Coltrane

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Z serii: Hannibal-Jazz
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Die andere Hälfte der Coltrane-Erzählung, ihr posthumer Spiegel, beginnt vor seinem Tod. Die zweite Hälfte dieses Buches ist die Geschichte von Coltranes Einfluss auf andere Musiker und auf all jene, die vom Ende der Fünfzigerjahre an Diskurs und philosophischen Überbau des Jazz schufen.

Da seine eigenen Worte so indirekt waren, weil er so wenig sagte und doch für solch enorme Ideen stand, wurden in seinem Windschatten ganze Karrieren entworfen. Künstlerische Imperative, ob sie nun ursprünglich von

ihm stammten oder nicht, wurden als Glaubensgrundsätze akzeptiert. Jene, die auf die Vorstellung von Jazz als Musik der Zukunft setzen, zitieren Coltrane oft als Inspirationsquelle. Ich musste daran denken, als ich vor ein paar Jahren fünfzehn junge Saxofonisten hörte, die beim internationalen Saxofonwettbewerb des Thelonious Monk Institute gegeneinander antraten. An jenem Wochenende war Coltrane überall in ihrem Spiel gegenwärtig. Wenn diese Saxofonisten Raffinesse, Tiefe, Ausdauer, Hingabe und Sanftmut ausdrücken wollten, bedienten sie sich seiner Sprache.

Dies beginnt sich nun endlich zu ändern – aus Gründen, die in der Geschichte von Coltranes Einfluss deutlich werden sollten. Da wir immer noch unter seinem Joch stehen, uns jedoch im Prozess befinden, es abzustreifen, scheint der Zeitpunkt günstig für einen Versuch, sein Lebenswerk zu analysieren, und zwar mit dem Blick des Kritikers, nicht dem des Biographen. Gleichzeitig ist dies der Versuch, herauszufinden, warum seine Musik so viele Jahre nach seinem Tod nichts von ihrer Wirkung verloren hat.

Teil 1

Wer ist Willie Mays?

Am 13. Juli 1946 nahm John William Coltrane, ein Matrose zweiter Klasse, gemeinsam mit vier anderen Musikern aus den Reihen der Melody Masters acht Songs auf. Die Melody Masters waren eine große Navy-Kapelle, stationiert in Oahu, Hawaii. In Navy-Kapellen herrschte damals Rassentrennung, und diese war rein weiß.

Der stille Coltrane stammte aus einer sehr religiösen Methodistenfamilie. Seine beiden Großväter waren Prediger. Als Kind zeichnete er gern, und als Teenager bewunderte er Johnny Hodges, den Alt- und Sopransaxofonisten der Ellington-Band. Er wurde in Hamlet, North Carolina, geboren, zog dann im Alter von drei Jahren erst nach High Point (North Carolina) und später, nach seinem Abschluss an der William Penn High School, nach Philadelphia. Knapp zwei Monate vor seinem zwanzigsten Geburtstag luden ihn die vier Melody Masters ein, mit ihnen zu jammen.

Coltrane, eine schlanke Erscheinung mit runder Sonnenbrille, dessen hohe Afrofrisur an den Seiten abflachte, war kein hauptberufliches Mitglied einer Navy-Kapelle (kein Schwarzer war das), und den Melody Masters war es offiziell nicht gestattet, mit schwarzen Musikern zu spielen. Ohne Wissen ihrer Vorgesetzten machten sie also mit ihrem Gast private Aufnahmen, die sie schließlich auf eine 78er-Schallplatte pressten, von der sie vier Exemplare herstellen ließen.

Ein Stück aus dieser Amateursession war Tadd Damerons „Hot House“, ein Song, der später als eine der großen Kompositionen des frühen Bebop bekannt wurde.

„Hot House“ ist ein zweiunddreißigtaktiger Song, der sich zunächst der Akkordfolge des Standards „What Is This Thing Called Love“ bedient, bevor er sie auf intelligente Weise abändert. Die Seeleute geben sich alle Mühe, die Version von Dizzy Gillespie und Charlie Parker aus dem Vorjahr nachzuempfinden, der Navy-Trompeter spielt allerdings im Gegensatz zu Gillespie kein Solo.

Diese Aufgabe übernimmt Coltrane am Altsaxofon, der das einzige Solo spielt – ein hässliches, quietschendes, schlingerndes Ding. Vielleicht war das den Melody Masters aber ganz egal, denn Coltrane kannte schließlich Bird.

Einige Jazzmusiker haben mit neunzehn längst ihren Weg gefunden – Charlie Christian zum Beispiel, oder Johnny Griffin, Art Pepper, Clifford Brown, Sarah Vaughan. Nicht so John Coltrane. Er begann mit dreizehn zu spielen und lernte als Mitglied der Schulband in High Point zunächst Althorn und Klarinette. Mit vierzehn wechselte er zum Altsaxofon. Sein erstes eigenes Instrument war ein Altsaxofon, das ihm seine Mutter gekauft hatte, als die Familie nach Philadelphia zog. Er war damals sechzehn und ein glühender Verehrer von Johnny Hodges. An der Ornstein School of Music nahm er ein Jahr lang Unterricht in Theorie. Mit achtzehn begann er, in den Clubs von Philadelphia zu spielen, wo er mit Big Bands bei Tanzveranstaltungen oder mit einem Trio in Nachtclubs auftrat. Laut seinen Freunden und einigen der Bandleader, mit denen er zusammenarbeitete, war er ein vollkommen unauffälliger Musiker.

Am 5. Juni 1945 erlebte er Charlie Parker in Dizzy Gillespies Band zum ersten Mal auf der Bühne. Unter den Zuschauern waren auch seine Freunde Jimmy Heath und Benny Golson. Golson erinnerte sich: „John saß nur still da und ließ alles auf sich wirken. Im ganzen Saal standen die Leute auf, klatschten in die Hände und stampften mit den Füßen. Man muss sich vorstellen, wie das für einen Saxofonisten sein muss, wenn man diese Musik noch nie zuvor gehört hat.“ Nach dem Nachmittagskonzert begleiteten Coltrane und Golson ihren Helden zum Blue Note Club, wo Parker abends noch einen Auftritt hatte. Golson fragte, ob er Birds Saxofonkoffer tragen dürfe. Die drei gingen nebeneinander her: Golson rechts, Coltrane links, Bird in der Mitte. Golson, der gern und viel redete, fragte Bird, was für ein Instrument er spiele, was für ein Mundstück, welche Rohrblattstärke. Es war ein Anblick vollkommener Verehrung. Golson war das nicht peinlich, aber Coltrane offensichtlich schon. 1947 traf er Bird in Los Angeles wieder, als dieser gerade auf Tournee mit King Kolax war. Er erinnerte ihn nicht daran, dass sie sich in Philadelphia schon einmal begegnet waren.

Auf der Aufnahme von „Hot House“ in Oahu, die ein Jahr nach der Begegnung in Philadelphia entstand, beginnt Coltrane sein Solo damit, dass er die Melodie aus dem Mittelteil von „Night In Tunisia“ anklingen lässt, der beliebtesten Bebop-Platte des Jahrs 1945. Coltrane mag dabei noch die „Tunisia“-Version von Dizzie Gillespies Septett im Ohr gehabt haben, die man am 22. Februar 1946 für Victor eingespielt hatte. Vielleicht hatte er aber auch schon die bei Dial erschienene Version des Charlie-Parker-Septetts vom 28. März 1946 gehört.

Selbstverständlich können Musiker, die sich innerhalb der gebräuchlichen zweiunddreißigtaktigen Songstruktur bewegen, es hinkriegen, ein Solo mit einem Zitat aus einem Mittelteil beginnen. Das ist nicht unmöglich. Es ist nur sehr verzwickt. Der Beginn des Solos markiert den Anfang einer Reise, wohingegen der Mittelteil eben die Mitte darstellt – in der zweiunddreißigtaktigen Songstruktur ist das jener Teil, der auf den Hauptteil und dessen Wiederholung folgt und nun einen Kontrast zu diesem schafft. Coltrane spielt zu den Akkorden keine unpassenden Töne, doch die achttaktige Melodie des Mittelteils bringt ihn automatisch zu einem psychologischen Endpunkt, obwohl er immer noch vierundzwanzig Takte zu füllen hat. Er muss nun irgend etwas Neues aus dem Ärmel schütteln, mit dem er weitermachen kann. Es verwundert daher kaum, dass die zweiten acht Takte des zweiunddreißigtaktigen Solos zur Katastrophe werden. Im eigentlichen Mittelteil, also von Takt 17 bis 24, hat er sogar noch größere Schwierigkeiten. Erst in den letzten acht Takten gelingt es ihm mit Hilfe einer Charlie-Parker-Figur, einem kleinen Wirbelwind aus Sechzehnteln, wieder einigermaßen Fuß zu fassen. Zum Ruhmesblatt gerät das Solo jedoch nicht mehr.

Nach seiner Entlassung aus der Armee im August 1946 zog Coltrane zurück nach Philadelphia und tat das, was damals jeder Saxofonist tat, der etwas auf sich hielt: Er versuchte, den Stil von Charlie Parker zu studieren, des ungekrönten Königs der Solisten.

Zu dieser Zeit, als die Big Bands und die großen Tanzveranstaltungen langsam zu verschwinden begannen und kleinere Gruppen in den Vorder-grund rückten, waren gute Solisten sehr gefragt. Musiker wie Lester Young und natürlich Charlie Parker hatten einen wahren Solokult begründet. Für Parkers Gefolge wurde das Solo schließlich zur Königsdisziplin, die alles andere in den Schatten stellte. Selbst Parkers schlechteste Sololeistungen wurden zum Fetisch gemacht. Frühe Abhandlungen über Jazzsoli tauchten zwar in den Dreißigerjahren auf, doch die hagiographische Annäherung an das Jazzsolo begann eigentlich erst mit Elliot Grennard, einem Billboard-Autor, der Charlie Parkers berüchtigte Aufnahmesession im Juli 1946 miterlebte. Das war, als Parker gerade auf Heroinentzug war und ständig unter Muskelkrämpfen litt, die seinen Ton schlecht und ungenau machten, vor allem bei „Lover Man“. Grennard verfasste für die Zeitschrift Harper’s einen zur Kurzgeschichte ausgeschmückten Artikel über die „Lover Man“-Sessions mit dem Titel „Sparrow’s Last Jump“ (des Spatzen letzter Hüpfer). Er wurde 1948 veröffentlicht und mit einem O. Henry-Preis für Kurzprosa ausgezeichnet. Seitdem haben sich immer wieder morbide Bewunderer von „Lover Man“ gefunden. Ross Russells Buch Bird lebt! (Hannibal, 1985) – Russell war der Produzent, dessen Dial-Label die „Lover Man“-Sessions finanzierte

– faszinierte Dean Benedetti, einen Parker-Fan, so sehr, dass er mit einem tragbaren Tonbandgerät Clubkonzerte besuchte und ausschließlich Parkers Soli aufnahm und nichts von alledem, was zuvor oder danach passierte.

In Philadelphia spielte Coltrane unter anderem mit dem Pianisten Ray Bryant. Daneben ging er mit einer von Joe Webb geleiteten Band, der auch die Bluessängerin Big Maybelle angehörte, auf eine kurze Tournee. Von seinem Sold, den er beim Verlassen der Army bekam, finanzierte er an der Granoff School, einer örtlichen Musikschule, Unterricht, vor allem bei Dennis Sandole.

 

Sandole, der 2000 im Alter von siebenundachtzig Jahren starb, war ein ehemaliger Swinggitarrist, der seine eigene Musik irgendwann hintanstellte und hauptsächlich unterrichtete. Er konzentrierte sich dabei ganz auf Skalen, was bald auch Coltrane tat. Er verwendete recht exotische Skalen und entwarf auch eigene, doch alles in allem schnitt er seine Stunden auf den jeweiligen Schüler zu.

Coltrane arbeitete hart und legte sämtliche anderen Interessen ab. „Ich übte immer viel mit Trane“, sagte sein Freund Jimmy Heath, der damals selbst noch Altsaxofon spielte, bevor er sich auf dem Tenorsax einen Namen machte. Alle nannten ihn Jimmy. Coltrane nannte ihn Jim. Kein anderer tat das. „Er hatte oft nur seine Unterhosen an, weil es in diesen überhitzten Mietskasernen keine Klimaanlage gab. Er lebte bei seiner Mutter. Er übte und schwitzte, oh Mann. Er übte den ganzen Tag. Niemand, den ich damals kannte, übte so viel. Er übte all diese Sachen, die er schließlich perfektionierte: Melodien, harmonische Konzepte, die wir gemeinsam erlernten, Sachen, die wir für uns transkribiert hatten.“

Heath erinnert sich außerdem daran, dass Coltrane einmal so viel übte, dass sein Mundstück rot von Blut war.

Coltrane wohnte nicht weit entfernt vom Woodbine Club an der Straßenecke Zwölfte und Master im Norden von Philadelphia, einem bis spät in die Nacht geöffneten Schuppen, wo es regelmäßig zu Jamsessions kam. Unter den Musikern waren die Saxofonisten Heath, Jimmy Oliver und Bill Barron, der Trompeter Johnny Coles und Coltrane. Er arbeitete meistens im selben Stadtteil entlang der Columbia Avenue (die heute Cecil B. Moore Avenue heißt), wo es beinahe an jeder Ecke einen Club gab.

Heath hatte eine Transkription von Charlie Parkers Solo in „Don’t Blame Me“ ergattert. Die Transkription hatte Howard Johnson besorgt, der Pianist von Dizzy Gillespies Band. Sie lernten aus Quellen wie dieser und nutzten die Stadtbibliothek von Philadelphia, um sich klassische Musik anzuhören und so „harmonische Möglichkeiten“ auszuloten, wie Heath sagt. „Wir wussten, dass Bird die Noten der Feuervogel-Suite mit sich herum trug.“ Sie spielten Strawinskys Komposition aber nicht eins zu eins: „Wir zogen die Kadenzen heraus“, erinnerte er sich, „und krempelten sie um, damit sie in unseren eigenen Groove passten.“

Ein paar Jahre später erwähnte Heath einen Wurf, den Willie Mays am Tag zuvor in einem Baseballspiel gemacht hatte. Coltrane fragte: „Wer ist Willie Mays?“

Coltrane bekam bald mehr Arbeit. Er schloss sich King Kolax an, einem aus Chicago stammenden, populären Trompeter, Sänger und Bandleader, einem Vertreter des Jump-Blues-Stils.

Im Jazz gab es damals gewisse Schnittstellen wie Kolax, die weniger aufgrund ihrer eigenen musikalischen Errungenschaften von Bedeutung waren als wegen der Musiker, die sie einstellten. In seinen Anfangsjahren spielte Coltrane in vielen solcher Bands. King Kolax, den meisten Berichten zufolge eine mitreißende und lustige Bühnenpersönlichkeit, hinterließ keine nennens-werte Hinterlassenschaft. Die wichtigsten Aufnahmen, an denen er überhaupt teilnahm, stammen aus dem Jahr 1946, als er in Billy Eckstines Band gemeinsam mit Miles Davis und Hobart Dotson in einer vierköpfigen Bläsersektion spielte. Kolax übernahm dort kein einziges Solo. Bird hatte 1939 als Teenager in der Gruppe von Kolax gespielt – damals hatte Kolax eine der heißesten Bands von ganz Chicago. Einige Zeit später, 1941, war Gene Ammons der Altsaxofonist in der Band von Kolax. Johnny Griffin sah die Gruppe bei der Abschlussfeier seiner High School im Parkway Ballroom in Chicago, was ihn so nachhaltig beeindruckte, dass er beschloss, selbst Saxofon zu spielen. Coltrane war in den ersten Monaten des Jahres 1947 der nächste Musiker mit großer Zukunft, der mit Kolax unterwegs war.

Daneben trat Coltrane auch mit seinem Freund Jimmy Heath auf, der in Philadelphia seine eigene Band leitete, die gewissermaßen ein Abklatsch von dem war, was Gillespies Band neunzig Meilen weiter nördlich machte. Außerdem spielte er auch mit Eddie „Cleanhead“ Vinson, einem Bandleader, der Kolax in vielem ähnelte: Er trug scharfe Klamotten, sang, spielte Saxofon und sorgte für gute Unterhaltung.

Als er sich Vinsons Band für eine lange Reihe von Einzelengagements im Winter 1948/1949 anschloss, wandte sich Coltrane ernsthaft dem Tenorsaxofon zu. Vinson suchte jemanden, der wie Bird über Rhythm & Blues-Melodien improvisieren konnte. Das konnte Coltrane, aber der Posten sollte mit einem Tenor- und nicht mit einem Altspieler besetzt werden. Er ergriff die Chance. Und nun, da er ein anderes Instrument in Händen hielt, begann der gelehrige Schüler Coltrane nach dem großen Tenorspieler Ausschau zu halten, der ihm neue Wege auf dem Tenorsaxofon aufzeigen könnte, so wie es Bird auf dem Altsaxofon getan hatte.

Unter den üblichen Verdächtigen war damals Lester Young, der bei Count Basie mit seinen hübschen, leichten Melodielinien auf dem Tenorsaxofon bekannt geworden war. Außerdem gab es Ben Webster, der fette, weiche und runde Töne auf dem Tenor spielte und den Ton so weit zurücknehmen konnte, dass man nur noch ein flüchtiges Zischen hörte; wie kein anderer verstand er es, bei Balladen mit Timbre und Phrasierung umzugehen. Coltrane bewunderte auch Tab Smith, einen Meister des Tons, einen gefühlvollen Tenorspieler in der Tradition von Johnny Hodges.

Und dann war da noch Coleman Hawkins. Coltrane mochte die Arpeggien, die Hawkins spielte, seine Artikulation einer gesamten Skala, wo sich andere Musiker mit nur ein paar Tönen zufrieden gegeben hätten. Seine Vision von Musik war übergreifender, kaleidoskopischer als die der meisten anderen großen Solisten des Jazz: Anstatt seine Melodien mit einem spitzen Bleistift zu ziehen, verwendete er einen dicken Kugelschreiber. Er hatte einen kräftigen Atem, mit dem er all diese Töne, all diese Bezugspunkte zur Akkordstruktur lebendig und natürlich klingen lassen konnte.

Anfang der Sechzigerjahre fragte man Eddie Vinson nach Coltrane. „Ja, ja, der gute alte Coltrane war damals in meiner Band. Er wollte nie spielen. Also musste immer ich den ganzen Abend lang spielen. Ich fragte ihn dann: ,Mann, warum spielst du denn nicht?‘ Und er sagte: ,Ich will einfach nur dir beim Spielen zuhören …‘ Das war schon ein seltsamer Knabe. Er änderte seinen Stil fast alle sechs Monate.“ Ein Charakterzug: Coltrane mag anderen gegenüber zaghaft gewesen sein, offensichtlich jedoch nie gegenüber sich selbst.

Dann kam Coltranes Stunde. Dizzie Gillespies Pianist James Forman kannte ihn von Engagements in Philadelphia. Beide waren Mitglieder der Musikergewerkschaft. Forman empfahl Coltrane bei Gillespie, der Heath und auch Coltrane bat, sich seiner Big Band anzuschließen. Der Job begann im Oktober 1949.

In den Vierzigern war Bebop die neue Sprache eines auf dem Blues basierenden Modernismus. Bald verstand man darunter schnelle Tempi, asymmetrische Melodieführungen und von Igor Strawinsky, Claude Debussy und Béla Bartók inspirierte Harmonien. Der Bebop wurde Anfang der Vierziger in New York von Parker, Gillespie und den Musikern in deren Umfeld entwickelt und schlich sich mit der Zeit auch in die Musik der populären Big Bands ein. 1949 jedoch war allein der Gedanke an eine Big Band von Gillespie – und für alle jene, die damals über Jazz lasen, war dies gleichbedeutend mit einer Bebop-Big-Band – höchst problematisch. Erstens waren Big Bands etwas für Tänzer, und die Bebop-Tempi waren meist schneller und nicht so gut zum Tanzen geeignet. Zweitens erholte sich Amerika gerade von einer Kriegswirtschaft, die den großen, umherziehenden Big Bands mit der Rationierung von Benzin und Gummi und einem allgemeinen Anstieg der Transportkosten bereits arg zugesetzt hatte. Die Vorrangstellung dieser Bands innerhalb der nationalen Musikkultur nahm mehr und mehr ab. Den Beweis dafür lieferte die Musik selbst. Abgehackte, quirlige Bop-Melodien, dreitonige Bop-Harmonien und schnelle, kantige Bop-Rhythmen ließen sich allesamt besser von einer vier- oder fünfköpfigen Gruppe ausführen als von einem Orchester.

Gillespie hingegen, der gemeinsam mit Charlie Parker zum Synonym für die Bebop-Bewegung geworden war, hatte beim Erkennen solcher Schwierigkeiten einen Vorteil. Er kam aus der Band von Cab Calloway, die ein neues Image populär gemacht hatte: das einer kraftvollen, modernen Band, gepaart mit geistreicher Clownerie. Als Calloway sie 1947 auflöste, wollte er dieses Wissen übers Showgeschäft unbedingt anwenden. Weitaus wichtiger war jedoch, dass er dabei bereits an ein anderes Big-Band-Modell dachte: die Latin-Variante. Er war mit der Latino-Musik hauptsächlich durch seine Bekanntschaft mit dem Trompeter Mario Bauzá in Berührung gekommen, einem Bläserkollegen aus der Calloway-Band. 1942 spielte er kurzzeitig mit Machito’s Afro-Cubans zusammen und entdeckte nach und nach verschiedene Möglichkeiten, über den kubanischen Clave-Rhythmus Jazzimprovisationen zu legen.

Gillespies Orchester existierte von 1946 bis 1950. Er hatte die kleinen Plattenfirmen der ersten Bebop-Experimente hinter sich gelassen. RCA bezahlte nun seine Aufnahmen. 1947 spielte er mit dem Orchester „Manteca“ ein, eines der wichtigsten Jazzstücke aller Zeiten – und Ursprung des modernen Afro-Latin-Jazz. Zu dem Zeitpunkt jedoch, als Coltrane den Posten des Lead-Altsaxofonisten übernahm (die erste Stimme der Saxofongruppe, die feste, komponierte Melodien spielte), war das Ende bereits in Sicht. Die Engagements gingen zurück. Bis zum Ende des Jahrzehnts war das Orchester auf sechs oder sieben Mitglieder zusammengeschrumpft. Einige Auftritte dieser Band aus dem Jahr 1951 haben auf Raubkopien überlebt. Sie stellen die nächsten wichtigen Aufnahmen Coltranes seit der Aufnahme auf Oahu dar. Hie und da ist er als Solist zu hören, kraftvoll, wahrhaft und improvisierend. Er wird weder vom Donner einer Big Band hinweggefegt, noch lässt er sich bei einem Sänger-plus-Orchester-Job in den Hintergrund drängen. Seine Entwicklung als Musiker ist bemerkenswert. Und warum auch nicht? Immerhin sind fünf Jahre vergangen, für einen jungen Mann eine lange Zeit. Er hat Zugriff auf mehr Töne, doch die Logik seines Spiels ist immer noch wirr, immer noch chaotisch. Was aber hören wir 1951 schon von dem späteren, reifen Coltrane? Er schimmert zumindest an manchen Stellen durch. In den nächsten vier Jahren, bis er in die Band von Miles Davis einstieg, arbeitete er jedoch lediglich weiter an der Verfeinerung seiner Grundkenntnisse.

Coltrane spielte in Gillespies Big Band vermutlich nur selten Tenorsaxofon. Abseits der Bühne übte er aber wie ein Besessener auf dem größeren Blasinstrument und baute auf den Erfahrungen auf, die er in Vinsons Band gemacht hatte. Er verwendete Übungsskalen von Carl Czerny und Charles-Louis Hanon und übte verschiedene Arpeggio- und Intervallmuster, manche davon mit wechselnden Registern durch sämtliche Tonarten der westlichen Musik. Sie waren als Fingerübungen für Pianisten gedacht und nicht gerade das typische Übungsmaterial für einen Bläser.

Zur Zeit der 1951 entstandenen Aufnahmen hatte er einen eigenen Stil entwickelt, der in sich aber noch kaum schlüssig war. Er verband exotische Skalen und eine Rhythm & Blues-Rhetorik mit sturen, langgezogenen Tönen und den Anfängen eines wachsenden Interesses für die tiefen und hohen Lagen.

Das beste Solo der Bootlegaufnahmen mit Gillespie aus dem Jahr 1951 – es gibt aus dieser Zeit keine offiziellen Studioaufnahmen mit einem Solo von Coltrane – findet sich in Gillespies „A Night In Tunisia“ vom 6. Januar.

Wir wissen durch sein Zitat des Mittelteils in der 1946 entstandenen Oahu-Aufnahme von „Hot House“ bereits um Coltranes Verbindung zu „A Night In Tunisia“. Man kann annehmen, dass es ein Song war, den er regelmäßig zur Übung spielte; er mag sich daran gewöhnt haben, über seine Auf-und Abwärtsbewegungen zwischen den verschiedenen Mollakkorden zu improvisieren. Dieses „Tunisia“-Solo, ein Schema lang, hat seine Schwächen: Es quietscht, ist ein bisschen unentschlossen und manchmal unbeabsichtigt dissonant. Doch es hat Charakter. Es beginnt mit einem Break wie aus dem Bilderbuch: Plötzlich hören alle Musiker mit Ausnahme des Solisten auf zu spielen. Als Parker die Nummer fünf Jahr zuvor aufnahm, war sein Break vier Takte lang, in denen er einen Schwarm von Sechzehntelnoten um die Konzerttonart F kreisen ließ. Es ist ein berühmter Break, und in aller Regel spielt ihn niemand kürzer als vier Takte. Coltranes Break ist jedoch seltsamerweise nur zwei Takte lang und besteht aus längeren Tönen, die eine Harmonie erzeugen, die sofort in Richtung Moll tendiert. Wenn die Band einsetzt, heizt sich sein Swingfeeling auf, aber nur ganz allmählich. Insgesamt vermittelt dies ein Gefühl von Geduld, Ausdauer, wenn nicht gar von Dissoziation; von einer Ernsthaftigkeit, die beinahe unglaublich ist; als ahnte er, dass Band und Publikum auf die Offenbarung irgendeiner künstlerischen Wahrheit warteten. Es ist der Außenseiter, der ein offenes Feld betritt, wo die Angriffe von allen Seiten kommen können – er ist defensiv korrekt, langsam und vorsichtig.

 

Es ist ein Trancezustand, und zwar ein typisch amerikanisch-romantischer; eine Disposition, die außerhalb historischer Markierungen angesiedelt ist. Sie zieht das Starren dem Blinzeln vor. Johnny Cash, Clint Eastwood, Waylon Jennings waren in diesem Zustand, auch Tommy Duncan, der große Bariton des Western-Swing von Bob Wills & His Texas Playboys. Oder Walt Whitman, als er seine Gefühle in langen Zeilen nach außen kehrte, sich aber doch hinter Wiederholungen versteckte wie ein wirbelnder Derwisch in seinem Gewand. Auch Gertrude Stein lässt sich mit ihren Wiederholungen in einem knappen amerikanischen Rhythmus dazurechnen. (T. S. Eliot sagte einmal abfällig, ihr Stil biete „ein besonderes hypnotisches Muster, dem man bisher noch nicht begegnet ist; es ist mit dem Saxofon verwandt“.) Natty Bumpoo, der Held in James Fenimore Coopers Lederstrumpf-Erzählungen, hatte diese Einstellung, ebenso wie John Wayne als Ethan in Der schwarze Falke: Sie passten sich der Lebensweise der Indianer an und fanden einen eigenen Weg, um außerhalb der vorgeschriebenen Grenzen ihrer Rasse, Klasse oder ihres Status bestehen zu können.

Jazz fördert und hemmt diese Disposition gleichermaßen. Es ist Musik in einem sozialen und kommerziellen Kontext, verbunden mit harter Arbeit. Man spielt, um das Geld für die Miete zu verdienen. Der Clubbesitzer gibt einem eine feste Gage oder einen Teil der Eintrittseinnahmen, und wenn die Gäste während des Auftritts mehr trinken als sonst, wird man wieder gebucht. Man spielt in dem beengten Kontext einer Band, als Teil einer Instrumentengruppe oder als führender Solist und gibt dem Publikum möglichst das, was es will. Gleichzeitig improvisiert man und versucht, jenen Teil der eigenen Persönlichkeit ans Tageslicht zu bringen, der sich am deutlichsten von allen anderen unterscheidet.

„Was ich bei Diz nicht wusste, war, dass meine Aufgabe darin bestand, mich wirklich selbst auszudrücken“, erzählte Coltrane 1956 Ira Gitler, einem Reporter von Down Beat. „Ich spielte Klischees und versuchte angesagte Melodien zu lernen, damit ich mit den Typen spielen konnte, die sie spielten.“ Das ist nicht ganz zutreffend, wenn man sich das Solo von „Night in Tunisia“ ansieht, denn es weicht deutlich von der Norm ab. Jedoch darf man nicht vergessen, dass wir hier von John Coltrane reden – einem der wichtigsten Musiker des amerikanischen Jazz, der die Tradition begründete, nicht wie irgend jemand anders zu klingen. Zutreffend hingegen ist im Großen und Ganzen, dass er sich in der grundlegenden Wahl seiner Töne und Spielmuster letztlich an den großen Saxofonisten der Vierzigerjahre orientierte, die Charlie Parkers Sprache auf das Tenorsaxofon übertragen hatten: Dexter Gordon, Wardell Gray und Gene Ammons.

Diese Musiker verwendeten Parkers rhythmisches Feeling, gaben dem Ganzen jedoch eine rauere, erdigere Gestalt; es war leichter, ihnen zu folgen als Bird. Sie fanden den Weg zurück zur melodischen Sicherheit und Sensibilität für Balladen eines Lester Young und kamen dabei dem kunstvollen Hupkonzert von Illinois Jacquet sehr nahe, der für seine weltlichen Extreme bekannt wurde und seine Soli entweder wie Ziegelsteine von sich schleuderte oder als Küsse hinhauchte. Alle fanden ihr Publikum auf landesweiten Tourneen mit Big Bands, fernab vom intellektuellen Kern der New Yorker Bop-Szene. Sie entdeckten das tiefe Ende des Bebop – im wörtlichen Sinne der Tonhöhe wie auch im metaphorisch-gefühlsmäßigen Sinne (man könnte auch sagen: erdig, erdverbunden). Es ist kein Zufall, dass sie in der neuen Musik einen Dialekt entwickelten, der besonders das schwarze Publikum ansprach.

Im Herzen des Bebop, in seiner ersten Apotheose mit Charlie Parker (Altsaxofon), Bud Powell (Piano), Dizzy Gillespie (Trompete) und dem ersten Schwung Schlagzeuger (Kenny Clarke, Max Roach, Art Blakey, Stan Levey und Roy Haynes) bestand der Sound aus drei Hauptelementen. Diese waren das Ride-Becken, das den schnellen Rhythmus zum großen Teil trug (während die „Bomben“ der Basstrommel in unregelmäßigen Abständen abgeworfen wurden), die rechte Hand des Pianisten (Powell ließ die Einzeltöne fast immer wie Drachen in der Luft tanzen, mit gelegentlichen Sturzflügen in Form stechender Akkorde mit der linken Hand) und schließlich die hohen Register des Altsaxofons und der Trompete, die in ausgedehnten Improvisationen Vorstöße in Richtung neunter, elfter oder dreizehnter Stufe wagten. Parker hat seinen Moment der Erleuchtung in einem berühmten Interview einmal so beschrieben: „Ich entdeckte, dass ich genau das spielen konnte, was ich mir vorgestellt hatte, wenn ich die höheren Lagen eines Akkords als Melodielinie verwendete und sie mit entsprechenden Harmoniewechseln unterlegte. So erwachte ich zum Leben.“ Später erklärte er regelmäßig, sein Interesse für Debussy und Bartók, die solche Intervalle ebenfalls verwendeten, sei erst geweckt worden, als Gillespie ihre neue Sprache bereits für sie formuliert hatte.

Bebop war eine hochenergetische Musik, die nach vorn preschte, dann in der Mitte eines melodiösen Chorus plötzlich verstummte; sie war sich ihres eigenen Gewichts und ihrer Form voll und ganz bewusst. Sie besaß nicht die kommunikativen Qualitäten des Swing eines Lester Young und des großen Übervaters Coleman Hawkins, es sei denn, man bezieht sich auf eine Kommunikation unter dem Einfluss von Amphetaminen. Amphetamine waren ein ständiger Begleiter des Bebop, so wie der Gin das Stride Piano begleitete.

Dexter Gordon, die Schlüsselfigur in der Übergangsphase zwischen Charlie Parker und Coltrane, fügte dem Ganzen noch etwas anderes hinzu: einen Ausdruck, der sich der mittleren und tiefen Register bediente, sowie eine sichere, natürliche Spielweise, der ein etwas gleichförmigeres Achtelfeeling zugrunde lag. Es war das Gefühl, in seiner eigenen Geschwindigkeit zu gehen, anstatt zu rennen; auf das eigene Zeitgefühl zu hören, um Schritt halten zu können – selbst auf die Gefahr hin, lächerlich zu wirken.

Dexter Gordon lebte, wie die meisten jungen und gefragten Musiker, in New York. Ursprünglich jedoch stammte er aus Los Angeles, was den grundlegenden Unterschied im Temperament dieses Mannes erklärt. Los Angeles war damals noch der alte Westen, wo sich die Menschen langsam bewegten und langsam sprachen. Anfang der Vierziger verließ Gordon seine Heimat, um mit Lionel Hampton zu spielen, damals ein Patient seines Vaters, eines Arztes. So gelangte er in den Dunstkreis von Illinois Jacquet, des Star-Tenorsaxofonisten jener Band. Jacquet spielte das Solo auf Hamptons Hitplatte Flying Home von 1942, das zu seiner Erkennungsmelodie wurde. Über einem regulären Bluesschema gewann das Solo durch Jacquets anschwellende, maskuline Riffs an Fahrt und wurde so zum stilistischen Rohmaterial für alle Jazz-und Rhythm & Blues-Saxofonisten. Allerdings besaß Jacquets Spiel noch einen etwas volkstümlicheren Charakter: Es war bewusst antivirtuos gehalten. Sein Riffspiel wurde zur Grundlage eines neuen, urbanen Verständnisses von Jazz, zu einer Möglichkeit, Kneipenmusik und anspruchsvollere, intellektuelle Sachen miteinander zu verbinden. Es wurde herumgereicht: erst von Jacquet an Gordon, dann von Gordon an Coltrane.