Ab in die Rakete

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Ab in die Rakete
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Für Emmi und Paula

Beate Dölling

Ab in die Rakete



INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Nachwort

KAPITEL 1,
in dem Luis ins Altenheim geht und für
einen Nichtschwimmer gehalten wird

»Haus Erlengrund« steht auf einem Messingschild an einer großen, hölzernen Eingangstür, die nur über einen Knopf an der Wand zu öffnen ist. Luis steht neben Julia, Mamas Busenfreundin, und drückt auf den Knopf. Die riesige Holztür surrt auf. Gleich hinter dem Eingang hängt ein Desinfektionsspender an der Wand. Damit soll er sich die Hände gründlich einreiben. Na gut. Das müssen Astronauten auch, damit sie keine Keime mit ins All nehmen.

Er geht mit Julia durch den Flur. Es riecht nach diesem Desinfektionsmittel und Brokkoli. An den Türen links und rechts hängen verschiedene Blumen- und Tierbilder mit Namensschildern.

»Runter von der Leine!«, ruft ein alter Mann, der ihnen entgegenkommt und genau auf sie zusteuert. Er hat eine Trillerpfeife im Mund und pfeift so laut, dass Luis zusammenfährt. Der Mann wedelt wild mit einem Arm in seine Richtung. Was hat der denn?

»Hallo, Herr Dollmann«, spricht Julia ihn an. »Das Schwimmbad ist doch schon geschlossen.«


Sie streckt die Hand aus. Der Mann zögert erst ein bisschen, rückt dann die Trillerpfeife raus. Er trägt eine grüne, an den Knien ausgebeulte Trainingshose und blaue Badelatschen. Das weiße Poloshirt hat in der Mitte einen dicken blau-roten Fleck. Kirsch- oder Brombeermarmelade – erkennt Luis sofort.

»Was macht denn der Nichtschwimmer hier?« Der Mann deutet mit dem Kinn auf ihn.

Julia lächelt nur und sagt: »Aber Herr Dollmann, Luis ist doch kein Nichtschwimmer.«

»So? Was hast du denn, einen Freischwimmer oder einen Fahrtenschwimmer?«, wendet sich der Mann an ihn.

Luis versteht gar nichts mehr. »Einen was?«, fragt er.

»Früher hießen die Schwimmabzeichen so«, sagt Julia. »Du hast doch eins, oder?«

»Ein Schwimmabzeichen? Ja, klar. Sogar Silber.«

»Und was musstest du dafür machen?«

Luis überlegt kurz. »400 Meter schwimmen, zehn Meter streckentauchen. Ohne Schwimmbrille! Im tiefen Becken Ringe hochholen, auch ohne Schwimmbrille! Und vom Dreimeterbrett springen.«

»Sehen Sie, Herr Dollmann, er hat sogar schon den Fahrtenschwimmer«, sagt Julia.

Der Mann nickt anerkennend und geht weiter.

»Warum wollte er denn wissen, ob ich ein Schwimmabzeichen habe?«, fragt Luis.

»Herr Dollmann war früher Bademeister. Er denkt halt manchmal, das sei hier sein Schwimmbad. Es gibt einige Senioren bei uns, die ein bisschen durcheinander sind. Aber pfeifen darf er nicht im Haus. Nur zu bestimmten Zeiten, hinten, im Garten.« Julia deutet auf die Trillerpfeife in ihrer Hand. »Hat er sich bestimmt wieder aus dem Schwesternzimmer stibitzt.«

Sie geht mit Luis in einen Raum, der ein bisschen aussieht wie ein Arztzimmer und ein bisschen wie eine Kommandozentrale in einem Raumschiff. Bis zur Decke weiße Schränke, auf den Ablagen liegen Tabellen, Tupfer, Pflaster und Pillenschachteln und vor der Fensterfront steht ein Schreibtisch mit zwei Monitoren und einem Mikrofon. Außerdem ein Kasten mit Knöpfen, die Nummern haben und von denen gerade zwei surren und orange blinken, die Sieben und die 34.

Eine große Frau in blauem Kittelkleid, lila Crocs und Pferdeschwanz kommt um die Ecke geflitzt, grüßt nur kurz und drückt auf die blinkenden Knöpfe mit der Sieben und der 34. Das orangefarbene Licht erlischt.

»Hey«, sagt sie zu Luis. »Ich bin Mariola. Willkommen an Bord.« Sie geht wieder raus und Luis sieht, wie sie sich auf dem Weg Gummihandschuhe anzieht.

»Was hat die denn vor?«

»Mariola geht in die Zimmer, in denen geklingelt wurde, erst in die Sieben und dann eine Etage höher, ins Zimmer 34.«

»Und was macht sie da?«

»Wahrscheinlich den Bewohnern auf die Toilette helfen.«

»Wieso können die nicht allein aufs Klo? Die sind doch alt genug.«

»Na ja«, sagt Julia. »Je älter man wird, desto mehr wird man zum Kind. Am Ende des Lebens werden wir alle wieder zu zahnlosen Babys.«

»Krass!«, sagt Luis, aber kann das nicht glauben. Er ist überzeugt davon, dass er mal als alter, weiser Mann sterben wird, doch nicht als Baby! Wann soll denn so eine Verwandlung, bitte schön, stattfinden? Will Julia ihn veräppeln? Er wartet noch, dass sie lacht, damit er es als Scherz abtun kann, aber sie lächelt nur und guckt ein bisschen wehmütig dabei. Wo ist er hier nur gelandet? Er wäre auch mit Greta auf den Ponyhof gefahren, wenn noch was frei gewesen wäre, obwohl er es mit Pferden nicht so hat. Die findet er nur in Filmen toll. Am liebsten wäre er zu Opa Zwackel nach Osnabrück gefahren, aber der ist mit einem Kumpel auf einer Motorradtour auf der Route 66, einer fast 4.000 Kilometer langen Straße, quer durch Amerika. Und Oma Heike, unter deren Küchentisch er früher Raumschiff gespielt hat, ist für sechs Wochen in Bueños Aires und macht einen Tangokurs. Blieb also nur noch Mamas Freundin Julia übrig, die als Fachschwester im Seniorenheim Haus Erlengrund arbeitet. Und weil Julia in dieser Woche Spät- oder Nachtschicht hat, muss er nun die nächsten Nächte hier verbringen. Und warum das alles? Weil Mama mal wieder dringend weg musste. Sie ist Kapitänin auf einem Seenotrettungsschiff im Mittelmeer und rettet flüchtende Menschen aus überfüllten Schlauchbooten vor dem Ertrinken. Dabei hatten Mama und er sich so einen tollen Ferienplan gemacht, mit Ausflügen in den Tierpark und ins Technische Museum, wo eine echte Raumkapsel steht und man sich genau angucken kann, wie ein Astronaut da drin wohnt. Luis will später unbedingt Astronaut werden und dann braucht er seine Unterhosen und Socken vier Wochen lang nicht zu wechseln, denn im All hat man keinen Platz dafür und die schmutzige Wäsche wird einfach in Kapseln getan und Richtung Erde geschickt, wo sie dann in der Atmosphäre verglüht.

Der Ferienplan war wirklich super, aber Leben retten geht nun mal vor. Und deswegen heißt es für Luis nun, Haus Erlengrund statt Kino, Technisches Museum, Tierpark oder Zelten am See.

»Ich müsste auch mal aufs Klo«, sagt Luis.

»Kannste das alleine?«, fragt Julia. Er schaut sie schockiert an. »Hey. Das war ein Scherz!«

Kaum kommt er aus der Toilette, schlurft eine Frau auf ihn zu, halb schräg auf ihren Stock gestützt. Ihr Kopf wackelt wie bei einem Wackeldackel.

»Guten Tag, Franz!«, sagt sie und lächelt ihn fröhlich an. »Machen wir heute einen Ausflug?«

Luis schaut sich um, wen sie meinen könnte. Außer ihm ist niemand auf dem Flur. Das Gesicht der Frau ist voller Falten, aber ihre blauen Augen sind klar und strahlen ihn an. Aus den silbrig schimmernden Haaren, die sie streng nach hinten gekämmt hat, hat sich eine Strähne gelöst.

»Bist du mit dem Wagen da oder fahren wir mit der Bahn?«

Zum Glück kommt Julia aus dem Schwesternzimmer. Sie trägt jetzt auch so einen Kittel wie ihre Kollegin Mariola und Gummischuhe.

»Hallo, Frau Sperling. Das ist Luis, der Sohn meiner Freundin. Er bleibt ein paar Tage bei uns.«

 

»Ach sieh mal einer an. Das ist ja eine schöne Überraschung«, sagt Frau Sperling und wackelt weiter mit dem Kopf. »Es ist noch Platz im Auto.« Sie lacht. Ihre Augen verschwinden dabei hinter den Falten.

Julia wirft Luis einen Blick zu. Aha, die Frau ist also auch plemplem, wie der Bademeister, nur ohne Trillerpfeife.

Julia wendet sich wieder Frau Sperling zu. »Wollten Sie nicht in den Garten? Frau Münnemann und Herr Lasani sitzen in der Rosenecke und kniffeln. Sie haben schon gefragt, wo Sie bleiben.«

»Kommt Franz denn auch?« Frau Sperling schaut suchend an Julia vorbei.

»Nein, heute nicht.«

»Ach, wie schade, wir wollten doch ins Grüne.«

»Wir sind doch schon im Grünen«, sagt Julia.

»Ach, wir sind schon da?« Die alte Dame strahlt wieder über das ganze Gesicht. Julia nickt.

»Na wunderbar!«, ruft Frau Sperling aus und betrachtet Luis, als stecke er in einem ultramodernen SpaceX-Raumfahrtanzug. Die alte Dame scheint ja mächtig durch den Wind zu sein. Kein Wunder, bei dem Kopfwackeln, da werden die Gedanken ja völlig durcheinandergeschüttelt. Frau Sperling reicht Luis die Hand. »Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen«, sagt Luis und zuckt leicht zusammen, überrascht von ihrem festen Händedruck.

»Wer ist denn Franz?«, fragt Luis, mit halb zerquetschter Hand, als er mit Julia zum Fahrstuhl geht. Sein Zimmer befindet sich im dritten Stock.

»Wissen wir auch nicht. Einige von unseren Bewohnern leben in ihrer eigenen Welt und da sollte man sie auch lassen, sonst verwirrt es sie nur.«

»Gibst du dem Bademeister dann seine Trillerpfeife wieder?«

»Ja, klar. Nach dem Abendessen darf Herr Dollmann noch mal in den Garten, pfeifen.«

»Cool«, sagt Luis.

»Du wirst schon sehen. Wir haben hier sehr interessante Leute wohnen. Natürlich gibt es auch ein paar Meckerpötte, aber die meisten sind ganz entzückend. Ich liebe meine Leutchen!«

Der Fahrstuhl ist da, die Türen öffnen sich. Bevor sie einsteigen, sieht Luis noch, wie gegenüber eine Zimmertür auffliegt und eine große Frau ihren Rollator singend auf den Flur schiebt. »Auf dem Mond, da blühen keine Rosen, auf dem Mond gibts keinen Mondenschein …«, trällert sie in den höchsten Tönen. »Darum fahr ich nicht hin, denn das hat keinen Sinn. Da gibts nur Wüste und Stein.«

»Frau Schönstedt, ehemalige Musiklehrerin«, raunt Julia ihm zu. Während Frau Schönstedt die letzte Strophe wiederholt, drückt Julia auf den Knopf mit der Drei, die Lifttüren schließen und der Fahrstuhl setzt sich ruckelnd in Bewegung.

KAPITEL 2,
in dem Luis ein Spaceship entdeckt
und eine Frau um Hilfe ruft

Luis wirft seinen Rucksack aufs Bett. Verrückt, nun ist er in einem Seniorenheim gelandet und muss die nächsten Tage mit Leuten verbringen, die seine Urgroßväter oder Urgroßmütter sein könnten. Was soll man mit solchen Tattergreisen schon anfangen? Immerhin ist das Haus cool, eine alte, verwinkelte Villa, mit Erkern und Türmchen und einem riesigen Garten mit prächtigen Bäumen, auf die man super klettern kann.

Hier oben, im Besucherzimmer, riecht es komisch – nicht nach Desinfektionsmittel und Essen, eher nach Staub und alten Socken. Er fischt sein Deo aus dem Rucksack, das er sich letzte Woche heimlich mit seinem Kumpel Luca gekauft hat. Ein Playboy-Deo, Duftnote: Play it wild. Er hat es in seinem Zimmer gut hinter dem Lego-ICE versteckt. Bei den alten Spielsachen findet Mama es sicher nicht.

Er zieht die Verschlusskappe ab und sprüht einen dicken Zickzack-Nebel durch den Raum. Jetzt riecht es schon besser. Und einmal zickzack über seine Brust. Wahnsinn, echter Männerduft.

Das Zimmer hat ein Bullauge, wie Mamas Kapitänskajüte auf den Rettungsschiffen. In der Mitte des Raums steht ein wuchtiges Doppelbett aus Holz mit dicken Federdecken. Julia hat vorhin gesagt, dass schon lange keiner mehr im Besucherzimmer übernachtet hat. Es ist eigentlich für die Angehörigen der alten Leute, die nicht in der Nähe wohnen, aber die übernachten lieber bei Freunden oder im Hotel.

Auf dem Tisch steht eine Schale mit Schokokeksen. Luis nimmt sich einen. »Das Glück des Augenblicks lässt sich nicht für später aufheben«, steht auf einem mit Blumen bestickten Deckchen, das an der Wand hängt. ›Schokoladenkekse lassen sich auch nicht für später aufheben‹, denkt er und nimmt sich noch einen. Luis lässt sich in den Sessel plumpsen. Dann entdeckt er eine Fernbedienung in einer Außentasche der Lehne. Er fischt sie heraus und drückt auf eine Pfeiltaste. Mit einem Ächzen und Surren setzt sich der Sessel in Bewegung. Es ruckelt und schuckelt; quietschend fährt ein Fußteil aus. Krass, ein echter Spaceship-Sessel!

Luis lehnt sich ins Polster und drückt auf einen anderen Pfeil. Das Fußteil wird wieder eingefahren, nun kippt die Sitzfläche nach vorn, wie eine Baggerschaufel beim Ausladen, die perfekte Aufstehhilfe. Aber Luis will noch gar nicht aufstehen, im Gegenteil. Er positioniert den Sessel wieder auf Normalhöhe und orgelt die Rückenlehne runter. Das dauert ewig und knarrt und knackt wie morsche Knochen. Dann verwandelt der Sessel sich in eine lange Liege. Wenn das Teil draußen stehen würde, könnte man mit einem Fernglas bequem die ISS beobachten, die mit einer Geschwindigkeit von 28.000 Stundenkilometern in 90 Minuten einmal die Erde umrundet. Sein Spaceship ist zwar nicht ganz so schnell, macht dafür aber witzige Verrenkungen. Gerade als er sich ächzend ins Cockpit emporschraubt, in dem er durch den Orbit düst, hört er eine Stimme von draußen.

»Hilfe! Hilfe! Polizei!«

Luis springt auf, läuft zum Fenster und öffnet das Bullauge.

»Hilfe! Polizei! Haltet den Dieb!«, hört er nun ganz deutlich eine Frauenstimme, sieht aber nur den Ex-Bademeister, der da hinten im Garten steht und eine Schnur auf den Rasen abspult.

Luis stellt sich auf die Zehenspitzen. Jetzt entdeckt er die Frau, die gerufen hat. Sie steht vornübergebeugt auf dem Kiesweg vor dem Haus, beide Hände auf einen Rollator gestützt. Der Bademeister ist weiterhin mit seiner Leine beschäftigt.

»Haltet den Dieb!«, ruft die Frau noch mal.


Herr Dollmann sieht nicht mal hoch. Ist der etwa taub? Aber auch die anderen zwei Omas, die auf der Bank vor dem Rosenbeet sitzen, reagieren nicht. Niemand kommt der alten Frau zu Hilfe. Das gibts doch nicht!

Luis düst aus dem Zimmer, den Flur entlang, der Fahrstuhl ist nicht da, also rennt er die Treppe runter, an der Küche vorbei, in den Garten, guckt sich dabei mehrmals um, ob er irgendwo eine flüchtende Person entdeckt, den Dieb, den er auf frischer Tat ertappen könnte, aber da sind nur extrem alte Leute und der Einzige, der rennt, ist er selbst.

Die Frau, die gerufen hat, steht noch immer da, sie zittert am ganzen Körper. Jetzt kommt Julia auf sie zu und beruhigt sie. Endlich!

»Man hat mich bestohlen!«, jammert die alte Dame. Sie hat hellgraues Haar und trägt ein wadenlanges, grünes Kleid. Ihre dünnen Beine stecken in braunen, knöchelhohen Schnürschuhen. Ein Schuh ist dicker als der andere.

»Es ist alles in Ordnung, Frau Weißbrot«, sagt Julia und streichelt ihr über den Arm.

»Polizei, Polizei«, wimmert die Frau mit dünner Stimme.

»Wollten Sie nicht in den Pavillon?«, fragt Julia. Frau Weißbrot steht mit hängenden Schultern da und sieht sehr hilflos aus.

»Sind Sie von der Polizei?«, fragt sie Luis.

»Nein, nein«, antwortet Julia für ihn. »Das ist der Luis. Der bleibt ein paar Tage bei uns.«

Die Frau mustert ihn eingehend. Luis weiß nicht, was er sagen soll. Hat sie ihn wirklich für einen Polizisten gehalten? Komisch, dass Julia gar nicht nachfragt, was eigentlich passiert ist. Stattdessen hakt sie die alte Dame unter, schlurft mit ihr über den gepflasterten Weg, zeigt auf die Rosenhecke und betont, wie wunderbar die Rosen heute duften. Die Masche kennt Luis, das ist das reinste Ablenkungsmanöver. Eindeutig, Julia will die Frau von dem Diebstahl ablenken. Warum?

Mariola kommt über den Rasen getrabt. Sie sieht aus wie eine Profifußballerin mit ihrem Pferdeschwanz und den muskulösen Waden. Mariola übernimmt Frau Weißbrot, redet fröhlich auf sie ein, schiebt sie am Goldfischteich vorbei Richtung Pavillon. Weiter hinten wickelt der Bademeister seelenruhig eine weitere Bahn blaue Wäscheleine von einem Holzstückchen ab und rückt die Schnur mit der Fußspitze im Gras zurecht. Gleich hat er sein Schwimmbecken beisammen.

»Frau Weißbrot bildet sich nur ein, man habe ihr den Schmuck gestohlen«, erklärt ihm Julia. »Sie ist dement.«

»Dement?«, fragt Luis.

»Ja. So nennt man das, wenn alte Menschen Sachen durcheinanderbringen oder in ihren Erinnerungen leben.«

»Wie der Bademeister?«

Julia nickt.

Krass! Nun kennt Luis schon drei Leute, die irgendwo in ihrem Leben stecken geblieben sind, wie in einem defekten Fahrstuhl: Frau Weißbrot, die denkt, sie würde beklaut, Herr Dollmann, der meint, er sei im Schwimmbad, und Frau Sperling, die einen Franz hat, den keiner kennt.

»Wie gesagt«, seufzt Julia. »So lange es ihnen gut geht, lassen wir sie in ihrer Welt.«

»Aber wenn man meint, dass man bestohlen wird, geht es einem doch nicht gut.«

»Frau Weißbrot meint das ja nicht immer, sie hat nur Schübe. Sie ruft andauernd nach irgendwas, manchmal sogar nach der Feuerwehr. Und dann hört man tagelang gar nichts von ihr.«

»Und wenn sie wirklich bestohlen worden ist?«

»Ach was«, sagt Julia. »Doch nicht im Haus Erlengrund. Das ist ein sehr angesehenes Seniorenheim.«

Im Teich schnappt ein Goldfisch nach Luft. In der Ferne sind Stimmen zu hören und das Klackern von Würfeln.

»Geh doch in den Pavillon, da gibt es einen Spieleschrank«, schlägt Julia ihm vor. »Gleich wenn du reinkommst, rechts. Vielleicht entdeckst du was Interessantes. Die Bewohner freuen sich total, wenn jemand mit ihnen spielt.«

»Wieso?«, fragt Luis. »Können die sich nicht selbst beschäftigen?«

Julia streicht ihm lächelnd über den Kopf. So was kann er überhaupt nicht leiden. Er zieht den Kopf weg. Dann schnuppert sie in seine Richtung. »Sag mal, bist du das, der hier so gut riecht?«

Luis spürt, wie er rot wird.

»Haargel?«

»Nee. Deo.«

»Cool«, sagt Julia, aber er sieht, dass sie die Nase rümpft. Zum Glück fragt sie nicht, welche Marke. Sie schaut auf ihre Armbanduhr. »Ich muss jetzt wieder rein. In einer halben Stunde teilen wir das Essen aus. Die Bettlägerigen auf der zweiten Station bekommen es aufs Zimmer, die anderen treffen sich unten im Speisesaal.« Dann rauscht Julia ab.

KAPITEL 3,
in dem Luis zum Retter wird
und einen James-Bond-Opa trifft

In den Hortensienbüschen brummen Hummeln. Durch den großen Garten schleichen die Senioren. Manche haben Besuch von ihren Kindern, die auch schon Senioren sind. ›Echt, alle alt hier‹, denkt Luis. Okay, dann geht er mal die Lage checken. Das macht Mama auch immer als Erstes, wenn sie irgendwo neu ankommt: checken, was los ist und dann eingreifen und retten. Er würde ja auch gern mal jemanden retten, aber hier ist niemand in Seenot, hier kriegen sie ja sogar das Essen ans Bett. Aber was ist mit der Hilfe rufenden Frau?

Luis geht an einer Laube vorbei, sagt »Hallo« zu zwei Opas, die dort am Tisch sitzen und rauchen, und geht einmal durch den riesigen Garten, der schon ein halber Park ist, mit vielen Wegen, Bänken und Büschen. Eine Außenwand von Haus Erlengrund ist mit Efeu überwachsen und hat sogar eine Feuertreppe, die sich im Zickzack bis unters Dach erstreckt.

Durch die Küchenfenster sieht er eine Frau mit einem riesigen Schneebesen in einem großen Topf herumrühren. Es riecht nach Pudding. Weiter hinten steht ein Mann und bestreicht Brote mit Margarine. Okay, nichts Verdächtiges, dann checkt Luis mal, was in diesem Pavillon los ist. Der Pavillon ist ein Anbau mit Glaswänden und Gardinen. Drinnen sitzen verteilt mehrere Leute herum, die lesen, reden oder tagträumen. Am vorderen Teil eines langen Tisches spielen drei Damen Mensch-ärgere-dich-nicht. Eine Frau mit schulterlangen, schwarzen Haaren und blumigem Haarreif, hockt halb auf ihrem Rollator zwischen den Spielenden, guckt ihnen über die Schulter und gibt Anweisungen.

»Nee, nee, Frau Buttermann, Sie können Frau Münnemann nicht schmeißen. Sie müssen erst ihr Startfeld frei machen.«

 

Eine kleine Frau mit schneeweißen Locken fragt: »Hab ich Rrrrot?« Sie rollt das »R« sehr stark.

Gerade als Luis den Spieleschrank öffnen will, kommt Mariola, die Fußballerin, und fragt, ob er sich schon bekannt gemacht habe. Luis zuckt die Schultern. Was glaubt sie, dass er reinkommt und gleich seinen Namen durch die Gegend posaunt? Aber genau das macht jetzt Mariola. Die alten Leute, die noch ihren Kopf drehen können, sehen ihn an und gucken ganz entzückt.

»Ach, wie hübsch!«, sagt eine elegante Dame mit dick aufgemalten Augenbrauen, die neben einem Zeitung lesenden Mann im Rollstuhl am anderen Ende vom Spieltisch sitzt und Kreuzworträtsel löst. Der Zeitungsleser schaut nur kurz über den Zeitungsrand und liest dann weiter. Er hat einen so dicken Bauch, als hätte er einen Wasserball verschluckt.

»Kommt jetzt endlich die Polizei?«, fragt Frau Weißbrot, die ganz allein in der Mitte des langen Tisches sitzt.

»Was ist los?«, will der dicke Mann wissen. Die elegante Dame neben ihm schreit ihm ins Ohr, was Frau Weißbrot gesagt hat.

»Polizei? So weit kommts noch«, nuschelt der Mann über seine Zeitung hinweg und tippt sich an die Stirn.

»Schwester, man hat mich bestohlen«, fängt Frau Weißbrot wieder an.

Mariola beugt sich zu ihr und redet genauso auf sie ein, wie Julia das vorhin getan hat, anstatt sie zu fragen, was los ist. Das macht Luis ganz nervös. Ob er sich da mal hinterklemmen soll? Schließlich hatte er vor nicht allzu langer Zeit ein eigenes Detektivbüro, mit Luca und Greta, und Papa hatte ihnen sogar Visitenkarten gedruckt. Papa. Zu dem hätte er auch gehen können. Aber dann zehnmal lieber Altenheim!

Kaum ist Mariola in einem Nebenraum verschwunden, ruft die alte Frau ganz aufgeregt: »Hilfe! Da liegt ja ein Vögelchen. Sieht das denn niemand?« Sie zeigt zitternd durchs Fenster.

Der Dicke im Rollstuhl brummt: »Die hat ja selber einen Vogel.« Die Mensch-ärgere-dich-nicht-Liga kichert. Aber da sieht Luis ihn auch, den kleinen Vogel, der draußen im Blumenbeet liegt und ganz verstört um sich blickt.

Frau Weißbrot ist bereits aufgestanden und schlurft zur Tür. Luis ist schneller draußen als sie. Halb schräg liegt der Vogel auf der Erde, auf einen Flügel gestützt. Sein nackter Bauch schimmert rosa und ist voller Falten.

»Och, ein Vogelbaby«, sagt Frau Weißbrot, die nun ganz außer Atem neben Luis steht. »Hoffentlich hat es sich nichts gebrochen.«

Über Luis piepst es. Er schaut hoch. Zwischen Wand und Holzbalken klebt ein Schwalbennest. Drei kleine schwarze Köpfe ziehen sich schnell zurück in die Nesthöhle, wahrscheinlich seine Geschwister. Vielleicht haben sie zu wild gespielt und einer ist dabei aus dem Nest gefallen.

Ein paar weitere Senioren haben sich nun um die Unfallstelle geschart. Das Vogeljunge guckt sie mit großen Augen an.

»Wir müssen es zurück ins Nest tun«, sagt Frau Weißbrot.

»Bloß nicht anfassen!«, ruft Frau Sperling, die Wackeldame, die sich energisch mit dem Stock nach vorn durchdrängelt. »Die Mutter nimmt es nicht mehr an, wenn es nach Mensch riecht.« Sie schaut vornübergebeugt auf das Vogelbaby und wackelt heftig mit dem Kopf.

»Ach was«, ruft einer der rauchenden Opas. »Das ist nur bei Rehkitzen so. Die darf man nicht anfassen.«

»Was wissen Sie denn schon!«, entgegnet Frau Sperling und ruft in die Runde: »Wir brauchen Handschuhe und eine Leiter.«

»Da kommt ja schon der Schulz«, sagt Frau Weißbrot und deutet auf den Mann im grauen Kittel, der über den Rasen stiefelt. Sieht original aus wie ein Hausmeister. Er nähert sich gemächlich der Unfallstelle.

»Verdammt und zugenäht«, schimpft er. »Da hab ich doch glatt ein Nest übersehen.« Der Mann kratzt sich an seinem unrasierten Kinn. »Die kacken hier alles voll.«

»Aber Herr Schulz, das sind doch Schwalben!«, sagt Frau Weißbrot.

»Singvögel!«, sagt die Musiklehrerin.

»Dann sollen die woanders singen«, knurrt der Hausmeister und dreht sich um. »Also, meine Herrschaften, alle ins Haus, ich kümmere mich darum!«

»Was wollen Sie denn tun?«, fragt Frau Weißbrot entsetzt.

»Ich hole eine Schaufel und erledige das Problem.« Er deutet mit dem Kinn auf das Vogeljunge am Boden.

»Unterstehen Sie sich!« Die Wackeldame macht einen Schritt auf ihn zu und stampft entschlossen mit ihrem Gehstock auf. Ihr Kopf wackelt heftiger als zuvor. »Der Vogel kommt zurück ins Nest! Aber sofort!«, befiehlt sie dem Hausmeister mit festem Ton, mindestens so fest wie ihr Händedruck vorhin. »Los! Holen Sie eine Leiter! Und du, Franz …«, sie wendet sich wackelnd an Luis und sagt mit weicher Stimme, »… sei so lieb und geh in mein Zimmer, Parterre, Nummer zwei, die Tür mit den Glockenblumen. In der Kommode, erste Schublade links, liegen meine Handschuhe.«

»Du bist der Franz?«, fragt der Hausmeister und sieht Luis mit vor Erstaunen geweiteten Augen an.

»Ich bin der Luis«, sagt Luis.


»Nun wird aber nicht mehr getrödelt!«, ruft Frau Sperling und pocht noch mal fest mit dem Stock auf. »Hopp, hopp!«

Der Hausmeister guckt grimmig in die Runde. Die Senioren gucken grimmig zurück. Alle wollen den Vogel retten, auch der Rest der Mensch-ärgere-dich-nicht-Liga hat sich nun ebenfalls mit Rollatoren versammelt. Nur die kleine Frau mit den weißen Locken, die das »R« rollt, ist ohne Gehhilfe noch sehr gut zu Fuß. Sie steht da, mit zusammengepressten Lippen und vorgerecktem Kinn, und lächelt den Vogel an.

Der Hausmeister schüttelt den Kopf und knurrt vor sich hin: »Da haben die zwei Weltkriege überlebt und machen so ein Theater wegen einem Vogel.«

›Was für ein blöder Spruch‹, denkt Luis und läuft los, die Handschuhe holen. Kurz nach Luis kommt auch der Hausmeister mit der Leiter wieder zur Unfallstelle. Zum Glück ohne Schaufel. Mürrisch stellt Herr Schulz die Leiter im Beet ab und streckt die Hand vor Luis aus.

»Na gib schon her!« Er deutet auf die hellblauen Stoffhandschuhe, die Luis in der Hand hält.

»Unterstehen Sie sich!«, drängt Frau Sperling sich dazwischen und hebt drohend ihren Stock. »Franz soll den Piepmatz ins Nest tun.«

»Luis«, sagt Luis.

Der Hausmeister verdreht die Augen und seufzt. Luis zieht die Handschuhe an und hebt vorsichtig das Vogelbaby auf. Es piepst und zittert am ganzen Leib und versucht, ihn mit dem kleinen Schnabel in den Finger zu picken.

»Ist ja schon gut«, beruhigt er die kleine Schwalbe und steigt die Leiter hoch. Alle Augen sind auf ihn gerichtet. Die Senioren fiebern bei jeder Sprosse, die er hochsteigt, mit, als würde er den Mount Everest erklimmen.

»Was für ein Aufwand«, brummt der Hausmeister.

»Halten Sie lieber die Leiter fest«, pfeift Frau Sperling ihn an. »Damit Sie auch mal was Nützliches tun.«

Luis steht nun auf der obersten Sprosse und schiebt den Vogel vorsichtig ins Nest zurück. Sofort ertönt ein lautes Piepsen. Kleine Flaumfedern wirbeln heraus. Was für eine Begrüßung! Da freuen sich die Geschwister aber, dass er wieder da ist.

»So, ist nun gut?« Der Hausmeister guckt zu ihm hoch.

Luis wartet noch einen Moment, bis es ruhiger wird im Nest. Dann klettert er die Leiter runter.

Die alten Leute klatschen, jubeln ihm zu. Er kommt sich vor wie ein echter Retter, auch wenn er nur einen kleinen Vogel nach Hause gebracht hat. Luis sonnt sich noch ein bisschen in den Bravo-Rufen, dann hört man eine Stimme: »Abendbrot!«

Die Bewohner recken die Köpfe und begeben sich unverzüglich auf den Weg zum Speisesaal. Von allen Seiten kommen sie, die meisten mit ihren Gehhilfen. Vor der Tür werden die Rollatoren ordentlich in Zweierreihen geparkt. Alle haben was anderes in ihrem Körbchen: Zeitschriften, Häkelzeug, Strickjacken; in einem sitzt ein Plüschpinguin, in einem anderen Korb liegt das Mensch-ärgere-dich-nicht-Spiel. Zwei Betreuerinnen begleiten die Senioren vom Parkplatz bis an den Tisch. Julia kommt mit einem Mann im Rollstuhl angeschoben. Es ist der dicke Mann, der mit dem verschluckten Wasserball. Er meckert, weil er lieber selber fahren will.

»Das glaube ich Ihnen gern, Herr Klabowski«, sagt Julia und lacht auf. »Aber hier wird nicht gerast.« Sie schiebt ihn in den Speisesaal. »Du kannst natürlich mitessen!«, ruft sie Luis zu.

»Was gibts denn?«

»Abends immer Stulle«, mischt sich ein Herr ein, der gerade um die Ecke kommt und Luis verschmitzt anschaut. Er ist groß und hat einen weißen, spitz zulaufenden Bart, dunkle Augen, buschige Brauen und riesige, abstehende Ohren. Solche Segelohren hat Luis ja noch nie gesehen. So verschmitzt leuchtende Augen auch nicht – oder doch! Jetzt fällt es ihm wieder ein, dieser steinalte James-Bond-Darsteller, den Oma Heike so toll findet, der konnte auch so verschmitzt gucken. Sean Connery. Luis starrt den stattlichen Mann vor sich an. Die Ohren sind echt riesig, fast so groß wie die des GuRie, dem guten Riesen aus dem Buch »Sophiechen und der Riese«, mit dem er und Mama früher so einen Mordsspaß hatten.