Coltrane

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Z serii: Hannibal-Jazz
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Von (Earl Lavon) Freeman, der Tenorsaxofonist, der die Fünfzigerjahre mit Auftritten in den Clubs von Chicago verbrachte, hat gesagt, Coltranes Leistung bestehe darin, dass er die drei wichtigen Spielweisen des Tenorsaxofons verinnerlicht habe: den schnellen, aggressiven, am Bebop orientierten Stil mit vielen nervösen hohen Tönen, den weichen Stil von Lester Young und schließlich den von Dexter Gordon.

Dennoch sollte es noch lange dauern, bis Coltrane sich als Musiker ganz entfaltete. Während seiner harten Lehrjahre in der Bebop-Ära, als er bei Dizzy Gillespie als Sideman arbeitete, eignete er sich jedoch große Teile des Handwerkszeugs an, das seinen späteren Stil ausmachte. Eines davon (zu hören auf Good Groove, einer Studioaufnahme, die im März 1951 in Detroit entstand) ist die Dauer und das Gewicht seiner langen Töne. Er spielt ein R&B-Solo, als würde er darauf warten, dass man endlich verschwindet; er weigert sich strikt, schneller zu werden. Ein anderes (zu hören im dritten Chorus seines Solos in „Congo Blues“) ist ein kurzes, aber scharfes Aufwärtsglissando, das ein Intervall von sechs Halbtönen überspringt. Es klingt wie ein Seufzer rückwärts.

Es passiert nicht viel

Coltrane hatte seinen Weg mehr oder weniger gefunden. Im Frühjahr 1952 quittierte er seinen Dienst bei Gillespie. Die folgende Phase, bis er sich 1955 Miles Davis anschloss, ist jedoch vornehmlich davon gezeichnet, dass nur wenig von Bedeutung geschieht. Er lernte immer noch und betrachtete sich nach wie vor als Musiker in der zweiten Reihe.

Er trank und nahm Heroin, was damals nichts Ungewöhnliches war. In einer wegweisenden soziologischen Studie aus den Jahren 1954 und 1955 legt Charles Winick dar, dass von den dreihundertsiebenundfünfzig methodisch befragten New Yorker Jazzmusikern sechzehn Prozent heroinabhängig waren. Hätte man diesen Prozentsatz auf die Gesamtzahl der New Yorker Jazzmusiker übertragen, die Winick mit etwa fünftausend bezifferte, hätte man vermutlich festgestellt, dass sich unter den aktiven Jazzmusikern im New York der Jahre 1954/1955 über siebenhundertfünfzig regelmäßige Heroinkonsumenten befanden. Winicks Studie muss man allerdings mit ein wenig Skepsis begegnen: Man muss bedenken, welche Vorbehalte ein Jazzmusiker damals einem Mitglied der bürgerlichen Welt mit einem Notizblock in der Hand gehabt haben muss und auch, welche Sorte Mensch sich zu solch einer Befragung überhaupt bereit erklärt haben könnte.

Daneben studierte Coltrane eifrig weiter den Jazz, für sich alleine und bei Dennis Sandole an der Granoff School of Music in Philadelphia. Ein Drittel der Veteranen des Zweiten Weltkriegs nutzten die Bildungszuschüsse für G.I.s, um das College zu besuchen; Coltrane war ein ehemaliger Armeeangehöriger, der darauf erpicht war, sich weiterzubilden. Er spielte in verschiedenen Bands, wovon einige ziemlich bekannt waren, andere heute längst vergessen sind. Er machte sich dabei nicht unbedingt einen Namen als Solist. Seine Konzerte hatten zwar einen gewissen Lerneffekt, verhalfen ihm aber nicht zu einem besonderen Status.

So spielte er kurzzeitig bei Gay Grosse, einem Bandleader, der ein drittklassiger Jump-Blues-Sänger und Möchtegernsaxofonist war. Grosse trat regelmäßig im Club Congo in Cleveland auf und hatte in dieser Gegend auch einige lokale Jukeboxhits. Auf der Ballade „Bitter Sweet“, aufgenommen im Januar 1952, ist Coltrane zu hören: Er spielt sein Altsaxofon klar und langsam, aber ohne jede Aussagekraft. Es könnte sich dabei um eine Hommage an Johnny Hodges handeln, an dessen langsamen, zärtlichen Stil. Trotzdem schläft man bei Coltranes Solo beinahe ein.

1953 spielte er eine Zeitlang in der Band des Saxofonisten Earl Bostic. Bostic war eine seltene Spezies: ein R&B-Hitlieferant mit makellosem Timing und großen technischen Fähigkeiten, der über einen Rock’n’Roll-Backbeat spielte. Sein bekanntester Song, „Flamingo“, war zwei Jahre zuvor ein Hit gewesen. Es war eine dreckige Version einer sahnigen Ellington-Ballade (geschrieben von Ted Grouya und Edmund Anderson), die ursprünglich Herb Jeffries gesungen hatte. Bostic, stämmig, gedrungen und mit einer Hornbrille auf der Nase, sah aus wie der Rektor einer schwarzen Mittelschule. Sein Sound war eine aufgedonnerte, leicht erregbare Variante von Johnny Hodges. Hodges selbst spielte ein Solo in Ellingtons Version von „Flamingo“ aus dem Jahr 1940, aber Bostic wandelte es ab. Wenn die zugeknöpfte Gefühlsbetontheit von Hodges und sein sanftes Brummeln einen Mann darstellten, der eine schöne Frau beobachtete, dann stellte Bostic zwar denselben Mann dar – aber bei ihm trug der eine Röntgenbrille. Sein Balladenton war laut, überdreht und hitzköpfig.

Jeder technisch orientierte Saxofonist beneidete Bostic. Auf Tournee verbrachte er die Freizeit damit, seinen Musikern zu erklären, wie man für Saxofone verschiedener Hersteller unterschiedliche Fingersätze anwandte, um bessere Sounds zu erzeugen. Sein sicheres und kontrolliertes Herangehen an Jukeboxproduktionen und seine makellose Technik waren für Coltrane im Frühling, Sommer und Herbst des Jahres 1953 eine gute Schule.

Wenn man sich für Coltranes Entwicklung auf dem Tenorsaxofon interessiert, sind jedoch die beiden Songs, die er 1954 mit James „Coatesville“ Harris aufnahm, einem Schlagzeuger aus Philadelphia (der in den Vierzigern eine Zeitlang für Louis Armstrong getrommelt hatte), weitaus ergiebiger. „Hamhocks And Hominy“ ist eine durchschnittliche Platte zum Mitsingen und Tanzen, die davon handelt, dass ein Mädchen ihren Mann dank ihrer Kochkunst „wie einen Fisch an der Angel“ hat. Coltrane setzt zum Solo an, und voilà: Da ist er, sein Sound. Man kann die Breite und Kraft seiner Melodie deutlich hören. Hatte das Altsaxofon eventuell noch die ständige Versuchung ausgeübt, in die musikalische Sprache von Johnny Hodges zu verfallen, ist Coltrane mit dem Tenorsaxofon nun ganz auf sich selbst gestellt. Auf solchen Platten würde man vermuten, dass der Saxofonist einen Ton ständig wiederholt, dem Stil entsprechend. Statt dessen bleibt er weit hinter dem Beat zurück und baut in maßvollen Schritten sein Solo auf.

Coltrane hatte nun bei zwei der unter jungen Musikern vergötterten Techniker gespielt: Gillespie und Bostic. Als nächstes sollte er mit einem dritten zusammentreffen: Johnny Hodges höchstpersönlich.

Hodges war ein Protégé von Sidney Bechet. Er hatte anfangs auch Bechets Instrument gespielt, das Sopransaxofon, und dessen knurrenden und grummelnden Ton imitiert(den Bechet „Goola“ nannte – nach dem Namen seines Hundes). Hodges fand seinen eigenen Ausdruck, indem er Bechet für seine eigenen Zwecke zurechtbog, die Breite des Sounds beibehielt und die rhythmische Nervosität wegließ. Mit seiner überzogenen Stilisierung – durchgehende Saxofonglissandi mit wechselnder Dynamik von gertenschlank bis überwältigend, elegante rhythmische Pirouetten – schuf Hodges eine neue Art maskuliner Sensibilität im Jazz. Dies kam seinem langjährigen Arbeitgeber Duke Ellington sehr entgegen. Wenn es darum geht, verschiedene Arten der Maskulinität von fast parodistischer Entkräftung bis hin zu unnachgiebiger Härte in der Musik auszudrücken, bleibt Ellington der ewige Großmeister des Jazz.

Hodges war sehr gut darin, mit der linken Hand das Tempo zu zügeln. Er spielte niemals hastig, und dies gab ihm die Möglichkeit, kleine, aufregende Pointen inmitten lockerer, fließender Melodien mit langen Tönen einzubetten. Sie klangen nie improvisiert, selbst dann nicht, wenn sie es waren. Obwohl Coltrane lange brauchte, um den richtigen Zugang zu Balladen zu finden (er war bis Mitte dreißig noch kein wirklich origineller, fesseln-der Balladenspieler), so fand er doch, dass die superentspannten, dunkel erotischen Tempi von Hodges auch gut zu seinem eigenen Spiel passen würden. So könnte eine ganz neue Stimmung entstehen, eine Balance zwischen Heiligkeit und Machbarkeit, eine Stimmung, die man im Jazz bislang nicht gekannt hatte.

„Smoke Gets In Your Eyes“ war Coltranes spezielle Solonummer, als er in der Band von Hodges spielte. Vielleicht ist es die Fremdartigkeit dieses Songs, die ihm, zusammen mit der Fremdartigkeit des Sounds von Hodges, den Weg zeigte und ihn in Richtung dunklerer Klänge wies. In „Castle Rock“, seinem Parade-Blues (eigentlich eine Rock’n’Roll-Nummer), war er ebenfalls hart, maskulin, kathartisch. Er musste seinen Ton ausweiten, um die vollen, rauchigen, klagenden und tiefen Noten spielen zu können, die immerhin eine Oktave unter der Tonika lagen. Auch sein Rhythmus nahm Gestalt an: In „Castle Rock“ fand er zusammen mit dem Schlagzeuger einen hübschen Groove.

Benny Golson, der Coltrane in all seinen Phasen gesehen hatte, bemerkte, dass sein Freund unterwegs zu etwas Neuem war. Golson erinnert sich, dass Coltrane noch unmittelbar zuvor eine offensichtliche Faszination für Dexter Gordon gehegt hatte. Nun hingegen, auf Tournee mit Johnny Hodges, entwickelte er „einen Stil, der keinen Namen hatte, aber irgendwie in der Gegend herumhüpfte und -sprang“. Coltrane begann, eigene Formen und Rhythmen zu spielen.

„Der Job machte mir richtig Spaß“, erzählte John Coltrane später. „Ich mochte jedes Stück in diesem Programm. Nichts davon war oberflächlich. Alles hatte eine Bedeutung, und alles swingte. Und dann die Sicherheit, mit der Rabbit Hodges spielt! Ich wünschte, ich könnte ebenso selbstsicher spielen wie er.“

Coltrane verließ Hodges im Herbst 1954 und arbeitete das folgende Jahr über jeweils für kurze Zeit mit verschiedenen Bands im Großraum Philadelphia. Eine dieser Bands wurde von dem Organisten Jimmy Smith geleitet. Coltrane wollte sich jedoch nun zunehmend selbst spielen hören, und der laute Orgelsound von Smith – „diese Akkorde, die mich da anbrüllen“, wie er sich später einmal ausdrückte – übertönte alles andere.

 

Daneben hatte er auch Jobs bei Miles Davis, der Coltrane, wenn er in Philadelphia war, und Sonny Rollins, wenn er in New York war, in den frühen Fünfzigern immer wieder mal engagierte. Sowohl Davis als auch Rollins nahmen bis 1955 Heroin.

1955, im Jahr als Charlie Parker starb, musste etwas Neues im Jazz passieren. Das Heroin hatte die Musik gelähmt, manchem den Tod gebracht und Neuentwicklungen verhindert. Ein großer Teil der kleinen neuen New Yorker Jazzszene kreiste immer noch um die Standards, die Parker in Sachen Rhythmus, Harmonie und Bühnenpräsenz gesetzt hatte, um seine besondere Logik asymmetrischer Achtelphrasierung. So viele Saxofonisten hatten seine Soli Note für Note studiert und sein Tempo, seinen Ton und seine Licks in ihrem Sound übernommen, dass der Jazz vorübergehend zu einem Stillstand gekommen war. Zu guter Letzt interessierte sich der harte Kern seiner Jünger nur noch für seine Soli – soll heißen: mehr als für die Ensembles, mehr als für alles andere.

Parker selbst, durch Alkohol und Heroin physisch und psychisch am Ende und nur noch ein Klumpen aus blutenden Magengeschwüren, kaputten Nieren und einer verwüsteten Leber, hätte als Symbol für die Erschöpfung des Bebop stehen können. Davis, der stets instinktiv gegen den Strom schwamm, stellte eine neue Gruppe zusammen.

Davis hatte gerade zum ersten Mal einen Heroinentzug hinter sich und äußerte sich dazu im Winter 1953/1954 gegenüber der Presse. Er war plötzlich fasziniert vom Trio des Pianisten Ahmad Jamal, der adrette, unaufdringliche Stücke für eine Band schrieb, die die Makro-Improvisation beherrschte – also die Improvisation in der Form (sprich: in der Struktur), und nicht nur inhaltlich (in Soli). Davis gab im Sommer 1955 beim Newport Jazz Festival ein beeindruckendes, sehr persönliches Konzert, das gemeinhin als „Comeback-Konzert“ betrachtet wurde.

Damals waren viele Jazzmusiker anerkannte Volkshelden, und die Drogen, die sie nahmen, wurden als Teil ihrer Welt angesehen. Anders als heute wurden Jazzmusiker als geheimnisvolle Kreaturen betrachtet, die ihre eigene Sprache hatten und nur ihre eigenen Gesetze befolgten. Sie liefen sozusagen außer Konkurrenz – was nicht heißen soll, dass man sie deshalb besser verstand. Mit den richtigen Leuten im Publikum konnten bestimmte geschickt lancierte Konzerte einen mythischen Status erlangen, was auch oft genug geschah. Heute werden die meisten großen Jazzkonzerte zu schnell kontextualisiert und dadurch sofort zum Durchschnitt degradiert.

Columbia Records nahm Davis unter Vertrag und zahlte neben einem Vorschuss von zweitausend Dollar pro Jahr noch einen Tantiemenanteil von vier Prozent, was gemäß den Vertragsbestimmungen einen Vorschuss in Höhe von insgesamt viertausend Dollar ergab. Für Jazz war das damals eine Menge Geld.

Folgt man den Memoiren von Davis und bedenkt man den guten Ruf von Rollins zur damaligen Zeit, hätte er sich wahrscheinlich für Sonny Rollins als Tenorsaxofonist der Gruppe entschieden. Es machte Miles jedoch nervös, dass Rollins unentschlossen war, ob er in New York bleiben sollte oder nicht.

Rollins war ungeheuer intelligent und sehr einnehmend. Er war immer noch auf der Suche, aber trotzdem schon ein Bandleader. Geboren 1930, war er in Harlem aufgewachsen – zum Teil in Sugar Hill, einem Viertel, in dem die besten Jazzmusiker der Stadt lebten. Da er sich inmitten der von ihm bewunderten Jazzkultur entwickelt hatte, war er Coltrane einen Schritt voraus. Mit dreizehn hatte er bereits Coleman Hawkins getroffen. Er hatte einfach mit einem Stift und einem Hochglanzfoto vor dessen Haustür in der

153. Straße gewartet. Im Alter von zwanzig Jahren machte er erste Aufnahmen für Prestige.

Davis entschied sich schließlich für Coltrane. Philly Joe Jones, sein Schlagzeuger, kannte Coltrane aus gemeinsamen Teenagerjahren in Philadelphia und empfahl ihn seinem Chef. Coltrane war freilich kein gänzlich unbeschriebenes Blatt mehr, da er zumindest schon einmal mit der Band von Davis zusammengespielt hatte – 1950 im Audubon Ballroom in New York. Rollins erinnert sich daran, dass der Auftritt vielen größeren Konzerten der Bebopper geähnelt hatte – eine Show für Tänzer, bei der nur ein paar Aufpasser vorn am Bühnenrand standen. Coltrane kannte zudem bereits sehr viele Stücke von seiner Band. Er mag die zweite Wahl gewesen sein, aber wenigstens hatte man nicht die Sorge, dass man ihn bald ersetzen müsste.

„Nun hatten wir Trane am Saxofon, Philly Joe am Schlagzeug, Red Garland am Klavier, Paul Chambers am Bass und mich selbst an der Trompete“, schrieb Davis in seiner Autobiografie. „Und früher, als ich es mir je vorgestellt hätte, spielten wir zusammen einfach unglaubliche Musik. Sie war so geil, dass es mir nachts kalt den Rücken runter lief, und dasselbe bewirkte sie auch beim Publikum. Mann, die Scheiße, die wir nach kurzer Zeit spielten, war richtig beängstigend. So beängstigend, dass ich mich manchmal zwickte, um zu prüfen, ob das alles auch wirklich wahr war.“

Prestige

Von 1955 bis 1957 veränderte sich Coltranes Leben. Einige Tage vor Beginn einer stressigen Reihe von Clubkonzerten mit dem Miles Davis Quintet heiratete er eine Landsmännin aus North Carolina, deren Familie ebenfalls nach Philadelphia gezogen war. Naima Coltrane, geborene Juanita Grubbs, war eine Muslimin. Coltrane war zu jener Zeit immer noch heroinabhängig, was auch in der Öffentlichkeit deutlicher sichtbar wurde. Er ließ sich seine Arbeit zuteilen.

Seine ersten Soli mit der Band finden sich auf einer Aufnahme für Columbia vom Oktober 1955 – in Charlie Parkers „Ah-Leu-Cha“, im „Two Bass Hit“ von John Lewis und Dizzy Gillespie, in Jackie McLeans „Little Melonae“ und in „Budo“ von Miles und Bud Powell. Alle sind auf dem Miles-Davis-Album Round About Midnight zu hören. Diese Soli wurden hoch gelobt, erzeugen aber nicht ganz das Kribbeln, von dem Davis sprach.

In „Ah-Leu-Cha“ legte Coltrane eine überdurchschnittliche Leistung hin, mit einem trockenen Swingfeeling in der Manier von Gene Ammons und mit immer noch hörbaren Anleihen an Dexter Gordons Spiel. Es ist ein recht ordentliches Solo, das mit Hilfe verminderter Skalen Tonfolgen in den Raum stellt und dann auf diese reagiert, bevor es an die nächste Tonfolge geht. In „Two Bass Hit“ zitierte er während der ersten acht Takte immer wieder Dizzy Gillespies Einleitungsmotiv aus der 1947 entstandenen Originalversion des Songs. (Er zeigte, dass er sich im Studio gut zurecht fand, wie schon damals auf Hawaii.) Ansonsten verlor er sich in rhythmisch sicheren, aber ziemlich langweiligen Achtelmustern. In „Budo“ stellte er die klare Tonalität des Stücks mit stotternden Abschweifungen auf den Kopf.

Miles Davis stand bei Columbia unter Vertrag, aber gleichzeitig auch bei dem kleinen Prestige-Label. Die erste Aufnahme des Davis-Quintetts mit Coltrane für Prestige fand im November statt. Auf „Stablemates“, einem Stück von Coltrane und dessen jüngerem Freund Benny Golson, spielte Coltrane sein wahrscheinlich erstes passables und in sich stimmiges Solo bei einer Aufnahme. Er wirkte jedoch immer noch, als wäre er unsicher und nicht ganz bei der Sache, und dieses Gefühl schien sich auf den Rest der Gruppe zu übertragen.

Die Sessions für Prestige wurden ohne vorherige Proben anberaumt, und die meisten Stücke waren nicht Bestandteil des regulären Repertoires der Band. Miles Davis und Bob Weinstock, der Chef des Labels, kratzten aus Standards und Filmmusik (Stücke wie „Diane“ und „Surrey With The Fringe On Top“) hastig immer mehr Material zusammen. Davis sprach stolz davon, er wolle die Fehler in seiner Musik als Beleg der Menschlichkeit konservieren. Trotzdem ist es zweifelhaft, ob es Coltranes Rohrblattquietscher in „Just Squeeze Me“ (vom 16. November 1955) und „Diane“ (vom 11. Mai 1956) in einer Columbia-Session bis zum Mastering geschafft hätten.

Zu jenem Zeitpunkt hätte man die Aufnahme von Coltrane in die Band durchaus als Rückschritt für Davis sehen können. Wenn man die beiden Versionen von Dave Brubecks „In Your Own Sweet Way“ miteinander vergleicht, die 1956 von Miles und Band für Prestige eingespielt wurden – eine mit Coltrane und eine mit Rollins – und sich dann in den Kopf von Miles Davis hineinversetzt, zieht man Rollins auf jeden Fall vor. Sein Spiel ist prägnant, rhythmisch auf den Punkt, selbstbewusst, angenehm modern und in sich geschlossen. Coltrane mag eine offenere Vorstellung von Harmonie andeuten, doch ist sein Solo in der Ausführung schludriger und scheint, vom erzählerischen Gesichtspunkt aus betrachtet, auf der Stelle zu treten. Er haut seine Figuren ohne große Eleganz heraus.

Die Sessions, die das Miles Davis Quintet mit Coltrane für Prestige aufnahm, waren wahre Marathonveranstaltungen – vor allem die ganztägigen Sessions vom 11. Mai und 26. Oktober 1956, bei denen die Gruppe genügend Nummern einspielte (lauter First Takes), um die letzten vier Alben zu füllen, die Davis dem Label noch schuldig war. Wäre das Ergebnis am Ende nur durchschnittlich gewesen (was bei vielen Prestige-Sessions, die unter geringerem Druck stattfanden, der Fall war), hätte Davis, der ja gerade ein Comeback versuchte, seine Karriere mit gleich vier durchschnittlichen Alben auf dem Markt leicht zum Stillstand bringen können. Trotz aller Schwächen, die aber meist harmlos ausfallen, handelt es sich um exzellente Aufnahmen. Es wurden großartige Platten. Keine Meisterwerke zwar, aber einfach tolle Platten.

Im Frühjahr 1956 war die Gruppe zusammengewachsen. Abgesehen von Coltrane, der den Platz vorn am Bühnenrand einnahm, war auch die Rhythmusgruppe vom Allerfeinsten. Diese Aufnahmen waren der Höhepunkt eines Stils, den man später Hard Bop nannte.

Die Musik dieser Sessions ist mittlerweile in Ehren gealtert, vor allem jene aus der Session vom 26. Oktober, und sie stellt, in ihrer Gesamtheit betrachtet, ein frühes Konzeptalbum von Miles Davis dar – vielleicht sogar eines, das man in eine Reihe mit Miles Ahead, Porgy And Bess und Sketches Of Spain stellen kann. (Die Titel, die schließlich für die Platten ausgewählt wurden, verstärken den Eindruck, dass sie zusammen gehören. In der Reihenfolge der Katalognummern lauten diese Cookin’ With The Miles Davis Quintet, Relaxin’ With The Miles Davis Quintet, Workin’ With The Miles Davis Quintet und Steamin’ With The Miles Davis Quintet.) Da Davis ein verständliches Interesse daran hatte, in möglichst kurzer Zeit eine große Menge Material durchzuackern, waren die Aufnahmen eigentlich Konzerte im Studio. Wenn eine Nummer vorbei war, begann er gleich mit der nächsten. Er setzte darauf, dass er so die entspannte Lockerheit eines Liveauftritts schaffen könnte statt der eingezwängten, sterilen Atmosphäre einer Studiosession. Freilich wollte er gleichzeitig auch seine vertraglichen Verpflichtungen erfüllen. Er wollte seine Gedanken auf eine lange Musikfolge richten, ohne sich an die normalen Konventionen im Studio halten zu müssen, wo Stück für Stück einzeln aufgenommen wird. Seine Rechnung ging auf.

Lockerheit bedeutete, dass Coltrane bei einigen der besten Prestige-Stücke – „Surrey With The Fringe On Top“ und „If I Were A Bell“ – aus dem Hintergrund ans Mikrofon eilte, ganz offensichtlich noch nicht bereit für seinen Einsatz. Es bedeutete, dass das Arrangement und der musikalische Gesamtrahmen eines Stückes nicht so fest fixiert waren. Es bedeutete, dass Stücke auch langsam herunterköcheln konnten, anstatt mit einem kontrollierten Plopp zu enden.

Der Bassist Paul Chambers bildete mit seinem kraftvollen Pizzicatospiel am tiefen Ende seines Instruments das groovende Rückgrat der Gruppe. Einige seiner Soli, gestrichen oder gezupft, zeugen von einem Rhythmusgefühl, das ihn in eine Reihe mit Jimmy Blanton und Oscar Pettiford stellt. Im Wesentlichen jedoch war er ein Anker. „Ein Bassist von Paul Chambers’ Format ist in New York schwer zu finden“, sagte Coltrane. „Er begreift seine Funktion an der Schnittstelle: Er hört gleichermaßen auf das Klavier und auf das Schlagzeug. Seine ganze Arbeit besteht darin, im Dienste dieser Instrumente zu improvisieren. Seine Melodieführung ist ein Ergebnis aus den Melodieführungen der anderen zwei Musiker.“ Der Schlagzeuger Philly Joe Jones trommelte harte, prägnante Fills und spielte alles – vom Solo bis zur leisen Begleitung eines Bass-Solos – mit einem ungemein sicheren Gespür für das Tempo. Der Pianist Red Garland ist am ehesten für seine sauberen Blockakkorde bekannt geworden, in rhythmischer Hinsicht jedoch war er erdig und elegant, eine gemäßigtere Ausgabe von Horace Silver, obwohl er einen ganz ähnlichen Bereich hinter dem Beat ausleuchtete.

Für Garlands Geschmack waren Coltranes Einsätze und Ausstiege ein Stück zu modern, jedoch trotzdem nachvollziehbar und leicht zu handhaben. „Die Kontinuität seiner Ideen und seine einzigartige Weise, mit Akkordwechseln umzugehen, haben mich immer verblüfft“, sagte Garland gegenüber Nat Hentoff. „Er kann an einer völlig ungewöhnlichen Stelle mit einem neuen Akkord beginnen. Der Durchschnittstyp fängt vielleicht mit der Septime an, Coltrane jedoch beginnt auch gern mal mit einer verminderten Quinte. Er hat eine verdammt eigene Art, die Akkorde aufzubrechen, aber es macht mir keine Schwierigkeiten, ihn zu begleiten, da er ja dieses Gefühl für Kontinuität hat, von dem ich gesprochen habe.“

 

„Kontinuität“ ist ein Begriff, der viel über Coltranes Denkweise aussagt. Er verband nicht nur Phrasen miteinander, die harmonisch weit voneinander entfernt schienen, sondern er schuf damit auch Verbindungen zwischen ganzen Theorieblöcken, die zunächst einmal scheinbar nichts miteinander zu tun hatten.

Der Hornist David Amram begegnete ihm zum ersten Mal Anfang 1956 vor dem Café Bohemia in der Barrow Street im West Village von Manhattan. Amram hatte gerade einen Auftritt mit der Band von Charles Mingus beendet, und Coltrane saß vor dem Club und aß ein Stück Pastete:

„Er fragte: ,Na, wie geht’s?‘ Ich sagte: ,Alles bestens.‘ Und dann fragte er: ,Was hältst du von Einsteins Relativitätstheorie?‘“ Ich glaube nicht, dass es ihn besonders interessierte, was ich darüber wusste. Er wollte wohl zeigen, was er alles darüber wusste. Ich hatte Pech, und er erging sich in endlosen Ausführungen über die Symmetrie des Sonnensystems, redete von schwarzen Löchern im All, von Sternenzeichen und der ganzen Struktur des Sonnensystems und wie es Einstein gelungen war, all diese komplexen Zusammenhänge auf etwas sehr Einfaches zu reduzieren. Dann erklärte er mir, dass er versuche, etwas ganz Ähnliches in der Musik zu machen, etwas, das sich aus naheliegenden Quellen speise, den Traditionen des Blues und des Jazz. Dabei wolle er jedoch einen ganz anderen Ansatz, eine gänzlich neue Herangehensweise an solche Quellen schaffen.“

„Surrey With The Fringe On Top“ vom 11. Mai ist vermutlich Coltranes erstes im Studio aufgenommenes Solo mit einer eigenen Persönlichkeit – das erste, bei dem er seinen provokativen Umgang mit Akkordfolgen, seine ausgefallenen rhythmischen Notengruppierungen, das Wechselspiel zwischen schnellen und langsamen Sequenzen und so weiter in den Dienst einer musikalischen Persönlichkeit stellt, mit der man lieber etwas Zeit verbringen möchte, als sie einfach nur zu studieren. Dafür hat er einiges von seiner experimentellen Kälte verloren. Er hat gelernt, wie man auf einen eleganten Schluss zusteuert, anstatt eine Improvisation voller Ungeduld mittendrin abzubrechen. Es gibt jedoch immer noch einige Schwachpunkte: Seine Artikulation klingt in den schnellen Passagen immer noch verklemmt, und man spürt, dass er sich insgesamt noch nicht ganz wohl fühlt.

Bei der Session vom 26. Oktober 1956 jedoch merkt man bereits im ersten Stück, „If I Were A Bell“, dass Coltranes Phrasierung, seine seltsam klumpigen Notengruppierungen ihre eigenen komfortablen Dimensionen gefunden und sich in wahre Fanfarenklänge verwandelt haben. Er ist besser darin geworden, den Raum zu nutzen, der ihm zur Verfügung steht. Erst kürzlich war er zum Balladenspieler geworden. Vielleicht, um auf Nummer sicher zu gehen, hatte ihn Davis noch bei der Session vom 11. Mai gebeten, die Balladen auszulassen. Nun hingegen ist er auf „Round About Midnight“ und „You’re My Everything“ zu hören.

Coltranes Transformationen definieren auch die Geschichte seines Werks. Sie sind das Thema dieses Buchs. Die eben angesprochene Verwandlung von dem streng mathematischen, durchweg in Achteln gespielten „Ah-Leu-Cha“ exakt ein Jahr zuvor bis zu „If I Were A Bell“ ist ein Siebenmeilenschritt. Wie Eddie „Cleanhead“ Vinson sagte: Schon in seinen Tagen als namenloser Musiker änderte Coltrane seinen Stil fast alle sechs Monate.

Das Miles Davis Quintet war nonstop auf Tournee und begann, einen kleinen Mythos um sich herum aufzubauen. Wie fast alle ernsthaften Jazzgruppen der damaligen Zeit legten sie größten Wert auf ihr Äußeres. Davis war es ganz besonders wichtig, dass seine Bandmitglieder scharf aussahen. Er selbst kleidete sich nach seinem Comeback elitär: Er bestellte adrett geschnittene Tweedanzüge, die er sich vom Andover Shop am Harvard Square maßschneidern ließ. Coltrane konnte da nicht ganz mithalten. Er sah zu ernst aus. Er hatte schwere Knochen, ganz im Gegensatz zum vogelartigen Miles, und er trug dunkle Anzüge mit weiten Jacketts und dünnen Krawatten. Er sah nicht scharf aus. Er war das Abbild eines tiefen, weitläufigen Innenlebens, eines Desinteresses an allen Äußerlichkeiten.

In den fünfeinhalb Monaten zwischen der ersten und der zweiten langen Session für Prestige hatte das Davis-Quintett ein zweiwöchiges Engagement im Café Bohemia in New York, zwei Wochen in der Crown Propellor Lounge in Chicago, eine Woche im Peacock Alley in St. Louis, dann wieder eine Woche im Café Bohemia, gefolgt von einer Woche im Storyville in Boston und zwei weiteren Wochen im Bohemia. Obwohl sich Jazzkenner darin einig waren, dass die Gruppe etwas Besonderes geworden war und problemlos alleine auftreten konnte, teilte sie sich den Abend in den Clubs typischerweise mit mehreren anderen Künstlern. Die Anzeige eines Nachtclubs im Chicago Defender aus der Weihnachtswoche 1955 beispielsweise kündigt „Miles Davis and his Combo“ für das Birdland an. Danach werden „Marimack’s Calypso Dance Team“, „der exotische Tänzer Kaloh (zum ersten Mal in Chicago)“ und „der unglaubliche Billy Gamble, M. C., Sänger, Tänzer, Komödiant“ aufgeführt.

Bei so vielen Auftritten überrascht es nicht, dass es für Miles naheliegend erschien, die Rhetorik des Konzerts auch im Studio zu übernehmen. Es ist darüber hinaus kaum verwunderlich, dass sich Coltranes Spiel in dieser Zeit so rasant weiterentwickelte. Als Tenorspieler in einer der beliebtesten neuen kleinen Bands des Landes stand er generell unter Druck (das Clifford Brown/ Max Roach Quintet war damals ähnlich populär und wurde oft mit der Band von Davis verglichen). Dazu kam ein spezifischer Stress bei den Auftritten, da Miles stets die Bühne verließ, wenn Coltrane ein Solo spielte. Im Rampenlicht allein auf sich gestellt, musste Coltrane hart an seinen musikalischen Fähigkeiten arbeiten.

Er machte gern Witze darüber, dass ihn Miles nur wenig angeleitet habe. Auf die Frage, ob Miles ihn in einem speziellen Fall angewiesen habe, er solle so abgedreht wie möglich spielen, entgegnete Coltrane einmal: „Miles? Mich zu etwas angewiesen? Das ist ein Witz!“ Davis konnte jedoch sehr gebieterisch sein, wenn es um das Qualitätsniveau ging, das er für seine Band wollte. Als der Saxofonist John Gilmore, den Coltrane sehr bewunderte, einmal als Gastmusiker in der Band mitspielte, verließ Coltrane an einer bestimmten Stelle die Bühne, um ihn allein mit der Rhythmusgruppe ein Solo spielen zu lassen. Davis strafte Coltrane dafür ab. „Miles beschimpfte Trane wüst“, erinnerte sich Gilmore. „,Wenn schon jemand auf meine Bühne kommt, dann sieh gefälligst zu, dass es nicht so aussieht, als würde er über dir stehen.‘“

Coltrane machte, soweit bekannt, einen solchen Fehler nie wieder. (Vielleicht einmal unter Freunden, doch sofern dies der Fall sein sollte, haben sie gnädig den Mantel des Vergessens darüber gebreitet.) Die schlimmsten Geschichten sind noch harmlos. Eines Abends nach einem Auftritt im Bohemian Caverns in Washington, D.C., als Coltrane Davis schon längst verlassen hatte, sagte der junge Radiodiskjockey Eric Kulberg vom Collegesender WAMU-FM zu Coltrane, wie dankbar er doch sei, dass er ihm an jenem Abend im Club ein Liveinterview gegeben habe. „Miles Davis gastierte auch hier, aber er wollte nicht“, fügte Kulberg hinzu. „Ja, ja, Miles kann ein ganz schönes Arschloch sein“, entgegnete Coltrane.