Ab in die Rakete

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KAPITEL 4,
in dem Häppchen in einem Apfelsaftsee
schwimmen und Luis einen Auftrag annimmt

»Ferien im Haus Erlengrund?«, fragt der Mann erstaunt, der nicht James Bond, sondern Karl Radauke heißt. Luis soll ihn aber Karl nennen, denn unter Gentlemen spräche man sich immer mit Vornamen an. Er könne ihn auch ruhig duzen.

»Na ja, eigentlich … nicht richtig Ferien«, stammelt Luis und versucht, Karls Segelohren nicht zu sehr anzustarren. »Ich bin nur ein paar Tage da, weil meine Mutter …«

»Darf ich mal vorbei?« Eine Frau stößt energisch mit dem Rollator gegen Karls Krücke, die er so locker in der Hand hält wie einen Spazierstock. Es ist die Frau mit dem Blumenhaarreif, die vorhin beim Menschärgere-dich-nicht den Mitspielerinnen Anweisungen gegeben hat.

»Aber bitte schön, Frau Osterhas«, sagt Karl und tritt zur Seite. »Warum so eilig? Die Stullen laufen doch nicht weg.«

»Das sind Schnittchen, Herr Rabauke«, erwidert die Frau.

»Radauke, Frau Schneewittchen«, kontert Karl und grinst.

»Von wegen Schneewittchen«, zischt Frau Osterhas zurück, schiebt mit erhobenem Kopf an ihm vorbei und parkt ihren Rollator in der zweiten Reihe. Karl zwinkert Luis zu.

»Komm doch mit an meinen Tisch«, lädt Karl ihn ein. »Ich sitz da hinten eh allein. Mein Tischnachbar ist letzte Woche verstorben.«

»Oh«, sagt Luis und geht mit ihm zu seinem Tisch. Er setzt sich ihm gegenüber. Vor dem Fenster, mit der Sonne im Rücken, glühen die Ohren von Herrn Radauke so orange wie die Scheiben eines Hokkaidokürbises.

Alle Senioren sitzen nun an ihren Plätzen. Eine junge Küchenhilfe mit Haube und weißer Schürze teilt an den Tischen Tee aus. Die Kanne tropft, aber sie bemüht sich nicht, den Tee langsamer auszuschenken, sie lässt es einfach tropfen.

Karl trinkt ein Bier. Luis Apfelsaft. Leider ist der nicht schön kalt und riecht auch irgendwie muffig. Zu essen gibt es belegte Brote, zu denen Karl Stullen sagt und das Schneewittchen Schnittchen. Die Frau könnte wirklich die Uroma von Schneewittchen sein, mit ihren pechschwarz gefärbten Haaren und dem Haarreif.

Die Brote sind in mundgerechte Häppchen geschnitten und mit Gewürzgurke, Petersilie oder Radieschen garniert. Luis nimmt sich eins mit Leberwurst.

»Hau rein, vor morgen früh gibts nichts mehr«, sagt Karl. Er zwinkert Luis zu. »Aber nun möchte ich ja gern mal wissen, warum deine Mutter dich in ein Seniorenheim gibt. So alt siehst du doch noch gar nicht aus«, sagt er. Luis erklärt ihm seine Situation.

Karl kriegt große Augen, als er hört, dass Luis’ Mama Kapitänin ist. »Das wollte ich früher auch werden, Kapitän oder Pilot, hat aber beides nicht geklappt.«

»Und was sind Sie … äh … bist du geworden?«

»Ich war Schriftsetzer. Weißt du, was das ist?«

»Nö.«

»Früher musste man ja noch Buchstabe um Buchstabe mit der Hand in einem Bleisetzkasten zurechtrücken, um Zeitungen oder Bücher zu drucken. Genau das habe ich getan. War eine schöne Arbeit. Jeden Tag neue Geschichten. Für meine Traumberufe wäre ich eh zu schlecht in Mathe gewesen. Wie sieht es da bei dir aus?«

»Och, in Mathe bin ich ganz gut. Muss ich auch sein. Ich will nämlich Astronaut werden«, sagt Luis und nimmt sich noch ein Leberwursthäppchen mit Gurke. So was gibt es bei ihm zu Hause nicht. »Dafür muss ich vorher Pilot werden.«

»Flugzeugpilot?«, fragt Karl. »Warum denn?«

»Na ja, man muss erst Erfahrungen in der Luft sammeln, bevor man weiter ins All darf. Außerdem braucht man einen Beruf, um überhaupt Astronaut werden zu können. Aber ich will zwei haben, wie Alexander Gerst. Kennst du den?«

»Nee. Wer ist das denn?«

»Ein total cooler Astronaut. Der hat mal auf der ISS gearbeitet. Da möchte ich auch hin.«


»Wohin?«

»Auf die ISS – das ist eine internationale Forschungsstation im All. Die umkreist mit 28.000 Stundenkilometern die Erde. Stell dir mal vor, für eine Umrundung braucht die gerade mal 90 Minuten!«

»Ach du meine Güte, dann ist das gar kein Stern, der da immer an meinem Balkon vorbeiflitzt?«

Luis lacht. »Nee, Sterne flitzen nicht. Auf jeden Fall hat Alexander Gerst auch noch zwei Berufe außer Astronaut. Soll ich sagen?«

»Unbedingt«, sagt Karl.

»Geophysiker und Vulkanologe.«

»Donnerlittchen! Und was möchtest du außer Flugzeugpilot und Astronaut noch werden?«

»Arzt«, sagt Luis ohne zu zögern.

»Hals-Nasen-Ohren-Arzt?«, fragt Karl.

»Nee, Orthopäde.«

»Knochenarzt ist prima«, sagt Karl und beißt knackend in eine Gurke. Er betrachtet Luis eingehend. »Wirklich sehr beeindruckend, deine Zukunftspläne. Da soll noch einer sagen, die Jugend wisse nicht, was sie wolle.«

»Als Orthopäde werde ich dann eine Weile als Sportarzt arbeiten und eine Fußballmannschaft betreuen.«

»Gute Idee. Welche denn? Bayern München?«

»Nee. Dortmund.«

Karl strahlt und hält seine Hand über den Tisch. Luis schaut ihn verwundert an. Eine riesige Pranke.

»Ich dachte, wir klatschen uns jetzt ab«, sagt Karl und hält ihm die Hand immer noch hin. »Das macht ihr jungen Leute doch heutzutage. Das habe ich im Fernsehen gesehen.«

»Ach so«, sagt Luis und zeigt Karl, wie ein »High Five« geht. Dabei stößt er mit dem Ellenbogen gegen sein Glas, die Häppchen auf dem Teller schwimmen nun in einem Apfelsaftsee und der Saft tropft von der Tischdecke auf den Boden.

Das Schneewittchen schielt über ihre Brille. »Der Herr Radauke mal wieder. So ein Ferkel!«

»Öh«, sagt Luis. »Das war ich.«

»Jetzt auch noch das Kind vorschieben, ja, ja, das haben wir gern!«

Karl prustet los. Das Schneewittchen droht mit dem Zeigefinger. Da muss Karl noch mehr lachen. Die Küchenhilfe kommt und klatscht einen Lappen in den Apfelsaft, dass es spritzt. Anstatt die Pfütze aufzuwischen, verteilt sie sie nur. Nicht gerade geschickt.

»Lassen Sie mich mal machen«, sagt Karl und nimmt ihr den Lappen aus der Hand. Während er alles aufwischt, bringt das Mädchen frische Teller und neue Häppchen. »Sie ist nur eine Aushilfe«, sagt Karl. »Allerdings hilft sie schon eine Weile aus. Ist wohl jemand in der Küche länger krank. Zum Glück nicht die Köchin. Das ist die beste Frau im Haus. Hedwig Hummel. Die versteht ihr Handwerk. Aber der Apfelsaft schmeckt wie eingeschlafene Füße, stimmts? Nimm lieber nächstes Mal ein Bier«, sagt Karl und zwinkert ihm zu.

Ziemlich cool, der Karl, nicht nur weil er ihm Bier anbietet, sondern weil sie ganz normal zusammen reden. Das kann man ja nicht mit jedem Erwachsenen, obwohl Luis ja schon bemerkt hat, dass alte Leuten oft viel lockerer drauf sind, als halbalte Lehrer zum Beispiel. Oma Heike und ihre Heerschar von Freundinnen sind jedenfalls megalustig und stressen nie. Und sie lassen auch nicht ständig raushängen, dass sie alles besser wissen, obwohl sie bestimmt vieles besser wissen, weil sie schon so viel erlebt haben.

Die Sonne verschwindet um die Hausecke und Karls Ohren hören plötzlich auf zu leuchten, als hätte man innen das Licht ausgeknipst. Im Garten werfen die Bäume lange Schatten. Nachher wird es dunkel. Okay, das ist nicht gerade die neueste Erkenntnis, aber Luis übernachtet in diesem fremden Besucherzimmer, am Ende eines langen Flures, wo es nur das Schwesternzimmer, Toiletten und komische Kammern gibt, bei denen man nicht weiß, was sich in ihnen verbirgt. Nicht, dass er nicht nachts schon öfter allein geblieben ist, aber zu Hause haben sie ein Zusatzschloss an der Wohnungstür, das Mama abends zweimal abschließt. Hier, im Besucherzimmer hat er überhaupt keinen Schlüssel, mit dem er seine Tür abschließen könnte. Nicht, dass er Schiss vor Räubern hätte; er glaubt auch nicht mehr an Monster unterm Bett, aber seitdem er dieses krasse Video gesehen hat, das heimlich auf dem Schulhof weitergereicht wurde, in dem Untote ein Raumschiff entern und die gesamte Crew bei lebendigem Leib zerfetzen, kriegt er diese Space-Zombies nicht mehr aus dem Kopf. Sie tauchen einfach auf, besonders wenn er allein und an fremden Orten ist, und vor allem im Dunkeln. Sein Hals schnürt sich plötzlich zu. Er bekommt keinen Bissen mehr runter.

»Na, was grübelst du?«, fragt Karl. »Lernst du lateinische Vokabeln für die menschlichen Knochen? Sollen ja über 200 sein. Kennst du die alle schon?«

»Nee, ich weiß nur, dass das Schienbein Tibia heißt«, sagt Luis.

»Und das künstliche Hüftgelenk Endoprothese«, sagt Karl. »Ich hab nämlich schon zwei. Genau wie Benno.«

»Wer ist denn Benno?«

»Unser Bademeister«, sagt Karl und prostet Herrn Dollmann zu, der zwei Tische weiter sitzt, fröhlich vor sich hin spachtelt und nebenbei mit der Musiklehrerin schäkert. Ihm gegenüber sitzt Frau Weißbrot mit der schicken Dame, die mit den dick aufgemalten Augenbrauen, und daneben Frau Sperling. Sie schaut der schusseligen Küchenhilfe mit wackelndem Kopf hinterher. Frau Weißbrot starrt nur auf ihren Teller. Luis erzählt Karl, dass sie heute nach der Polizei gerufen hat.

»Sie behauptet, man habe ihre Perlenkette gestohlen.«

Karl nickt. »Hab ich gehört. Ich sags dir, hier ist immer was los!«

Luis hält sein neues Glas Apfelsaft fest, das ihm das Küchenmädchen, ohne einen Ton zu sagen, auf den Tisch gestellt hat.

»Aber ist die Frau nicht …« – Wie war noch mal das richtige Wort für plemplem? – »… dement?«

»Ja eben«, sagt Karl und schaut über ihn hinweg. Sieht aus, als grübelte er. Luis hört ihn dabei laut atmen. Ob Karl auch dement ist?

 

Karl kommt zurück mit seinem Blick und sieht ihn nachdenklich an. »Wenn ich so recht überlege, vermissen in letzter Zeit noch mehr Leute was.«

»Vielleicht gibt es einen Dieb im Haus«, platzt es aus Luis heraus. Karl guckt sich kurz um, beugt sich dann über den Tisch und sagt leise: »Wollen wir das mal unter die Lupe nehmen?«

»Wie meinst du das?«

»Na, wir zwei halten mal die Ohren offen.«

»Du und ich?« Luis schaut auf Karls Ohren.

»Ist ja sonst keiner hier, mit dem man Pferde stehlen könnte.«

»Was denn für Pferde?«, fragt Luis.

»Ach, das sagt man so.« Karls Augen funkeln ihn herausfordernd an. »Du bist doch klug, gewieft und mutig.«

»Öh.« Luis weiß gar nicht, was er sagen soll. – Klug, gewieft und mutig? Das hört sich ganz schön gut an. Er lächelt schüchtern.

»Na, bist du dabei?« Karl sieht nun gar nicht mehr wie ein Senior im Altenheim aus, eher wie ein Agent mit einem Auftrag.

In Luis’ Kopf schwirrt es. Aber besser ein Schwirren im Kopf als Muffensausen im Magen wegen der Space-Zombies, die bestimmt schon im Zimmer oben auf ihn lauern.

»Okay«, sagt Luis. »Eigentlich war ich auch schon mal Detektiv.«

»Dacht ichs mir doch«, sagt Karl und zieht eine Augenbraue hoch, genauso cool wie Sean Connery. Luis streckt seine Hand aus für ein »High Five«. Diesmal braucht Karl ein Weilchen, bis er kapiert, was Luis will, schlägt endlich ein, aber trifft die Hand nicht ganz. Der Apfelsaft kippt wieder um – erneut schütteln die Damen ringsum die Köpfe und eine genervte Küchenhilfe patscht ihren Lappen voll in die Apfelsaftpfütze.

KAPITEL 5,
in dem Luis technische Probleme löst
und es nachts poltern hört

Luis befindet sich im Nasenkonus der Rakete. Es ruckelt und schuckelt. Unter ihm spuckt das erste Triebwerk einen Feuerstrahl aus und erzeugt einen gewaltigen Schub nach oben. Er wird in die Lehne gepresst. Dann ruckelt es noch einmal und sein Spaceship bleibt stehen. Nanu? Luis drückt auf die Fernbedienung. Sie reagiert nicht mehr. Mist! Die Batterien sind leer, der Space-Sessel lässt sich nicht mehr bewegen. Erst jetzt bemerkt Luis, dass es beinahe dunkel ist im Zimmer, nur der Schein einer Laterne draußen vor seinem Fenster erhellt einen Teil der Zimmerdecke. Aus der Ferne der Ruf eines Käuzchens. Oder ist es der Schrei eines Untoten? Mit einem Senkrechtsatz springt Luis auf und sucht nach einem Lichtschalter. Aus dem Augenwinkel sieht er bereits, wie ein Krakenwesen lange Arme nach ihm ausstreckt. Er haut auf den Schalter. Der Krake entpuppt sich bei Licht als eine Deckenlampe mit langen Holzarmen. Unter so einem Teil kann er unmöglich schlafen! Luis versucht, das wuchtige Holzbett weiter an die Wand zu schieben, aber es knarrt nur, als würde es ihn auslachen. Sein Herz rast. Es nützt ihm gerade gar nichts, klug, gewieft und mutig zu sein. Er fährt herum, hat ihm da nicht gerade jemand mit fauligen Fingern auf die Schulter getippt? Mit einem Satz ist er an der Tür und reißt sie auf.

»Julia?«, ruft er in den Flur und kneift die Augen zusammen. Auf dem gleißend hell beleuchteten Gang ist niemand, im Schwesternzimmer auch nicht, nur die Tür von dieser komischen Kammer steht halb offen, klaffend, wie ein dunkles Maul.

»Julia?«


Plötzlich hört er ein Knatschen. Gummi auf Linoleum. Crocs im Anmarsch, die Rettung! Er atmet auf. Mariola biegt um die Ecke. Was trägt sie da vor sich her? Eine Bratpfanne?

»Hey, Luis, was machst du denn hier?«

Luis kann gar nicht so schnell antworten. Er war ja gerade noch im All, ist nur knapp Kraken und Zombies entkommen und nun auf dieser Kommandostation gelandet, wo es blaue Kittelwesen mit quietschenden Schuhen gibt.

»Meine Batterien sind leer«, sagt er.

»Was denn für Batterien?«, fragt Mariola und geht mit der Pfanne in die Kammer und macht Licht an. Luis kommt ein beißender Geruch entgegen. Er bleibt in der Tür stehen.

»Von der Fernbedienung für den Sessel«, sagt er und guckt mit einem Sicherheitsabstand zu, wie Mariola eine Klappe in einem Metallschrank aufzieht, die Pfanne reinschiebt und die Klappe wieder zumacht. Dann drückt sie einen Knopf und es rumort in der Maschine wie in einem Geschirrspüler. Ist aber keiner, das ist bei dem Geruch schon klar. Und das war auch keine Bratpfanne, sondern eine Bettpfanne, die einem unter den Hintern geschoben wird, wenn man nicht selber aufs Klo gehen kann. So eine hatte Luca auch, als er sich beim Fußballspielen das Schienbein gebrochen hatte und im Krankenhaus war. Da durfte er tagelang nur auf dem Rücken liegen mit hochgelagertem Bein, aus dem ein Metallgestell ragte, das direkt in seine Knochen geschraubt war. Luis durfte sich auch die Röntgenbilder angucken, auf denen er genau sehen konnte, wo der Bruch war und wie tief die Schrauben im Knochen steckten. Wobei Bruch auf Orthopädisch »Fraktur« heißt. Luca hatte eine Tibiafraktur. Zum Pinkeln bekam er eine Ente, so nannten die Schwestern im Krankenhaus eine abgeschrägte Flasche, in die man im Liegen pinkeln konnte.

»Macht Spaß. Willst du auch mal?«, hatte Luca ihm die Flasche angeboten, aber Luis musste gerade nicht.

»Im All pinkelt man in ein ähnliches Teil«, hatte er Luca erklärt. »In eine Art Trichter mit Schlauch, an dem eine Tüte befestigt ist, damit nichts daneben geht und durch die Rakete schwebt. Im All fällt ja nichts runter, wegen der Schwerelosigkeit.«

Luca kicherte. »Stell dir mal vor, man trifft nicht richtig und dann wabern gelbe Pfützen durch den Raum. Oder Kackwürste.«

»Das passiert aber nicht«, hatte Luis gesagt. »Das wird einem mit Unterdruck gleich vom Hintern abgesaugt und eingetütet. Und dann werden die Kacktüten von der gesamten Crew an Bord gelagert und irgendwann mit den alten Unterhosen, Stinkesocken und dem anderen Müll aus dem Raumschiff befördert, wo sie dann in der Erdatmosphäre verglühen.«

»Krass!«

»Aber der Urin wird recycelt, der wird zu Trinkwasser aufbereitet.«

»Echt jetzt?«

Luis nickte. »Schweiß auch.«

Luca verzog das Gesicht. »Mann, Alter, bist du dir wirklich sicher, dass du Astronaut werden willst? Werd doch lieber Profifußballer, so wie ich. Ich kann ab nächster Woche wieder normal auf Toilette gehen und muss auch keinen gefilterten Urin trinken!«

In der Besenkammer rumpelt und zischt es. Mariola steht neben der Fäkalienmaschine, zieht die Gummihandschuhe aus und desinfiziert sich die Hände. An der Wand stehen in einem Regal lauter saubere Bettpfannen, wie Kochtöpfe in einer Restaurantküche. Luis folgt Mariola ins Schwesternzimmer. Dort findet sie in einer Schublade Nachschub für die Fernbedienung.

Als Luis in sein Zimmer zurückkommt, wechselt er die Batterien und will sich gerade noch mal ins All katapultieren, da hört er es über sich rumpeln und poltern. Als hätte jemand etwas abgestellt. Dann knarrt der Boden. Schritte. Nanu? Über ihm ist doch gar keine Etage mehr, oder? Aber da läuft jemand entlang, eindeutig! Sein Herz fängt schon wieder an zu rasen.

Diesmal trifft er Julia im Schwesternzimmer. Sie hält ein Fläschchen vor ihrem Gesicht und zählt die Tropfen, die sie in einen kleinen, blauen Becher füllt.

»… 29, 30.« Sie setzt das Fläschchen ab. »Hey, Luis, noch wach?«

»Da sind Schritte über mir.«

»Über dir? Kann nicht sein. Auf dem Dachboden ist um diese Zeit sicher niemand mehr.«

»Aber ich habe es ganz deutlich gehört.«

»Das war bestimmt ein Marder. Die nisten sich gern auf Dachböden ein.« Sie schaut ihn an. »Ist dir unheimlich, da ganz allein in dem Zimmer?«

»Hm.« Er zuckt die Schultern.

»Du kannst deine Tür auflassen.«

»Nee. Ist schon okay.« Er ist ja kein kleines Kind mehr.

»Soll ich gleich noch ein bisschen mit rüberkommen?«, fragt Julia. »Ich hab meinen Pieper dabei.«

Über den Pieper hört sie, wer aus welchem Zimmer klingelt.

»Von mir aus«, sagt Luis und vermisst plötzlich Mama, die ihm abends Gute Nacht sagt. Oft quatschen sie dann noch eine Weile oder lesen sich gegenseitig was vor. Er hat ihr schon sein ganzes »Handbuch für Astronauten« vorgelesen. Da hat er auch die Information über den recycelten Urin her.

Wo Mama wohl jetzt gerade ist? Auf dem offenen Meer?

Vorhin hat er eine SMS bekommen, als sie auf dem Schiff angekommen ist. »Habe ein gutes Team, ein gutes Schiff. Gleich stechen wir in See. Pass auf, dass du keine Falten im Altenheim bekommst.« Darunter eine ganze Reihe fetter Smileys, die ihm rote Herzen zupusten. – Mütter eben …

Hoffentlich geht alles gut auf dem Schiff und Mama kann die Flüchtenden retten! Bislang hat sie es immer geschafft, die Menschen aus den überfüllten Schlauchbooten zu sich an Bord zu holen und sicher an Land zu bringen.

»Habs mir anders überlegt. Du brauchst nicht mehr mit rüberkommen, Julia«, sagt Luis. »Es ist nicht wirklich unheimlich hier. Nur ein bisschen – ungewohnt.«

Er ringt sich ein Lächeln ab, damit Julia beruhigt ist, und ärgert sich, dass er vorhin wieder auf die blöden Space-Zombies reingefallen ist, an die er eigentlich nicht mehr denken wollte, weil er ja weiß, dass es die gar nicht gibt. Aber manchmal tauchen sie trotzdem auf und hauchen ihm ihren verfaulten Atem in den Nacken. Allein von dem Gedanken bekommt er schon wieder Herzrasen.

»Bist du sicher?«, fragt Julia. Er nickt. »Aber Gute Nacht sagen darf ich noch?«

»Okay. Aber nur kurz.«

Am Morgen wird Luis von Stimmen, Topfgeklapper und quietschenden Crocs geweckt. Sonnenstrahlen fallen durch das Bullauge. Im ersten Moment weiß er gar nicht, wo er ist. Dann fällt es ihm ein. Er steht auf und geht aufs Klo. Waschen lässt er ausfallen. Als Astronaut im All muss man auch jeden Tropfen Wasser einsparen.

KAPITEL 6,
in dem von Mardern und Schlafwandlern
die Rede ist und ein Gespräch unter
Männern geführt wird

»Guten Morgen, Franz, das ist aber schön, dass ich dich treffe!« Frau Sperling wackelt Luis entgegen, der noch halb verschlafen den Weg zum Frühstücksraum sucht. Sie scheint ganz aufgeregt. »Ich hab die ganze Nacht kein Auge zugemacht«, sagt sie, greift nach seiner Hand und hält sie fest.

»Ich bin nicht der Franz«, sagt Luis. »Ich bin der Luis.«

Er versucht vorsichtig, seine Hand wegzuziehen, aber Frau Sperling hat sie fest im Griff und redet einfach weiter. »Da waren wieder die Schlafwandler unterwegs, letzte Nacht.«

Luis wird hellhörig. »Schlafwandler?«

Frau Sperling schaut ihn mit wackelndem Kopf an und drückt seine Hand noch fester. Dann lächelt sie ganz verzückt. »Ach, mein guter, lieber Franz, sei so nett und geh doch bitte in die Zentrale und frag mal nach, ob meine Ohrringe da abgegeben wurden. Die schönen blauen, die kann ich partout nicht finden. Komisch, vielleicht habe ich sie gestern abgenommen, als ich die Batterien von meinem Hörgerät ausgewechselt habe. Oder war es vorgestern?« Sie schaut ihn fragend an. Woher soll er das wissen? »Die Ohrringe habe ich zur Geburt meines Sohnes bekommen. Stell dir mal vor. Das ist nun auch schon 66 Jahre her … oder 68?« Beim Überlegen lässt sie Luis’ Hand locker – die Gelegenheit, sie ihr zu entziehen. Er steht nicht so auf Händchen halten, auch nicht mit alten Damen. »Aber es kommt mir vor, als wäre es erst gestern gewesen, als ich mit meinem Baby-Bündel auf dem Arm beim Juwelier Kalkrose saß und Richard, mein Mann, mir die Ohrringe schenkte.«


Luis’ Magen knurrt. Er wollte sich eigentlich gerade ein schönes Brötchen mit Marmelade einverleiben und dann mit Julia die Biege machen. Sie hat ja jetzt Feierabend oder, besser gesagt, Feiermorgen. Aber okay, dann geht er halt schnell runter in die »Zentrale«.

»Ich kann ja mal nachschauen«, sagt er und trottet los.

»Ach, Franz?« Er dreht sich um. »Wenn du schon unten bist, würdest du bitte meine Zeitung mitbringen?«

»Ja. Mach ich«, sagt Luis und wundert sich, dass er nun schon auf Franz hört.

Unten in der »Zentrale« – eigentlich das Empfangsbüro – ist die Sekretärin gerade am Telefonieren, aber Frau Boldemoor, die Heimleiterin, steht in der Tür, eine große Frau mit kurzen, braunen Haaren und grüner Brille. Sie redet gleich auf Luis ein, sagt, sie freue sich sehr, so einen jungen Gast beherbergen zu dürfen, und hoffe, dass er sich wohlfühle im Haus Erlengrund. Sie tut ja fast so, als wollte er hier einziehen. Als er endlich ein Wort dazwischenkriegt, fragt er nach Frau Sperlings Ohrringen. Frau Boldemoor schickt ihn weiter zur Sekretärin, die jetzt aufgehört hat zu telefonieren und ihn zu einem kleinen, weißen Schrank führt, in dem alle Fundsachen aufbewahrt werden: mehrere Haarspangen, ein Schlüsselanhänger, ein Pillendöschen, ein Lottoschein, Nasensalbe, eine halb volle Lakritztüte, einzelne Puzzleteile, eine Nagelfeile und zwei Würfel. Die Würfel, erklärt die Sekretärin, seien von den Mensch-ärgere-dich-nicht-Spielern.

 

»Die alten Herrschaften können sich ja nicht bücken und den Würfel aufheben, wenn ihnen einer vom Tisch fällt. Deswegen haben sie immer Ersatzwürfel griffbereit. Unsere Reinigungskraft sammelt die heruntergefallenen Würfel eigentlich jeden Morgen auf und legt sie im Wintergarten auf die Heizung, wo sie die Damen abholen. Ich weiß gar nicht, wie sie hier reingeraten sind. Zum Glück ist nicht der grüne Würfel dabei, sonst wäre wieder Chaos im Haus.«

»Wieso?«, fragt Luis.

»Weil der die meisten Sechsen würfelt.«

Luis entdeckt in der Schublade noch einen Liebesroman, ein gebügeltes Herrentaschentuch, Vitaminbonbons, ein Hörgerät und einen Kugelschreiber, auf dem sich eine Frau im Bikini räkelt. Wenn man den Kugelschreiber umdreht, verschwindet das Bikinioberteil. Krass! Aber die blauen Ohrringe von Frau Sperling sind nicht dabei.

»Die hat sie sicher nicht verloren, sondern nur verlegt«, sagt die Sekretärin. »Ich sage einer Schwester Bescheid, sie soll mal in ihrem Zimmer nachschauen. Ach, und könntest du bitte die Würfel mitnehmen und sie im Wintergarten auf die Heizung legen?«

Auf halbem Weg zurück, muss Luis noch mal umkehren, weil er die Zeitung für Frau Sperling vergessen hat.

»Was für eine Zeitung? Frau Sperling liest doch nur Liebesromane.«

Im Speisesaal sitzen die Senioren schon alle an ihren Tischen, dieselbe Sitzordnung wie gestern Abend. Karl winkt Luis, als er reinkommt.

Es riecht nach Kaffee und Kukident – diesen Brausetabletten für die dritten Zähne, die Opa Zwackel auch hat. Und nach Playboy-Deo, das aus seinem NASA-T-Shirt strömt.

»Na, wie war deine erste Nacht?«, fragt Karl. Er rührt in seiner Kaffeetasse und hat das Schneewittchen im Auge, die heute einen knallroten Haarreif in ihren pechschwarzen Haaren trägt. Sie redet mit zwei anderen Damen und tut so, als sehe sie Karl nicht, aber Luis bemerkt gleich, dass auch sie ihn im Auge hat. ›Was sich liebt, das neckt sich‹, denkt Luis und schmunzelt. Ist ja genau wie in der Schule hier.

Der Bademeister sitzt schräg hinter ihr und löffelt sich viel Marmelade auf sein Brötchen. Dann stopft er sich mit weit aufgerissenen Augen einen Riesenbissen in den Mund, wobei ihm ein dicker Flatsch Marmelade vom Brötchen rutscht und auf seiner Trainingsjacke landet. Gleiche Höhe wie gestern der Fleck auf seinem Hemd.

»Möchtest du Kakao?«

Eine große, füllige Frau in hellblauem Kittel und hellblauer Haube steht vor Luis. Sie sieht ihn freundlich an, nicht zu vergleichen mit der tollpatschigen Aushilfe von gestern Abend. Die Frau erinnert Luis an jemanden, er weiß bloß nicht, an wen. Fällt ihm auch partout nicht ein. Wird er jetzt auch schon dement? Luis zögert, eigentlich trinkt er morgens keinen Kakao.

»Nimm bloß nicht diesen Muckefuck«, sagt Karl.

»Muckefuck?« Luis lacht. »Was ist das denn?«

»Herr Radauke«, sagt die Küchenfrau streng, aber lächelt dabei. »Das ist kein Muckefuck. Das ist gut verträglicher Filterkaffee. Und Filterkaffee ist nichts für Kinder.« Sie wendet sich an Luis. »Oder trinkst du etwa schon Kaffee?«

»Nee«, sagt Luis. »Ist mir zu bitter.«

»Nicht dieser hier«, sagt Karl und rührt weiter. »Der schmeckt nach gar nichts, der ist so dünn, dass man auf den Grund schauen kann. Der reinste Muckefuck!«

»Sie haben doch keine Ahnung!«, mischt sich das Schneewittchen ein, als hätte sie nur auf ein Stichwort gewartet. »In Ihrem Westberlin hat es Ihnen an echtem Bohnenkaffee doch nie gemangelt, im Gegensatz zu uns in der DDR.«

Während Karl sich mit dem Schneewittchen über Muckefuck kabbelt und die Küchenfrau schon die Augen verdreht, bestellt Luis sich ein Glas kalte Milch. Dazu zwei Brötchen mit Himbeer- und Kirschmarmelade. Was das Kerosin für die Rakete ist, sind für ihn frische Schrippen mit Marmelade am Morgen. Draußen im Garten läuft der Hausmeister mit einer Leiter an der Fensterfront vorbei. Luis reckt den Kopf. Eine Topfpflanze verdeckt ihm die Sicht. Der wird doch wohl das Schwalbennest in Ruhe lassen?!

Am Nebentisch wird laut gelacht. Luis hat nicht mitgekriegt, worüber. Auf jeden Fall auf Karls Kosten. Der Hausmeister verschwindet mit der Leiter um die nächste Hausecke. Ein schlacksiger, junger Typ in grünem Hoodie latscht hinter ihm her und verschwindet ebenfalls.

Die nette Küchenfrau bringt Luis’ Frühstück. Sie hat rote Wangen, ein breites Lächeln und einen Dutt. Und jetzt fällt ihm wieder ein, an wen sie ihn erinnert: an eine Bäuerin aus einer Butter-Werbung.

»Das ist die Hedwig«, sagt Karl. »Die beste Frau im Haus.«

Das Schneewittchen wirft ihm einen spöttischen Blick von der Seite zu.

»Ich meine, in der Küche«, verbessert sich Karl und kriegt rote Ohren. Das Schneewittchen grinst triumphierend.

Luis schneidet sein Brötchen auf. Es ist außen knusprig und innen noch warm. Julia kommt an den Tisch. Sie ist schon umgezogen und möchte nach Hause. Ob er sein Brötchen nicht unterwegs essen könnte. Luis zögert. Mit Marmelade geht das nicht so gut. Außerdem wird er ungern beim Essen gestört.

»Bleib doch hier«, sagt Karl. »Du kannst es dir bei mir gemütlich machen. Ich habe eine Wohnung, im Südflügel, mit Balkon.«

»Das ist nett, Herr Radauke«, sagt Julia. »Aber …«

»Sie gehen nach Ihrer Nachtschicht sicher gleich schlafen, oder?«, fragt Karl.

»Oh ja.« Julia nickt. Sie hat rote, müde Augen.

»Dann wäre der Junge eh ganz allein.«

»Aber er kann doch nicht …«

»Natürlich kann er«, sagt Karl. »Wenn er will. Bei mir ist er gut aufgehoben. Wir zwei werden uns schon die Zeit vertreiben, was, mein Junge?« Karl zwinkert ihm verschwörerisch zu, als wolle er ihm unbedingt was sagen. Vielleicht etwas über die Schlafwandler?

»Ja, Julia, bitte. Ich möchte hierbleiben«, sagt Luis, ohne zu zögern. Was soll er bei Julia auch schon groß machen, wenn sie schläft? Sie hat ja nicht mal eine Playstation.

»Runter von der Leine!«, ruft Herr Dollmann quer durch den Speisesaal. »Diese verflixten Nichtschwimmer!«, schimpft er und schüttelt den Kopf.

Julia sieht Luis an. »Bist du sicher?«

»Doch, doch«, sagt er. »Ich bleib gern noch ein Weilchen hier«, und beißt in sein knuspriges Brötchen. »Ich bin ja kein Nichtschwimmer«, fügt er hinzu.

Karl grinst.

»Na gut«, sagt Julia. »Ich leg den Schlüssel in den Blumenkasten, hinter die rote Geranie. Dann kannst du kommen, wann du willst. Findest du den Weg?«

Julia wohnt in Neukölln. Das ist von Köpenick, wo das Seniorenheim ist, eine gute Dreiviertelstunde mit der S-Bahn.

»Kein Ding«, sagt Luis. Wenn Mama sonst während der Ferien wegmusste und es keine andere Möglichkeit gab, war er schon öfter bei Julia untergekommen. Aber da hatte sie noch nicht im Haus Erlengrund gearbeitet und war mit ihm in den Zoo gegangen oder ins Schwimmbad. In der Schulzeit kann er bei Luca oder Greta übernachten. Oder bei Papa, als er noch mit Papa gesprochen hat. Nun hat er ihn schon seit zwei Monaten nicht mehr gesehen und auch vorher nur kurz, weil Luis ihn und sein ganzes Getue nicht ertragen konnte. Und wenn er mal anruft, ist er nur am Gähnen. Wenn ihm so langweilig mit ihm ist, kann er auch ganz wegbleiben.

Kaum ist Julia gegangen, beugt sich Luis über den Tisch und raunt Karl zu: »Sag mal, hast du es heute Nacht auch poltern hören?«

»Nee. Wo denn?«

»Über mir.«

»Hm«, macht Karl. »Auf dem Dachboden. Guck mal einer an.« Er kneift ein Auge zu.

»Julia meint, da leben Marder. Und Frau Sperling hat vorhin gesagt, da wären Schlafwandler unterwegs gewesen.«

»Von wegen Schlafwandler und Marder«, murmelt Karl. »Das ist doch alles nur Theorie«, er hört endlich auf zu rühren und legt den Löffel weg. »Man sollte sich vielleicht mal praktisch drum kümmern.«

»Wie denn?«, fragt Luis. Karl zögert, weil Frau Osterhas den Kopf weit zurückgelehnt hat, als bemühte sie sich, jedes Wort zu verstehen. Aber das hier ist ein Gespräch unter Männern und nur für Luis’ und Karls Ohren bestimmt.

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