf Tournee zu gehen.

Die Erklärung ist, dass beide Einzelgänger waren. Rollins und Coltrane waren in den Fünfzigerjahren groß geworden, als Isolation und Einsamkeit abermals einen bedeutenden Platz in der amerikanischen Kunst einzunehmen begannen. Genau genommen geschah dies zum ersten Mal seit Beginn des Industriezeitalters ein Jahrhundert zuvor. Die Jazzer verbrachten als Subkultur in Wirklichkeit viel Zeit miteinander. Sie taten geheimnisvoll, grenzten sich durch gemeinsame Umgangsformen und Sprache ebenso ab wie durch eine besondere Haltung in der Rassenfrage und eine mit Stolz getragene Gleichgültigkeit gegenüber der öffentlichen Meinung. Rollins und Coltrane waren Teil dieser Subkultur, aber jeder von ihnen verfolgte eigene Interessen. Sie übten, lasen, wollten sich weiterbilden.

Die neue Mentalität sah den Jazz nicht mehr länger als Jugendkulturbewegung, als naive Massenaktivität. Die Big Bands wirkten bereits ein wenig veraltet, und kleine Ensembles waren an ihre Stelle getreten. Charlie Parker und der Mythos des schwarzen intellektuellen Helden, der seine Wirkung eigentlich erst nach dem Ende von Parkers kurzem verwirrenden Leben entfaltete, war die Hauptursache für diesen Wandel. Rollins und Coltrane machten im Jahr von Parkers Tod ihre ersten ernst zu nehmenden Schritte als Bandleader; jung genug und daher lernfähig und flexibel, kolonisierten sie unabhängig voneinander das Jazzuniversum nach Parker.

„Haben Sie in letzter Zeit einmal Sonny Rollins gehört?“, fragte Coltrane 1958 August Blume. „Es gibt ein paar Typen, wissen Sie, die sind einfach großartig, Mann. Sonny ist einer davon … Er hat diesen Status erreicht.“

Es gibt eine Zusammenstellung von Coltranes Aufnahmen für Prestige aus den Jahren 1956 bis 1958, wo er als Mitspieler, aber auch als Bandleader vertreten ist. Sie trägt den Titel John Coltrane: The Prestige Recordings. Als sie 1990 zum ersten Mal auf den Markt kam, umfasste sie sechzehn CDs. Sie ist der Beweis dafür, dass es selbst großen Künstlern ziemlich langweilig werden kann. Oder besser gesagt: dass ein großer Künstler nur ganz für sich allein herausfinden kann, was er tun muss, um dem ganzen Gelaber, den Formalitäten und dem „Business as usual“ in einem beliebigen Bereich zu einer beliebigen Zeit zu entfliehen.

Prestige machte eine ganze Menge Aufnahmen, die kaum mehr als Dokumente, Platzhalter oder schnell und billig gemachte Visitenkarten waren.

Bob Weinstock legte nicht so hohe Qualitätsmaßstäbe an wie andere Labelchefs, sondern war versessen darauf, seine Archive zu füllen. Er wollte möglichst viel Material im Kasten haben, damit er aus einer Session jeweils mehr als nur eine Platte machen konnte. Einfache Ideen begeisterten ihn. Folglich zelebrierte er das Konzept der Supergroup und der „Spontansession“: Platten mit hastig zusammengestellten Stücken und Arrangements, die den Musikern viel Raum zur Improvisation boten. Er glaubte fest an solche Jamsession-Aufnahmen: Mitte der Fünfziger rief er regelmäßig freitags Musiker zusammen und schickte sie in Rudy Van Gelders Studio in Hackensack. Mal Waldron wies er an, einfache Notenblätter für die Band zu schreiben. Der Prestige-Katalog ist geprägt von glücklichen Zufällen, gutem Timing und Genialität – Saxophone Colossus von Sonny Rollins, Live At The Five Spot von Eric Dolphy, Lucky Strikes von Lucky Thompson. Daneben findet sich eine ganze Reihe von Platten mit Titeln wie „Part One“ oder „Part Two“, als würde man die Reste des gestrigen Mittagessens noch einmal zu einer Mahlzeit aufwärmen. Wenn ein Musiker etwas Neues ausprobieren wollte, war Prestige eine gute Adresse dafür.

Eine Aufnahme für Prestige war es auch, die Coltrane als Balladenspieler bekannt machte. Er nahm sein erstes Balladensolo in „How Deep Is The Ocean“ über einem langsamen Hintergrund auf, ohne dass die Rhythmusgruppe in die doppelte Geschwindigkeit wechselte. Das Stück erschien bei Prestige auf einer Platte mit vier Tenorsaxofonisten: Auf Tenor Conclave sind neben Coltrane auch Zoot Sims, Al Cohn und Hank Mobley zu hören. Das Solo beginnt sehr hübsch, eingeleitet von einem schwebenden, getragenen Spiel. Als er den zweiten Chorus erreicht, scheint Coltrane das richtige Gefühl für das Stück jedoch zu entgleiten. Seine Improvisation fällt zurück in ihre gewohnten Bahnen, jene Wirbel schneller Noten und Phrasen, die an metrisch ungewöhnlichen Punkten abgehackt sind, so dass das Ganze mit der Stimmung der Nummer nicht mehr recht zusammenpasst. Hank Mobley, dessen Solo direkt an das von Coltrane anschließt, demonstriert hier größeres Geschick.

Auf Tadd Damerons „Mating Call“ spielte Coltrane im November 1956 ein weiteres Balladensolo. Was er in „Soultrane“ spielte, seiner eigenen Komposition, war weicher und gefühlvoller als seine Performance in „How Deep Is The Ocean“, dafür aber monochromatischer. Es ist jene Art fast naiver Kerzenscheinmusik, mit der Johnny Hodges umgehen konnte, Coltrane hingegen nicht.

Prestige begann Coltrane nun öfter einzusetzen. Es war das Resultat seiner neuen Bekanntheit durch die Tourneen mit dem Davis-Quintett und der ganzen Kritiken, die er bekam, gute wie schlechte. Der Kritiker Bill Coss schrieb über die erste Platte des Miles Davis Quintet bei Prestige in der Zeitschrift Metronome: „Auf den Solisten liegt zuviel Echo, die Ensembles sind im Allgemeinen schlecht. Das Tenorsaxofon in dem Rollins-Stitt-Stückchen ist sogar noch mehr daneben.“ Ein Jahr später schrieb ein Kritiker in Down Beat über die Davis-LP Relaxin’, Coltranes Spiel weise „hier zuweilen eine Zögerlichkeit und einen Mangel an melodiösem Gehalt auf, die seine Effektivität für mich in Frage stellen und die Qualität der gesamten LP schmälern. Dies trifft vor allem auf die ersten beiden Nummern zu, bei denen seine Soli reichlich ziellos und irgendwie schrill daherkommen.“ Er bedachte die Platte trotzdem mit vier von fünf Sternen.

 

Coltrane erschien auf Prestige-Platten von Elmo Hope, Tommy Flanagan und bei einer Aufnahme ohne Bandleader mit dem Titel Interplay For Two Tenors And Two Trumpets des Pianisten Mal Waldron. Er spielte eine exzellente Version von Jimmy Heaths „C.T.A.“ für ein Album von Arthur Taylor ein und nahm für eine Platte mit dem Titel Dakar gemeinsam mit zwei Baritonsaxofonisten eine Reihe seltsamer, beschwörender Stücke auf.

Doch zurück zu den Prestige-Sessions. Im Mai 1957 nahm Coltrane zusammen mit dem Tenorsaxofonisten Paul Quinichette Cattin’ With Coltrane And Quinichette auf, eine schwache kleine Platte. Die Begleitung der Rhythmusgruppe klingt, als habe man sie zum Spielen zwingen müssen. Bei den Höhepunkten des Albums, den Soli in „Anatomy“ und „Vodka“, könnte man meinen, Coltrane übte für sich alleine, wenn er bis an die Grenze des Nützlichen Muster aus seinem Instrument quetschte, die auf verminderten Skalen basierten. Mal Waldron, der die Stücke für die Session schrieb und pro forma als ihr musikalischer Leiter fungierte, spielt, als habe er Fausthandschuhe an: Er klopft kurze graue Phrasen um das mittlere C herum in die Tastatur. Waldron war damals heroinabhängig, doch er war immer ein Musiker, den eine seltsame emotionale Abwesenheit auszeichnete. Eine Überdosis verschüttete 1963 seine Fähigkeit, Klavier zu spielen. Als er sich drei Jahre später wieder erholt hatte, pflegte er mehr oder weniger wieder denselben Stil.

Im September 1956 engagierte der Bassist von Davis, Paul Chambers, Coltrane als Mitglied seines eigenen Quintetts. Das Ergebnis dieser Aufnahmen war Whims Of Chambers, eine Platte für Blue Note. Auf ihr fanden sich zwei Kompositionen von Coltrane, „Nita“ und „Just For The Love“, die ersten aufgenommenen Stücke, bei denen Coltrane selbst als Urheber genannt ist. Sie sind im Entwurf sehr selbstbewusst und progressiv, ohne das erdige Swingfeeling der Rhythmusgruppe aus Horace Silver, Chambers und Philly Joe Jones zu zerstören.

„Nita“ ist eine dreißigtaktige Nummer, die wiederkehrende Akkordfolgen nach dem Muster ii-V-I verwendet – eine beliebte und oft anzutreffende Akkordfolge im Jazz, die vor allem deshalb gern eingesetzt wird, weil man mit ihr sehr schnell in eine neue Tonart wechseln kann. In „Nita“ folgten diese Akkordmuster einander im Abstand von drei Halbtonschritten. Hier spielte Coltrane zum ersten Mal eine spezielle harmonische Bewegung, der eine solche auf Dreierschritte bezogene Akkordfolge zugrunde lag. Einige Jahre später führte er sie in „Giant Steps“ zur Meisterschaft. „Just For The Love“, ein eigenartiger Blues in F, ist eine Bebop-Melodie, die klingt, als begänne sie mitten in einem Gedanken. Die Stimmung des Stücks bleibt bis zum Schluss abrupt.

Schließlich nahm Prestige Coltrane unter Vertrag und bot ihm an, eigene Alben zu machen. Dafür sollten auch einige seiner Kompositionen aufgenommen werden, die bei ihrer ersten Veröffentlichung auf der Platte von Paul Chambers sehr interessant erschienen waren. Der Vertrag vom 9. April 1957 war lächerlich: dreihundert Dollar pro Album, bei drei Alben pro Jahr.

Obwohl ihn die Kritiker als zweitbesten neuen Tenorsaxofonisten hinter Sonny Rollins einstuften (in der Rubrik „New Star“ im sommerlichen Kritiker-Poll von Down Beat), hatte Coltrane noch immer kein Album unter eigenem Namen auf dem Markt. Bei Rollins hingegen waren es mehr als zehn.

Coltrane hatte eine Phase der allgemeinen Veränderung und Weiterentwicklung hinter sich. Im April wurde er wegen seines insgesamt unprofessionellen Verhaltens von Miles Davis gefeuert – er kam berauscht zu den Auftritten, trank in den Spielpausen und sah abgerissen aus. Wenn wir der Autobiografie von Miles Davis Glauben schenken wollen, bohrte Coltrane auf der Bühne in der Nase und aß seine eigenen Popel. Sonny Rollins übernahm als Ersatzspieler von Juni an eine Zeitlang seinen Platz. Es ist gefährlich, anhand seiner Kunst Thesen über den Geisteszustand eines Künstlers aufzustellen, bei Coltrane jedoch ergibt sich ein deutlicher Zusammenhang: Die Phasen, die am stärksten von Klarheit und Ehrgeiz geprägt sind, waren jene, in denen er nicht nur Alkohol und Drogen entsagte, sondern auch emotional zielgerichtet war. In einer Zeitung in Cleveland erschien ein wenig später im selben Jahr ein Artikel, der Coltrane mit einer Aussage über seinen eigenen Zustand vor dem Frühjahr 1957 zitiert, den er als „Depression“ bezeichnet.

Im Mai, wieder zu Hause in Philadelphia, gelang es ihm mit Unterstützung von Freunden und seiner Familie, dem Heroin und dem Alkohol zu entsagen und nahezu trocken zu werden. (Später machte er Andeutungen, er habe sich in jenem Sommer mit Thelonious Monk auf einige nächtliche Scotch getroffen – vermutlich waren es aber nur Monk und seine Freundin, Baroness Nica de Koenigswarter, die Scotch tranken.) Coltrane entgiftete sich nach Cowboy-Art, schloss sich zu Hause ein und machte den sogenannten kalten Entzug.

Am letzten Tag des Mai nahm er in New York City ein respektables Album für Prestige auf, das unter dem Titel Coltrane erschien. Es war sein erster Longplayer als Bandleader. Schon beim ersten Stück, „Straight Street“, ist die Haltung klar: Coltrane verbesserte sich immer weiter. Er wollte seine Chance nicht verpassen. In fast jedem Solo des Albums behielt er den Überblick und schlenderte mit Bedacht durch die Läufe und technischen Tricks – doch es gab nun mehr davon, und er spielte sie mit größerer Hingabe und Präzision. Für eine Hälfte des Albums wählte er die dunkle Klangfarbe von Sahib Shihabs Baritonsaxofon als harmonische Begleitung. Im Großen und Ganzen machte er aus der Platte etwas Besonderes, etwas Eigenes.

„Straight Street“, eine Anspielung auf seine wiedergewonnene Nüchternheit, war ein Stück nach dem Muster AABA mit zwölf Takten in jedem Teil anstatt der üblichen acht und enthielt seltsame kompositorische Strukturen sowie eigentümliche Akkordwechsel. Bronislaw Kapers Motiv aus „While My Lady Sleeps“ wurde zu einer von Coltranes Lieblingsmelodien. Obwohl er in der Regel nicht oft aus fremdem Material zitierte, ließ er sie gern anklingen, wenn er über anderen Stücken improvisierte. Sie hatte eine ähnliche harmonische Atmosphäre wie ein anderer berühmter Standard von Kaper, „On Green Dolphin Street“, das ebenfalls zu einem seiner Lieblingsstücke wurde. Die großen Intervalle von „While My Lady Sleeps“ mögen die Keimzelle von Coltranes späteren, exotischen und hymnischen Balladen wie „Dear Lord“ und „Lonnie’s Lament“ gewesen sein.

Im Frühsommer 1957 fragte ihn Thelonious Monk, ob er sich seinem Quartett anschließen wolle. Es ging darum, den Sommer über im Five Spot zu spielen. Der Club lag in der Bowery, ein wenig südlich vom Astor Place im New Yorker East Village, am nördlichen Ende dessen, was man als absolutes Elendsviertel Manhattans betrachtete. Das Sommerengagement wurde schließlich bis zum Jahresende fortgesetzt.

Jenes Jahr wurde oft als Wendepunkt in Coltranes Karriere bezeichnet. Es ist daher sehr verlockend, einmal haarklein unter die Lupe zu nehmen, was Coltrane – im Hinblick auf Harmonie, Rhythmus und Melodie – von Thelonious Monk lernte.

In Interviews blieb Coltrane eine genaue Antwort schuldig. „Die Arbeit mit Monk brachte mich einem musikalischen Architekten höchsten Ranges nahe“, sagte er 1960. „Ich lernte von ihm in jeder Hinsicht – mit den Sinnen, theoretisch, technisch … Ich diskutierte mit Monk musikalische Fragen, und er setzte sich dann ans Klavier und zeigte mir die Antworten, indem er sie einfach spielte. Ich konnte ihm beim Spielen zusehen und erfuhr dabei alles, was ich wissen wollte. Darüber hinaus konnte ich viel lernen, von dem ich noch überhaupt nichts wusste.“

Die Antwort liegt, in gewisser Weise, hier verborgen: Da „alles, was ich wissen wollte“ auch „viel, von dem ich noch überhaupt nichts wusste“ umfasste, ging es Coltrane vielleicht nicht so sehr um bestimmte Phrasen oder Akkordwechsel, an denen er sich orientieren konnte, sondern um weit größere Bereiche des Musizierens, die er noch gar nicht bedacht hatte. Es wurde eine Art Seminar mit dem Ziel, einen schlafenden Riesen zu wecken Monk schenkte ihm bereitwillig seine Zeit. Sie verbrachten in jenem Sommer oft ganze Tage miteinander.

Monk konnte Coltrane besser den Spiegel vorhalten als sonst jemand. Monks eigener Stil war herausragend und beeindruckend. Aber es war nicht sein Stil, der Coltrane beeinflusste; es war die in Töne gefasste Andeutung unbegrenzter Möglichkeiten in Monks Kompositionen, Arrangements und Improvisationen, die Coltrane die Augen dafür öffnete, was er bereits spielen konnte. Benny Golson bestand darauf, Monk sei „für John nur ein weiteres Eisen im Feuer“ gewesen. „Er wusste schon ganz genau, wohin er wollte.“

Die A-Teile in den zweiunddreißigtaktigen Monk-Stücken jener Periode sind ziemlich ungewöhnlich. Die harmonische Bewegung der Mittelteile (der B-Teile) noch viel mehr. Manchmal ist es nur eine Frage von Umsetzung und Stimmführung der Akkorde auf dem Instrument: Ohne die funktionelle Harmonie an sich zu beeinträchtigen, stellen die Akkorde der linken Hand die harmonischen Beziehungen auf den Kopf und zwängen den Saxofonisten, der mit ihm spielt, in die engen Grenzen des Komponisten. „Bei Monk musste ich immer scharf aufpassen“, sagte Coltrane. „Denn wenn man einmal nicht darauf achtete, was gerade geschah, fühlte man sich plötzlich so, als betrete man einen leeren Fahrstuhlschacht.“

Wenn er selbst seinen großen Auftritt gehabt hatte, ließ Monk Coltrane freie Bahn, verließ manchmal sogar die Bühne und ließ die Band bis zu zwanzig Minuten am Stück spielen. Noch mehr als das, was Miles getan hatte, war dies kein Unterricht, sondern Nachhilfe; es war die Instruktion mittels einer Hypothese: „Stell dir vor, du könntest ein Musiker sein, der solchen Anforderungen gerecht wird.“ Entweder wegen seiner größeren Verantwortung oder auch aus einem anderen Grund wechselte Coltrane während seiner Zeit bei Monk das Rohrblatt. Nachdem er sich daran gewöhnt hatte, ein sehr hartes Blatt zu benutzen, nahm er nun weichere. Dadurch eröffnete sich ihm eine größere Flexibilität für sein Spiel. Es ist spürbar, wie er sich auf einmal in der Musik wohl fühlt.

Als er sich von seinen frühen Helden Lester Young, Charlie Parker und Dexter Gordon erst einmal losgesagt hatte, begann Coltrane, auf eine eher indirekte Art und Weise zu lernen, anstatt wie bisher nur seinen Vorrat an Phrasen zu vergrößern. Dasselbe gilt für seine Zeit bei Miles Davis. Coltrane erzählte Valerie Wilmer, dass ihm Miles vermittelt habe, „die Einfachheit zu schätzen“, und dass er, bevor er sich dessen Band anschloss, davon geträumt habe, so Saxofon zu spielen wie Miles Trompete. „Aber als ich dann bei ihm einstieg, begriff ich, dass ich niemals so würde spielen können“, erklärte er. „Ich glaube, das war es, was mich in die entgegengesetzte Richtung gehen ließ“ – hin zu Mosaiken aus Sechzehntelnoten, hin zu hoch aufgetürmten Akkordgebilden.

Wenn man diesen Gedanken weiterdenkt, wird klar, dass es nicht nur Monks individueller Solostil allein war, der in jenem Sommer die Verwandlung bei Coltrane herbeiführte. Es war Monks Abwesenheit: die Momente, wenn er vom Piano aufstand und wegging oder im Kreis herumlief, um die Musik aus verschiedenen Winkeln zu hören. Dabei ließ er Coltrane oft fünfzehn oder zwanzig Minuten allein und gab ihm so Zeit zur Improvisation mit Wilbur Wares Bass als einziger Harmoniebegleitung.

Ein Klavier – oder eine Gitarre, ein Vibraphon oder ein beliebiges Akkordinstrument – liefert einen Bezugsrahmen für ein monophones Instrument wie das Saxofon, das immer nur jeweils einen einzigen Ton spielen kann. Der Saxofonist muss sich stets innerhalb der vorgegebenen Logik der Klavierakkorde bewegen. Nimmt man das Klavier weg, hat er größere Freiheit, seine eigenen Harmonien zu schaffen.

Ware war zudem offener als jeder andere Bassist, mit dem er zuvor gespielt hatte. „Ein Bassist wie Ware, der ist sehr innovativ, Mann“, erklärte Coltrane im Juni 1958 August Blume. „Er spielt nicht immer den dominanten Ton … Er spielt manchmal irgendwie anders herum. Er spielt Sachen, die irgendwie fremd sind. Wenn man nicht wüsste, was für ein Song es ist, könnte man ihn nicht erkennen, weil er ihm ein ganz anderes Gesicht gibt, er spielt um ihn herum oder darüber oder darunter oder sonstwas … Manchmal spielte er abgewandelte Akkordwechsel, dann spielte ich abgewandelte Akkordwechsel. Daraufhin spielte er wieder irgendwelche anderen Abwandlungen von den Folgen, die ich gerade gespielt hatte. Keiner von uns beiden spielte die eigentlichen Akkordwechsel des Stückes, bis wir zu einem bestimmten Punkt kamen – wenn wir zusammen dorthin kamen, hatten wir jedenfalls Glück.“

 

Was Monk betraf, erzählte Coltrane weiter, so bewege sich dieser mit seinem Spiel aus Überzeugung jenseits aller Konventionen. „Er macht da hinten ständig irgendetwas, das äußerst geheimnisvoll klingt“, sagte er. „Wenn man aber einmal weiß, was er da tut, hat es überhaupt nichts Geheimnisvolles mehr an sich. Es sind ganz simple, kleine Sachen, wie einfache Wahrheiten. Er nimmt zum Beispiel einen Akkord, einen Durakkord … einen Mollakkord, und lässt die Terz raus. Ja, und dann sagt er: ,Das ist ein Mollakkord, Mann!‘ Ich sage: ,Da fehlt doch die kleine Terz, man kann doch gar nicht wissen, was es ist.‘ Er sagt: ,Woher will man wissen, dass es kein Mollakkord ist? Genau das ist es nämlich, ein Mollakkord, in dem die kleine Terz fehlt.‘ Und wenn er das Ding dann spielt, Mann, dann sitzt es genau an der richtigen Stelle und ist genau so intoniert, dass es wie ein Mollakkord klingt.“

So eingehend Monk Coltranes Fragen über Musik beantwortete, so indirekt war sein Führungsstil als Bandleader. Das Monk Quartet mit John Coltrane nahm insgesamt drei Songs auf, die später auf Thelonious Monk With John Coltrane veröffentlicht wurden. Die Platte deutete an, was sich musikalisch tat, wenn sie auch die Atmosphäre der allabendlichen Konzerte im Five Spot nicht annähernd einzufangen vermochte.

Zumindest Monks „Trinkle Tinkle“ vermittelt jedoch einen recht guten Eindruck davon. Es ist eines von Monks stechmückenartigen Stücken („Four In One“ wäre das andere), das von einem temperamentvollen, fast absurd schnellen und fragmentarischen Thema beherrscht wird. Coltrane überträgt den Charakter des Themas auf die Form seines Solos, das in großen, verdrehten, quietschenden Tönen daherkommt. Man merkt ihm die Mühe an, sei es bei den qiekenden hohen Tönen oder den ruppigen, tiefen Hupern. Monk steuert in Coltranes erstem Chorus eine recht brauchbare Begleitung bei, im zweiten dann nur noch ganze vier Akkorde, im dritten überhaupt nichts mehr.

Coltrane war neunundzwanzig – immer noch jung – und frisch bei einer großartigen, neuen Gruppe. Man kann hier seinen brodelnden Ehrgeiz förmlich hören. So seltsam einem „Trinkle Tinkle“ auch vorkommen mag, so ist es nach dem Thema doch ein geradliniger Song mit einer standardmäßigen AABA-Form. Als Charlie Rouse bei Monks Konzerten in den Sechzigerjahren Soli darüber spielte, schuf er eine wesentlich glattere, singendere Musik.

Ansonsten gibt es nur sehr wenig aus Coltranes sechsmonatiger Phase bei Monk im Jahr 1957. Fast ein halbes Jahrhundert später jedoch, im Jahr 2005, tauchten in der Library of Congress fünfundfünfzig Minuten Livematerial auf. Es waren Aufnahmen, die der Sender Voice of America (Die Stimme Amerikas) in der Carnegie Hall gemacht hatte. Sie waren Teil eines langen Benefizkonzerts, bei dem außerdem Ray Charles, Billie Holiday, Sonny Rollins und das Zoot Sims Quartet mit Chet Baker auftraten. Bei diesen Aufnahmen vom 29. November 1957 klingt Coltrane zwar, als würde er unter Druck stehen, aber er macht seine Sache gut. Er reihte viele seiner eigenen Figuren aneinander, die alle gut zu Monks harmonischer Sprache passten. Meistens spielte er wundervoll, meilenweit entfernt von dem bemühten, gebrochenen Charakter seiner Soli noch wenige Monate zuvor (wie zum Beispiel in „Bass Blues“, das am 23. August aufgenommen und auf der Prestige-Platte Traneing In veröffentlicht wurde). Nur sporadisch, etwa in seinen zehn Bluesschemata in „Blue Monk“, wurde er etwas unachtsam und fiel zurück in das, was ein Kritiker im Vorjahr als „Zaudern“ genannt hatte. Hier indes darf man es getrost als persönliche Note bezeichnen.

Auf der Carnegie-Aufnahme klingt die Band entspannt, locker, magnetisch. Die Tempi sind unruhiger. Man vergleiche nur die Nummer „Nutty“ in ihrer Studioversion vom Mai auf Thelonious Monk With John Coltrane mit dieser Liveversion, und man hört schnell den Unterschied. Coltrane ist inzwischen sehr beweglich geworden, da er eine flexible Methode gefunden hat, seine eigenen Muster zu spielen – Muster, die auf Ganztönen, Dominantseptimen und verminderten Skalen basieren. Monk setzt mit einer ungeheuren Gelassenheit einen Gegenpol zu diesen treibenden, fast gewalttätigen rhythmischen Figuren. Allem, was Schlagzeuger Shadow Wilson dazu bietet, gebührt höchste Anerkennung: Er beschützt den Groove, erhält ihn aufrecht und bastelt kleine, reich detaillierte Akzente darum herum. Es ist eine magische Platte, die bei all ihren Provokationen doch lieblich bleibt.

Das Album Thelonious Monk With John Coltrane erschien erst Ende 1961. Es enthält nur fünf Stücke, bei denen die beiden Musiker zusammen spielen. Die drei anderen Stücke mit dem Quartett wurden wegen vertraglicher Schwierigkeiten im stillen Kämmerlein aufgenommen. Dabei mögen auch persönliche Animositäten eine Rolle gespielt haben. Orrin Keepnews, der Betreiber von Riverside, berichtete: Monk, der für Riverside aufnahm, wollte nicht wieder mit Bob Weinstock, dem Direktor von Prestige, aufnehmen, obwohl er dies in der Vergangenheit einige Male getan hatte. Coltrane nahm jedoch mit Weinstock bei Prestige auf. Die beiden Labels einigten sich schließlich darauf, Musiker nur dann untereinander „auszuleihen“, wenn diese Aufnahmen für beide Labels machten. Das Prestige-Album wurde als Coltrane-Platte vermarktet und das Riverside-Album als Platte von Monk. Zum damaligen Zeitpunkt indes wurde keines von beiden offiziell veröffentlicht.

Wäre die Gruppe in der Lage gewesen, eine richtige Platte zu machen, oder wäre das Carnegie-Konzert damals veröffentlicht worden, hätte dies gezeigt, dass sowohl Coltrane als auch Monk einen spielerischen Höhepunkt erreicht hatten. Man darf jedoch getrost annehmen, dass dies die öffentliche Meinung über keinen der beiden Musiker sonderlich beeinträchtigt hätte.

Coltrane wurde im Sommer regelmäßig ins Studio gebeten; er war der Tenorspieler der Stunde.

Das Blue-Note-Label hatte im Jahr zuvor darauf verzichtet, ihn unter Vertrag zu nehmen, als er im Büro vorbeischaute und um ein paar Platten von Sidney Bechet bat. Diesen Sommer jedoch war man ihm etwas entgegengekommen, und er ging ins Studio, um eine Platte für Blue Note zu machen, solange er angesagt war. Wie es der damaligen Geschäftspraxis entsprach, bezahlte die Plattenfirma die Proben. Den Aufnahmen merkt man dies an: Coltrane stellte fünf Stücke zusammen, darunter vier seiner eigenen, und er konnte seinen Stil wesentlich klarer herausarbeiten als bisher.

Für Blue Train, die Platte für Blue Note, engagierte er seine alten Freunde Paul Chambers und Philly Joe Jones und stellte mit ihnen eine Band seiner Wahl zusammen. Das erste Stück, „Blue Train“, klingt wie eine Weiterführung von Coltranes Spiellaune bei „Trinkle Tinkle“ einige Monate zuvor. Es ist eine energiegeladene, treibende, kantige Musik, mit der er bis an die Grenzen seines Lungenvolumens geht. Gleichzeitig war „Blue Train“ aber auch ein Blues. Als progressiv eingestellter Musiker hatte Coltrane begonnen, sich auch als Bluesspezialist zu präsentieren – möglicherweise war er damals sogar der erfindungsreichste Bluesspieler im Jazz. „Moment’s Notice“ und „Lazy Bird“ sind die ersten von Coltranes Etüden, kurze und perfekte Stücke mit rasch wechselnden Akkorden in ungewöhnlicher Reihenfolge.