Donaumelodien - Totentaufe

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»Jessas, Lucie, was für ein Name! Was ist aus einer schönen Adelheid geworden? Einer anmutigen Brunhild?«

Hieronymus klopfte seinem Freund auf die Schulter. »Die sind alle im Mittelalter geblieben und lassen dich herzlich grüßen. Bis später.«

»Ja, bis später«, sagte Franz, in Gedanken längst woanders. Er fuhr fort, mehr zu sich selbst. »Nun heißt es, mit Bedacht vorgehen, sonst gibt’s noch ein Bahöl. Mir deucht, die Männer sind nicht hier, um sich an irgendetwas aus ihrem Leben zu erinnern. Die Männer sind hier, um alles zu vergessen.«

8 Kerl.

9 Säufer.

10 Schubkarren.

VI

»Herr Hieronymus!« Anna Rebiczek empfing ihren Gast wie einen alten Freund, den sie lange nicht mehr gesehen hatte. »Kommen S’ bitte herein.«

Der Fotograf nahm den Hut vom Kopf, packte die Griffe beider Koffer, in die er seine Ausrüstung verstaut hatte, und betrat die Wohnung, die ob ihrer Größe wie ein Palais wirkte. Die Kassettendecken waren mit allegorischen Bildern bemalt, die Wände mit edlen gemusterten Stoffen bezogen. Auf sämtlichen Kommoden, Tischchen und Regalen tummelten sich Plastiken aus Bronze und Keramik in Form von Pferden, stehend, liegend, zum Sprung ansetzend. Selbst die vielen silbernen Etageren waren bis auf das letzte Fleckchen mit Pferdefiguren dekoriert – oder vollgestopft, kam Hieronymus in den Sinn.

»Ich liebe Pferde«, erklärte sich Anna mit leicht verlegenem Lächeln, wohl um Hieronymus’ noch nicht gestellter Frage zuvorzukommen.

»Anmutige Wesen«, konstatierte dieser und verkniff sich ein »und wohlschmeckend«, während er an den Pepihacker11 dachte, bei dem er so gerne Pferdewurst einkaufte.

»Mein Gemahl teilt meine Leidenschaft zwar nicht, aber er lässt mich gewähren.«

»Ein wohlfeiler Gemahl, den Sie haben.«

»Ich weiß.« Anna lächelte, diesmal jedoch selbstbewusst. »Da Sie gekommen sind, gehe ich davon aus, dass Sie eine Lösung für mein Ansinnen gefunden haben. Wenn Sie mir bitte folgen wollen, ich habe schon alles vorbereiten lassen.«

Die Dame des Hauses führte von einem Salon in den nächsten, wobei jeder zumindest ebenso mit Pferdefiguren vollgestellt war wie der davor. Nach einem mondänen Arbeitszimmer erreichten sie schließlich einen Wohnsalon, wo auf einer Chaiselongue bereits Lucie wartete, ein Kindermädchen neben sich. Das Kind quietschte vor Freude, als es die Mutter erblickte.

»Danke, Helene«, sagte diese zu dem Kindermädchen, das sich mit einem Knicks verabschiedete.

Anna setzte sich auf das mit hellrotem Blumenmuster überzogene Möbelstück und hob ihre Tochter auf den Schoß. »Nun spannen Sie mich nicht weiter auf die Folter, Herr Hieronymus! Was ist Ihnen eingefallen? Wie wollen Sie Lucie ablichten, ohne dass ich zu sehen bin, und so, dass sie trotzdem ruhig genug hält, damit die Belichtungszeit ausreicht für eine scharfe Aufnahme?«

»Sie haben sich informiert, wie ich sehe.«

Anna wurde ernst. »Notgedrungenerweise. Sie glauben ja nicht, was man sonst für abenteuerliche Lügenmärchen aufgetischt bekommt.«

»Gut.« Hieronymus stellte die beiden Koffer auf den Perserteppich und setzte sich auf einen von ihnen. »Ich gestehe, die gestellte Aufgabe ist ebenso herausfordernd wie diffizil. Denn sämtliche Lösungsansätze bedingen eine Mutter, die das Kind zumindest berührt, wie gut auch immer man sie zu verstecken versteht. Doch heute Morgen kam mir eine Idee. Vorher und nachher.« Er dachte an die beiden Bilder in der Ziegelfabrik. »Ich werde ein und dasselbe Foto zweimal machen. Einmal mit Lucie und Ihnen darauf, einmal ohne Sie beide.«

Anna runzelte die Stirn. »Was genau wollen Sie mit einem Foto, auf dem man nur die Chaiselongue sieht?«

»Ich ließ mich von der Malerei inspirieren«, fuhr Hieronymus fort. »Dort erarbeitet man auch oft zuerst nur den Hintergrund, bevor man kleinere Details darüber setzt. Ich werde also das Albuminpapier mit Ihnen beiden nehmen und Lucie vorsichtig ausschneiden, sodass auch ihr Schatten gewahrt bleibt, sonst würde sie ja schweben. Dann nehme ich das Albuminpapier mit dem leeren Hintergrund, lege beide Bilder übereinander, fixiere sie mit einer Glasplatte und lichte diese Collage mithilfe einer speziell geschliffenen Linse auf einer Trockenplatte erneut ab.«

»Und damit wird Lucie alleine sitzen, ohne ihre Geistermutter«, vollendete Anna die Erläuterungen des anderen.

Hieronymus grinste triumphierend.

»Stanzerl hat mir nicht zu viel versprochen. Jedoch wird mich dies das Dreifache kosten, habe ich recht?«

»Sogar etwas mehr, da ich ja Lucies Foto auch noch bearbeiten muss.«

»Also gut, einverstanden«, sagte Anna ohne Umschweife. »Ich darf Ihnen auf diesem Wege ausrichten, dass Stanzerl sich über einen Besuch Ihrerseits sehr freuen würde.«

Der Geisterfotograf nickte, unsicher, was er antworten sollte.

»Und seien Sie gewiss, Herr Hieronymus. Ihr Geheimnis, wie man ein solches Werk herstellt, ist bei mir in guten Händen.«

»Ich vertraue Ihnen voll und ganz, Frau Anna«, sagte Hieronymus und begann seine Apparatur aufzubauen.

11 Volkstümliche Bezeichnung für den Pferdefleischhauer.

VII

»Ich danke Ihnen.« Die krächzende Stimme der Gestalt klang ehrlich und eigenartig warm.

»Dann … lassen Sie nun von mir ab?« Den Mann mit der Glatze und den buschigen grauen Augenbrauen überfiel ein heftiger Hustenanfall, der ihn und den Stuhl, an den er gefesselt war, gehörig beutelte.

»So einfach ist es nun auch wieder nicht.«

»Was wollen Sie denn noch von mir?« Tränen liefen dem alten Mann über die Wangen und lösten sich erst auf, als sie dessen kurze graue Bartstoppeln berührten. Die Augen hielt er fest zugepresst. Von hinten legte sich eine behandschuhte Hand auf seine Schulter, verweilte dort beruhigend, beinahe väterlich.

»Was nun folgt, hat nichts mehr mit Ihnen zu tun«, sagte die Stimme ruhig. »Es hat etwas mit mir zu tun, mit mir ganz alleine. Kommen Sie, öffnen Sie die Augen.«

Der Alte schüttelte trotzig den Kopf, gleich einem Kind, das nicht einsehen wollte, dass das von ihm Verlangte nur zu seinem Wohle war.

»Öffnen Sie die Augen oder ich schneide Ihnen die Lider ab. Sie wissen sehr wohl, was das bedeutet.«

»Ich kann nicht!« Der Trotz war einem Wimmern gewichen.

Die Gestalt packte ein Tischchen, das unweit des Gefesselten stand, und zog es ruckartig zu diesem, ungeachtet der großen Vase darauf, die zu Boden stürzte und ohrenbetäubend zerschellte. Dann legte sie die Beißzange und den ehernen Dorn darauf, nahm ein Skalpell in die rechte Hand und setzte dieses am Lidansatz des alten Mannes an.

Der riss die Augen auf.

»Hören sie doch auf, um Himmels willen!«

In diesem Augenblick wurde ihm gewahr, warum er die Augen so fest verschlossen gehalten hatte. Nur wenige Fuß weit entfernt saß Stephania, seine Gemahlin, den Rücken an den breiten Türstock gelehnt, die Arme schlaff zu Boden hängend. Den Hals so weit aufgeschlitzt, dass der Kopf wie ein lästiges Anhängsel vom Torso hing.

Die Lippen des Alten bebten, immer wieder flüsterte er den Namen seiner Frau. Dann schien ein Ruck durch ihn zu gehen, sein Blick wurde klar, sein Körper spannte sich an.

»Wissen Sie was? Nehmen Sie mein Leben. Ohne meine Stephania ist es doch nicht mehr lebenswert.«

»Ah«, raunte die Gestalt. »Die Erkenntnis darüber, was das Leben in seinem Kern ausmacht. Am Ende sind es immer die gleichen Dinge, nicht wahr? Nicht der Reichtum, der einem Halt gibt, nicht der Zuspruch von anderen, der einen antreibt. Es ist einzig der Wunsch, nicht allein auf dieser trostlosen Welt zu sein. Und wenn man diesen letzten Anker lichtet, von dem die meisten glauben, sie würden ihn brauchen wie einen Bissen Brot, dann treibt man im Geiste mutterseelenallein auf dem Ozean der Zeit einem Abgrund entgegen.«

Der Alte sah die Gestalt verwundert an.

»Mir deucht, Sie hatten solch tiefsinnige Worte von mir nicht erwartet? Wissen Sie, wenn man, so wie ich, alles verloren hat, jener besagte Anker nicht mehr ist als ein sichtbarer Hauch in einer kalten Wintersnacht, dann beginnt man, die abstrusesten Gedanken zu spinnen. Ich glaube gar von mir behaupten zu können, mehr über das Leben und seine Unbilden nachgedacht zu haben als ein Sokrates, ein Platon oder ein Aristoteles.«

»Das reine Nachdenken macht aus einem noch keinen Philosophen. Nur wer die richtigen Rückschlüsse zu ziehen imstande ist, den ereilt die Erkenntnis.«

Die Gestalt lachte auf. »Da ist er ja wieder, der belehrende Tonfall, der mir so gut in Erinnerung geblieben ist. Das arrogante Hinwegsetzen eines Mannes über andere, der überzeugt war, er stünde über diesen. Und der vermeinte, er verstünde sie auch noch.«

»Ich wollte doch nur helfen, nach bestem Wissen und Gewissen.«

»Nun, mit dem Gewissen ist das so eine Sache, nicht wahr? Georg Büchner schrieb dazu: ›Das Gewissen ist ein Spiegel, vor dem ein Affe sich quält.‹ Und wenn man etwas mit seinem Gewissen in Einklang zu bringen vermag, so lässt sich auch schnell die Moral ad acta legen.« Die Gestalt lächelte. »Ich jedenfalls kann das, was nun folgt, sehr wohl mit meinem Gewissen vereinbaren. Sehen Sie sich noch einmal gut Ihre Frau an, die so rein gar nichts mit all dem zu schaffen hat. In Wahrheit sind Sie ihr Mörder.«

Die Gestalt nahm den Dorn in die Hand. »Ich muss Sie warnen. Das könnte nun ein wenig unangenehm werden.« Mit diesen Worten bohrte sich der Dorn in das linke Auge des alten Mannes.

 

VIII

Ohne jede Hast bahnte sich der Schindelwagen seinen Weg Richtung Magdalenengrund. Dieser stellte ehemals eine der kleinsten Vorstädte Wiens dar, die 1850 gemeinsam mit den Vorstädten Mariahilf, Gumpendorf, Laimgrube und Windmühle eingemeindet wurde und seit 1861 die Bezeichnung 6. Bezirk, Mariahilf, trug. Dies allerdings nur offiziell. Ursprünglich hieß das Gebiet mit steiler Hanglage, das zwischen Wienfluss und Kaunitzgasse gepfercht lag, im Volksmund »Im Saugraben an der Wien auf der Gstätten12«. Nun nannten es alle das »Ratzenstadl«. Dieser wenig schmeichelhafte Name ging jedoch nicht auf eine Rattenplage zurück, derer es dort zuhauf und immer wiederkehrend gab, sondern vielmehr auf die Raizen13, die sich an diesem Ort als Erste ansiedelten.

Hieronymus holte ein silbernes Etui mit kunstvoll gravierter Oberfläche aus seiner Weste, entnahm eine Zigarette der Marke Eckstein und rauchte sie sich genussvoll an. Dann blickte er auf den Kutschbock neben sich, wo sein Freund wie ein Häufchen Elend kauerte.

»Ist der Herr jetzt in Stimmung mir zu berichten, was er gestern in Erfahrung bringen konnte, oder muss er noch weiter ausnüchtern?«

Franz rieb sich den roten Schädel. »Der Herr wird es berichten, wenn der andere die infernalische Stimme senkt.«

»Grundgütiger!«, entfuhr es Hieronymus. Franz zuckte unwillkürlich zusammen. »’tschuldigung.«

»Es trug sich folgendermaßen zu«, begann Franz, noch mit leicht trägem Zungenschlag, hielt jedoch gleich wieder inne. Er sprang vom Kutschbock und spie Wasser und Galle ins Gebüsch am Wegesrand.

Hieronymus zog an Roswithas Zügeln und wartete geduldig, bis sein Freund auch den letzten Tropfen Magensäure entleert hatte.

»Auf ein Neues?«, begann Hieronymus mit schiefem Grinsen, als beide wieder auf dem Wagen saßen.

Franz nickte. »Die Burschen in den Werkskantinen vertragen wahre Unmengen. Und dann auch noch so ein gotterbärmlicher Fusel … Allein beim Gedanken daran …«

Hieronymus wollte gerade wieder die Zügel anziehen, da fuhr sein Freund fort. »Grundsätzlich ist bei allen, mit denen ich geredet habe, der Unmut groß. Denn bis ins Neunundsechzigerjahr hinein hatten sie nicht nur Arbeit, sondern konnten auch in werkseigenen Wohnungen leben, mit Weib und Kindern. Dann wandelte Drasche das Unternehmen in die ›Wiener Ziegelfabriks- und Baugesellschaft‹ um, und die leitete fortan ein Konsortium aus Banken. Damit verschlechterte sich die Lage für alle Arbeiter, wie man sich unschwer vorstellen kann. Immer mehr von ihnen wurden auf immer weniger Raum gepfercht und die Entlohnung ist dermaßen bescheiden, dass viele von der Kirchenfürsorge abhängig sind.«

Hieronymus schüttelte verständnislos den Kopf.

»Es geht noch weiter«, sagte Franz. »Die Kerle schuften bis zu fünfzehn Stunden täglich, oft sieben Tage die Woche. Und ihre Kinder ebenso.«

»Schlimm, wirklich. Aber was hat das mit unserem Leoš zu tun?«

»Nichts. Aber als Einstand hab ich mir das Gesuder14 von jedem Arbeiter anhören können, und da ist es nur gerecht, wenn du das auch musst«, meinte Franz mit einem erbarmungswürdigen Grinsen. »Was Anezkas feinen Gemahl betrifft, so schien der auch unter den Arbeitern keinen besonders guten Ruf gehabt zu haben. Streitsüchtig, volltrunken, jähzornig. Das hörte ich durch die Bank. Was ich aber auch gehört habe, ist, dass er einen Tag vor seiner Entlassung das Werksgelände verlassen habe, voll im Öl15 und Arm in Arm mit einem Serben, einem gewissen Jakub. Und der soll im Ratzenstadl leben.«

»Dass wir da nicht wegen der guten Luft hinfahren, hab ich mir schon beinahe gedacht. Dann hoffen wir, dass es dort nur einen Jakub gibt«, entgegnete Hieronymus ironisch und sah besorgt in das fahle Antlitz seines Freundes. »Willst du dich lieber in den Wagen legen, während ich mich umhöre?«

Der winkte ab. »Wer saufen kann, der kann auch –«

Einen Augenblick später stand Franz erneut vornübergebeugt am Wegesrand und spie sich die Seele aus dem Leib.

Den Schindelwagen hatten sie an der Wienstraße stehen gelassen und einem Buben, dessen Vater dort einen Schusterladen betrieb, einige Kreuzer bezahlt, dass der auf Pferd und Gefährt aufpasste.

Nun stapften Hieronymus und Franz die Magdalenenstraße entlang, die von baufälligen Giebelhäusern gesäumt war. Ihre Fassaden drückten sich nach außen, ihre Dächer wölbten sich nach innen. Morsche Fensterläden hingen quietschend im Wind, Bretterverschläge verdeckten, was zu sehen nicht gewünscht wurde. Ein modriger Geruch hing über dem Viertel.

Franz wusch sich den Kopf in einem Brunnen mit eiskaltem Wasser, wirkte mit einem Male erfrischt und agil.

»Ich werde einen auf armen Krüppel machen, der seinen Bruder Leoš sucht, der wiederum bei seinem Arbeitskollegen Jakub wohnen soll«, schlug er vor. »Mit böhmischem Akzent und so.«

»Gute Idee. Sei trotzdem vorsichtig. Die Serben mögen die Ziegelbehm nämlich auch nicht.«

Franz nickte entschlossen, beugte sich nach vorn, sodass sein Buckel noch größer wirkte, als er war, und humpelte in den erstbesten Laden hinein, in dem ein Vergolder werkte.

»G-g-grüß Gott, ich h-h-hab bittschön eine F-frage.«

Dann schloss die Tür hinter ihm.

Unsteten Schrittes ging Hieronymus vor dem Laden auf und ab. Sollte sich Leoš’ Spur hier verlieren, wusste er nicht, wo sie ansetzen sollten. Eine Zeitlang könnten sie wohl Anezka und ihre sechs Kinder mit durchfüttern, aber eine Lösung war das keine, das wussten sie alle. Und da der Kerl entlassen worden war, stand selbst in seinem Todesfall Anezka keine Werkspension oder Ähnliches zu. Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken, was wäre, wenn sich Franz und Anezka vermählten – immerhin verstanden sich die beiden und teilten zuweilen das Bett miteinander … Trotzdem war der Gedanke daran so befremdlich, dass Hieronymus ihn sogleich verwarf.

Wenig später kam Franz heraus. Der Ausdruck in seinem Gesicht ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, dass er nichts in Erfahrung hatte bringen können.

»Vielleicht beim Nächsten«, versuchte er sich selbst aufzumuntern und betrat das Geschäft eines Gemüsehändlers.

Doch auch hier kannte niemand einen Leoš oder einen Jakub. So klapperten sie einen Laden nach dem anderen ab, befragten sogar die schmutzig aussehenden Kinder, die bettelten oder mit Stöcken und Reifen spielten und in deren Augen sich eine befremdliche Abgeklärtheit spiegelte. Dennoch war den beiden kein Erfolg gegönnt.

»Vielleicht in einem Wirtshaus, oben, in der Kaunitzgasse«, schlug Hieronymus vor und sah die steile Kroatenstiege hinauf, deren abgetretene steinerne Stufen jeden Winkel zu kennen schienen, nur keinen rechten. Franz brummte seine Zustimmung.

Am Ende der Stiege machten die beiden Männer eine Verschnaufpause. Da merkten sie, wie jemand an Franz’ Joppe zupfte – ein blonder Bub, die Mütze schief auf dem Kopf, die Wangen voll Kohlestaub, unter der Nase Rotz.

»Sie suchen den Jakub?«, fragte er mit herausfordernder Stimme.

Franz lächelte. »Das tue ich.«

»Sie stottern ja gar nicht mehr.«

Schau an, dachte sich Hieronymus, so ein Wiffzack16. »Ist bei dem da nur zeitweilig«, sagte er mit einem Zwinkern. »Also, was weißt du über Jakub?«

Der Junge zuckte mit den Schultern, wirkte mit einem Mal gar nicht mehr so selbstbewusst. »Meine Schwester hat mit ihm ein kleines Pantscherl17 gehabt, heuer um die Weihnachtszeit war das. Da war er auch öfters zu Besuch bei uns. Und jedes Mal hat er mir ein Semmerl mitgebracht.«

»Ein Semmerl? Scheint ein netter Kerl zu sein.«

Wieder zuckte der Junge mit den Schultern. »Seit meine Schwester krank geworden ist, hat er sie nicht mehr besucht. Aber es geht ihr schon wieder besser.«

»Das freut mich zu hören«, sagte Franz und hockte sich zu dem Buben. »Du weißt nicht zufällig, wo ich diesen Jakub finden kann?«

»Vor zwei Wochen habe ich ihn gesehen, gemeinsam mit einem anderen Mann. Sie haben abwechselnd aus einer Flasche getrunken, haben gegrölt und gelacht und sind dann zu den Strottern18 runtergestiegen.«

»In die … Kanalisation?«, entfuhr es Hieronymus.

Der Bub deutete Richtung Karlsplatz. »Dort drüben sind sie bei einem der Kioske eingestiegen, wo es nach unten geht.«

Franz und Hieronymus teilten einen vielsagenden Blick. Dann drückte Franz dem Jungen einen Gulden in die schmutzige Hand. »Danke. Kauf davon dir und deiner Schwester was zu essen.«

Der Junge grinste schelmisch, dann lief er davon.

»Glaubst du, er hat die Wahrheit gesagt?«

Hieronymus zuckte mit den Schultern. »Wer weiß. Aber zwei Männer, die sich gemeinsam einen ansaufen … Das klingt sehr wohl nach Leoš.«

Franz pflichtete ihm bei. »Im Ratzenstadl ist er nicht, dafür bei den Strottern? Klingt, als käme er vom Regen in die Traufe. Ich bringe es aber auch nicht übers Herz, Anezka anzulügen, wir hätten keinen Erfolg gehabt.«

»Die Kanalisation unter Wien ist wie eine Stadt in der Stadt. Und die Strotter halten zusammen wie Pech und Schwefel, zumindest heißt es das. Es wird verdammt schwierig, auch nur irgendwen dort zu finden, zumal alle, die da unten leben, nicht gefunden werden wollen.«

»Ich gehe.« Franz strich sich die spärlichen grauen Haare am Kopf glatt, als würde er sich für einen gewichtigen Besuch zurechtmachen. »Wegen meinem Buckel brauch ich mich zumindest nicht zu bücken.«

»Das wird keine leichte Aufgabe, mein Freund. Und niemand hier oben wird dir helfen können, solltest du auf Schwierigkeiten stoßen.«

»Du meinst, ich kann dir nicht zu Hilfe eilen, wenn du wieder einmal in Schwierigkeiten steckst?«

»Ja.« Hieronymus grinste. »Oder so herum.«

»Was wirst du machen?«

»Ich werde mein Glück erneut am Schlickplatz versuchen und nach Karolína Ausschau halten. Wie schon so oft zuvor.«

»Tu das. Aber lass uns erst noch bei dem Wirtshaus da drüben die Wampe vollschlagen. Danach steig ich hinunter. Einverstanden?«

»Einverstanden«, meinte Hieronymus und sie machten sich auf den Weg. »Vielleicht zum Abschluss noch ein bekömmliches Schnapserl?«

Die rot unterlaufenen Augen und der strafende Blick des anderen waren Antwort genug.

12 Alter Ausdruck für »Baulücke«.

13 Eine bis ins 19. Jahrhundert gängige Bezeichnung für die serbische

Bevölkerung in der Habsburgermonarchie.

14 Wienerisch: Gejammer.

15 Wienerisch: »voll im Öl« = volltrunken.

16 Wienerisch: schlauer Mensch.

17 Wienerisch: Liebelei.

18 Menschen, die in Abfällen nach Verwertbarem umherstöbern.

IX

Hieronymus lehnte an der Ecke eines Hauses und beobachtete ruhig das Getümmel, das ihn umgab. Der Schlickplatz war voll geschäftiger Menschen, die von hier zum Franz-Josefs-Bahnhof eilten oder in die andere Richtung, zum Schottenring, und sich den Platz mit Fuhrwerken und Karren teilten. Alles überragend war die Fassade der Roßauer Kaserne, ein festungsähnlicher Bau aus roten Ziegeln, der erst sechs Jahre zuvor fertiggestellt worden war. Die beiden Türme, die acht Stockwerke in den Himmel ragten und mit Zinnen bekrönt waren, ließen keinen Zweifel aufkommen, dass dies ein Bollwerk gegen jegliche Art von Feinden der Monarchie darstellte.

Doch wie an so vielen Tagen zuvor konnte Hieronymus auch heute nicht erspähen, was er dereinst zu erspähen geglaubt hatte – das liebliche Antlitz seiner Karolína. Jener großen Liebe, die er seit neun Jahren tot geglaubt hatte, und bei der er sich doch seit ihrem, wenn auch nur kurz erhaschten, Anblick sicher war, dass sie lebte.

 

Auch hatte er in den letzten Wochen versucht, ihren Bruder František Skorkovský aufzuspüren, dessen zufällige Bekanntschaft er auf der Soirée Ludwig Oppenheims gemacht hatte. Doch auch dieses Unterfangen hatte sich als erfolglos erwiesen. So konnte er nur hier stehen und hoffen.

»Ganz allein, mein Hübscher?«, umgarnte ihn eine weibliche Stimme.

Hieronymus spürte, wie eine Hand die seine sanft berührte. Gleich darauf sah er sich einer Frau gegenüber, die sein Alter haben musste, wenngleich er hoffte, nicht ein derart verlebtes Bild abzugeben. Ihre Schminke hatte sie viel zu stark aufgetragen, eine leicht verzweifelte Nuance umspielte ihr gekünsteltes Lächeln.

»Nein danke«, winkte Hieronymus ab.

Der Gemütszustand der Hübschlerin änderte sich schlagartig. »Du hast doch keinen Schimmer, was dir entgeht, du grober Lackel19.«

»Und ich will es auch nicht wissen.«

»Na, ich sag dir jetzt was: Du gibst mir zwei Gulden oder ich schrei hier vor allen Leuten, dass du mich begrapscht hast.«

Hieronymus spürte, wie der Zorn in ihm aufstieg, gepaart mit dem Verlangen, die dreiste Nymphe mit mehr als nur Worten zurechtzuweisen. Doch er beherrschte sich. Zu unvorhersehbar wären die Folgen einer solchen Auseinandersetzung.

»Hör gut zu«, sprach er so leise, dass sich die Frau zu ihm beugen musste. »Da drüben ist die k.k. Polizei-Direction, und ihr Präsident, Wilhelm Marx, ist ein Bekannter von mir. Wennst also meinst, du musst hier ein Bahöl machen, dann tu das. Gerne werde ich der Sicherheitswache erklären, wer hier wen abgetatschkerlt20 hat. Und jetzt schleich dich.«

Die Hübschlerin schien einen Augenblick abzuwägen, ob der andere es ernst meinte. Dann spuckte sie zu Boden und verschwand in der Menge der Passanten.

Während Hieronymus ihr noch nachblickte, wälzte er die Überlegung, warum er nicht tatsächlich beim Präsidenten der Polizei vorstellig werden sollte, um diesen zu bitten, ihm bei der Suche nach Karolínas Bruder behilflich zu sein. Immerhin könnte er ihm Einsicht in die Register der melderechtlichen Erfassung gewähren. Nicht, dass ihm dieser nach dem Vorfall im Prater noch etwas schuldig wäre, aber ein Versuch konnte wohl nicht schaden …

Franz fluchte leise. Die eiserne Tür am Kiosk, einem achteckigen mannshohen Turm mit schrägem Dach, war abgesperrt. Auch wenn ihn kaum einer der Passanten, die am Karlsplatz unterwegs waren, beachtete, so wusste er, dass er die Tür nicht einfach mit roher Gewalt aufreißen konnte. Mit der rechten Hand kramte er in der Tasche seines Mantels, bis er gefunden hatte, wonach er suchte – einen Dietrich.

Er setzte den Sperrhaken ins Schloss, drückte, zog und drehte nach Gefühl, bis das Schloss mit einem Klacken aufsprang.

»He, du da!«, ertönte plötzlich die Stimme eines Mannes. Franz fuhr herum, erblickte aber anstelle eines Wachmannes ein junges, teuer gekleidetes Pärchen. »Der Präuscher hat telegrafiert. Er will seinen Buckel zurück!«

Die Frau lachte spitz auf, der Mann grinste feist.

Franz winkte den beiden mit einem Lächeln zu, während er ihm Syphilis und ihr Torheit wünschte. Er blickte noch einmal schnell prüfend um sich, ob er nicht doch beobachtet wurde, und verschwand dann in dem Kiosk.

Die Finsternis, die Franz umgab, war beinahe stofflich. Nur langsam gewöhnten sich seine Augen an das spärliche Licht, das durch die Eisengitter fiel, die den Kiosk mit seinem Dach verbanden. Er erkannte, dass sich zu seinen Füßen eine Wendeltreppe in die rabenschwarze Tiefe schraubte, die noch undurchdringlicher zu sein schien. Franz rümpfte die Nase. Doch er wusste, dass die Luft von nun an nur noch muffiger werden würde, also sollte er sich besser daran gewöhnen.

Vorsichtig machte er den ersten Schritt in die Tiefe, dem ein metallisches Knarren folgte, das sich hallend im Abgrund verlor. Nach einem lang gezogenen Seufzen begann er seinen Abstieg.

Fünfzig Stufen hatte er bereits zurückgelegt, fünfzig weitere, so schätzte er, würden noch folgen. Der enge Schacht glich einem Rauchfang, an dessen Wänden Schmutz und Staub in Fetzen herabhingen, die sich bei der leisesten Bewegung zersetzten und Schneeflocken gleich in die Tiefe rieselten.

Ein letzter Schritt und Franz hatte die Sohle erreicht. Ein eigentümliches Säuseln empfing ihn, als wollte der Wind ihn warnen, aber darauf gab er nichts. Franz marschierte einen kurzen Stollen entlang, an dessen Ende ihm ein sturmgleicher Luftzug entgegenblies, dann betrat er ein monumentales, unterirdisches Bauwerk. So hoch in seiner Wölbung und so breit in seinem Ausmaß, dass man gut und gerne ein Haus hineinbauen konnte, weitete sich der Kanal, in dessen Mitte das schmale Rinnsal der Wien floss. Ein Narr, der den Fluss unterschätzte, dachte Franz, denn die teils meterhohen Mauern zu beiden Seiten waren nur dafür errichtet worden, dem Rinnsal Einhalt zu gebieten, wenn es anschwoll.

Überall an den Wänden sickerte Wasser nach unten, die Luft roch modrig feucht und gleichzeitig süßlich nach Dung.

Das fahle Licht gab nur gelegentliche Anhaltspunkte preis – Seitenstollen, die wegführten und wesentlich enger waren als der Hauptfluss, manche maßen gar nur einen Meter im Querschnitt. Da auch das Rauschen und Tropfen des Wassers keine Orientierung zuließ, beschloss Franz, einfach eine Richtung einzuschlagen und dieser dann zu folgen.

»Ich werd Ihr Anliegen selbstverfreilich an unseren Präsidenten weiterleiten lassen«, meinte der aufgedunsene Mann im dunkelgrünen Waffenrock der Sicherheitswache am Eingang zur Polizei-Direction, nicht ohne durchklingen zu lassen, für wie lästig er das Gesuch erachtete. »Kommen S’ morgen wieder, dann kann ich Ihnen sagen, ob er Sie ebenso dringlich sehen will wie Sie ihn.«

Hieronymus seufzte frustriert. Aber mehr konnte er im Augenblick nicht ausrichten. »Holstein«, wiederholte er seinen Namen. »Hieronymus Holstein.«

Die Wache tippte sich auf den Kopf. »Ist notiert. Wiederschaun.«

Der Bittsteller ließ das imposante vierstöckige Gebäude hinter sich. Die Hübschlerin hatte ihn nämlich nicht nur auf die Idee gebracht, hierherzukommen, sondern auch noch jemand anders aufzusuchen. So machte er sich auf den Weg in die Singer-Straße, wo er bei seiner Suche an einen anderen Punkt anzuknüpfen hoffte.

Nach einer Weile, in der sich seine Augen weiter an das wenige Licht, das einfiel, gewöhnt hatten, erspähte Franz endlich eine andere menschliche Seele. Der Strotter hatte neben sich einen Korb aus Weidengeflecht stehen und in der Hand einen hölzernen Stab, an dem er ein kleines metallenes Sieb befestigt hatte. Damit fischte er im Rinnsal der Wien nach allem, was diese mit sich führte.

»Grüß Gott«, sprach Franz schon von Weitem, um nicht den Anschein zu erwecken, er wollte sich anschleichen.

Der Mann war von hagerer Statur, eine Nase dominierte sein Gesicht, die im Verhältnis zum Rest viel zu groß erschien. Es kleidete ihn ein vielfach geflickter Gehrock, dessen Schöße speckig und abgegriffen wirkten, und eine fettige Krawatte, die lose um den dürren Hals hing. Seine großen braunen Augen, die ihm aus dem Gesicht hervortraten, waren mit einem leichten Schleier überzogen.

»D’Ehre«, grüßte er zurück.

»Bin der bucklige Franz.«

»Camillo Cavalieri. Aber hier unten nennen mich alle Don Cavallo, wohl wegen meines edel lang gezogenen Gesichts.«

»Schmeichelhaft«, entgegnete Franz. »Dann werde ich wohl Gobba heißen.«

»Ah, parli italiano?«

»Solo un pocco«, untertrieb Franz und blickte auf den Kescher. »Wonach fischst du?«

»Was glaubst du denn? Als Banerstrotter natürlich nach Gebeinen und was mir sonst so ins Netz geht.«

Franz wischte sich die Schweißperlen vom kahlen Haupt, die sich jedoch ob der Luftfeuchtigkeit beinahe augenblicklich wieder erneuerten. »Knochen für die Seifensiedereien?«

»Sternkreuzdiwidomini!«, brüllte Camillo mit einem Male und ohne ersichtlichen Grund. Dann fuhr er in gemäßigtem Tonfall fort: »Nicht ganz zwei Kreuzer bezahlen sie für das Kilo. Allerdings musst du die Gebeine vorher noch trocknen.«

Franz machte erst gar nicht den Versuch zu errechnen, wie viele Kilo er am Tag zusammensammeln und nach Atzgersdorf schleppen müsste, um davon leben zu können.

»Der Kreislauf des Lebens, eben«, fuhr Camillo in beinahe dozierendem Tonfall fort und holte tief Luft. »Der Bürger frisst das Tier, wirft dessen Knochen unachtsam fort, damit einer wie ich sie aufsammeln darf und ein Fabrikant sich damit eine goldene Nase verdient, indem er Seife herstellt, mit der sich besagter Bürger die vom Essen fettigen Hände waschen kann. Der Herrgott hat eben für alles gesorgt! Leben und sterben lassen.«

Franz verkniff sich eine Entgegnung, denn er verstand die Verbitterung des Mannes.

»Aber verstehe mich nicht falsch«, wiegelte Camillo sogleich ab. »Ich bin keineswegs unzufrieden, im Gegenteil. Schau dich doch um. Niemand, der mich anherrscht, niemand, der mir Schmähungen entgegenschleudert. Ich bin mein eigener Herr und Meister und –« Ein Hustenanfall unterbrach seine Ausführungen.