Das Geschenk der Psychothriller-Parodie

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5.

Verdutzt schaute die Therapeutin Merlan hinterher, der aus dem Raum gestürmt war. Er hatte die ganze Zeit so getan, als würden sie sich in einem Erdbeben befinden und war von links nach rechts geschwankt, als würde die Erschütterung ihn durchrütteln.

Tabea blickte gerade aus dem Fenster und zog den Kopf zurück. „Wie vermutet“, sagte sie. „Da ist nichts.“

Sie ging hinaus auf den Flur. Ein Fenster stand offen, Merlan musste hindurchgekrochen und geflohen sein. Sie warf einen Blick aus dem Flurfenster. Am hinteren Teil des Gebäudes befand sich tatsächlich eine Feuerleiter.

„Sie haben eine Feuerleiter?“, fragte Tabea zurück im Arbeitszimmer der Therapeutin.

„Ach, der Eigentümer liebt diese amerikanischen Polizeiserien und hat eine installieren lassen. Kommt gut an bei den Bewohnern. In Kreuzberg kommt es des Öfteren vor, dass einer abhauen muss.“

„Wieso wohnen Sie hier? Sie verdienen bestimmt ganz gut.“

„Oh ich wohne hier nicht. Ich miete mir immer Behandlungsräume über Air BnB für einen Monat. Ich arbeite mit gestörten Menschen, denen will ich keine feste Adresse geben. Aber sagen Sie, wo ist Ihr Mann hin?“

„Auf und davon. Sie müssen entschuldigen. Es ist eine Art Schutzmechanismus.“

„Sehr interessant. Hat er das schon immer gemacht?“

„Seitdem ich ihn kenne. Wissen Sie, manche Männer sind lediglich vergesslich, aber ich habe einen abbekommen, der auch noch ein schlechter Lügner ist. Er glaubt an die Existenz eines Nuss-Nugat-Monsters, das ihn verfolgt. Er behauptet, es will ihn auf eine Stulle schmieren.“

„Das muss mit das Absurdeste sein, was ich je gehört habe.“

„Dämlich, aber effektiv. Ich mache mich dann auch auf den Weg, Frau Dr. Tulpenstein, danke für Ihre Zeit.“

„Gerne. Und vergessen Sie nicht, die Nebenwirkungen der Medikamente aufzuschreiben!“

„Einer von uns wird es bestimmt vergessen …“, brummelte Tabea missmutig und schüttelte der Therapeutin zum Abschied die Hand.

Tabea fragte sich, wo Merlan wohl gerade herumirrte.

6.

Merlan war froh, dem Nuss-Nugat-Monster entkommen zu sein. Und der mysteriösen Frau in bunter Kleidung. Er könnte sich vielleicht viel Kummer ersparen, wenn er fragte, wo er war, warum er war und wer noch da war. So wie es ihm in der Sesamstraße beigebracht worden war, doch er traute sich nicht. Irgendwann wäre Tabea es sicher leid geworden, dass er ständig Fragen stellte. Was wiederum seine Chance mindern würde, bei der Entscheidung des Abendessens mitzuwirken. Ganz zu schweigen vom Einfluss auf die statistische Wahrscheinlichkeit des Beischlafs.

Er stieg draußen vor der Praxis auf einen E-Roller und klemmte sein Handy in die dafür vorgesehene Halterung. Die Dinger waren in Berlin noch recht neu, jedoch weitläufig verstreut. Für einen Euro konnte man den Roller freischalten und durch die Gegend poltern. Auffindbar waren die Dinger per GPS durch die entsprechende App. Der Besitz eines Fahrrads war praktisch überflüssig geworden. Und man tat dabei noch etwas für die Umwelt, solang der Strom weiterhin aus der Steckdose kam, im Vergleich zu den bösen Autoabgasen, denn die kamen bekanntlich aus dem Auspuff.

Er polterte die Urbanstraße hinunter, bog in die Grafenstraße ab, fuhr die Diffenbacherstraße entlang und wieder zurück die Schönleinstraße hinunter, vorbei an Bakes Bikes, der dabei war, pleite zu gehen, weil alle Berliner nur noch E-Roller fuhren.1

Merlan fiel ein blauer Skoda Fabia Kombi auf, der vehement versuchte, zu ihm aufzuschließen. Er ließ sich nichtbeirren. Er und der Fahrer des Wagens hatten wohl nur zufällig denselben Weg. Man durfte nicht so kleinlich sein und davon ausgehen, die ganze Welt würde sich um einen herum ausrichten.

Das Smartphone in seiner Halterung klingelte. Es zeigte ein Bild von Merlans Vater und dessen Namen „Jogurt – Dein Vater“. Die Benennung seiner Kontakte war besonders wichtig. Auch verfügte sein Smartphone über keine Displaysperre, da er sich sonst selbst aussperren würde. Sein Gedächtnis war wie ein Feind im eigenen Körper, der gegen ihn arbeitete.

Er wischte auf dem Display dreimal umeinander, aber der Anruf wurde nicht angenommen. Erst als er „Verdammtes Scheißteil“ rief und sich den guten alten Hörer zurück wünschte, hörte er plötzlich die Stimme seines Vaters und stellte sie auf Lautsprecher.

„Guten Abend Papa“

„Wie ist es in der Therapie gelaufen?“, fiel der gleich mit der Tür ins Haus.

Therapie, schallte es durch Merlans Hirn. Das war das. Er war gerade mit Tabea in der Beziehungstherapie gewesen. Momente wie diesen hatte er andauernd.

„Tja, sagen wir mal so, wenn das alte Sofa bei dir noch nicht völlig durchgelegen ist, könnte ich es demnächst brauchen.“

Merlan hörte, wie sein Vater sich mit der Hand gegen die Stirn schlug. „Du hast es vermasselt!“

„Ach, wollen wir mal nicht so tun, als ob das von Anfang an die absolute Bilderbuch-Beziehung gewesen wäre. Wir haben uns bei einem Raubüberfall kennengelernt!“

„Du hast doch nicht etwa schon wieder so getan, als wenn das Nuss-Nugat-Monster dich verfolgt oder?“

Stille.

„Verdammt, Junge“, sagte sein Vater und furzte lautstark.

„Papa!“, mahnte Merlan.

„Komm du in mein Alter. Aber keine Sorge, ich filtere alles durch eine frische Unterhose. Hast du Tabea wenigstens dein Geheimnis verraten?“

Merlan verstummte erneut.

„Du hast es inzwischen vergessen oder?“

Merlan bog abrupt nach links ab, nur um zu testen, ob der blaue Fabia ihm noch immer folgte. Mit quietschenden Reifen preschte das Auto hinter ihm um die Ecke. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Immerhin habe ich Tabea nie angelogen, so wie du mit Mama.“

„Ach Junge, Oana und ich, wir haben uns verstanden. Frauen sind wie Fahrradschlösser. Man muss sie knacken, verstehst du?“

Er lachte über seinen eigenen Witz.

„Wow Papa, der war fast so mies wie die Witze im Originalbuch.“

„Ich gebe mir Mühe. Deine Mutter hat Howard Carpendale geliebt. Ich konnte den vor Schmalz triefenden Sängerknaben nie leiden, aber schön, ich war jung und spitz. Wer hätte gedacht, dass ich über die Jahre mehr als dreißig seiner Konzerte mit ansehen muss? Aber das hatte auch seine Vorteile, jedes Mal nach dem Konzert haben wir so richtig schön …“

„… die Jacken ausgezogen?“, fragte Merlan.

„Nein Junge, gevögelt. Den Aal erstickt. Den Knutsch- und Knettag vollzogen. Schlafzimmergolf gespielt. Wenn andere Ti amo gehört haben, dachten sie ach wie schön, ich dachte nur daran, dass, wenn alles vorbei war, ich friedlich einen wegpimmeln durfte.“

„Pfui.“

„Selber. Was glaubst du denn, wenn der ‚Hello Again‘ nie geschrieben hätte2, wärst du irgendwo in einer Socke verendet.

„Na Mahlzeit.“

„Hast du eine Ahnung. Deine Mutter, Gott hab sie selig, mag seit einer Weile nicht mehr bei uns sein, aber jedes Mal wenn ich irgendwo ‚Lisa ist da‘ oder ‚Deine Spuren im Sand‘ höre, macht mein kleiner Mann Klimmzüge und bereitet sich auf die Schlacht vor.“

Merlan versuchte, das Thema zu wechseln. „Wie läufts denn bei dir im Beruf?“

„Gut. Die Mädels haben ihren Spaß und arbeiten fleißig von zu Hause aus. Es ist das perfekte Unternehmen. Keine Mietkosten, keine Verwaltung. Ich verbringe lediglich Zeit damit, neue Damen zu finden und sie ihn die Geheimnisse der Webcamnutzung einzuführen.“

„Lässt du dir dein Geld noch immer in Lohntüten auszahlen?“

„Nein, zufrieden? Ich habe meine Lektion gelernt. Es wird alles digital verbucht. Und mir ist auch klar, dass ich die Sache mit den Meerschweinchen irgendwann in den Griff bekommen muss. Aber die Tierchen bereiten mir einfach so viel Freude.“

„Achtzig Stück sind zu viele.“

„Wenigstens ist jemand zu Hause, wenn ich komme, du besuchst mich kaum.“

„Stimmt doch gar nicht“, sagte Merlan und bemerkte, wie der Skoda Fabia sich von hinten anschlich. Er hielt gerade an einer roten Ampel. Das Auto fuhr dicht neben ihn, sodass er durch die Scheibe auf den Rücksitz sehen konnte. Was er aber nicht wollte. Die Fahrradampel schlug zuerst auf Grün um, und er zog an einer lahmarschigen Studentin auf ihrer Alugurke vorbei. Er genoss es, die albernen Fahrradfahrer hinter sich zu lassen. Auf dem E-Roller kam er sich vor wie etwas Besseres. Jemand, der es verdient hatte, vor allen anderen aus dem Gurkenglas essen zu dürfen.

Auch wenn er nicht wirklich wusste, wo er gerade hinfuhr. Solange das Ding jedoch noch Strom hatte, machte ihm das aber auch nichts aus.

„Warum kommst du mich nicht heute Abend besuchen?“, schlug Merlans Vater vor. „Ich koche uns ein paar Rinderrouladen. Wir füttern die Schweinchen. Vergraben die toten, die wir in den Käfigen finden. Machen uns einen spaßigen Abend.“

„Ne du, danke. Dann hältst du wieder eine Stunde eine Grabrede und sprichst diese toten Meersäue heilig.“

„Siehst du, siehst du“, sagte sein Vater vorwurfsvoll und Merlan hörte, wie ein Lappen in Wasser getaucht wurde. „Und da soll man sich noch fragen, wieso man ist, wie man ist. Wenn der eigene Sohn nicht mehr zu Besuch kommt.“

„Ich war erst letzten Freitag bei dir.“

„Das ist eine Ewigkeit her!“

„Es ist Montag.“

Jogurt3 grummelte etwas Unverständliches.

Merlan erreichte die nächste rote Ampel und blieb stehen. Von hinten kam der Skoda Fabia angerollt und hielt so dicht neben Merlan, dass dieser fast von seinem E-Roller gedrängt wurde.

 

„Papa, ich muss auflegen, so ein Idiot versucht, mich zu überfahren.“

„Das putz ich aber nicht weg“, war das Letzte, was er seinen Vater sagen hörte.

Merlan rollte einen Meter vor, sodass er an die Beifahrerscheibe klopfen konnte. Der Fabia hielt Schritt und wieder konnte er nur die Rückfahrerscheibe erkennen.

„Gott verdammte Autofahrer …“, murmelte Merlan.

Dann blickte er durch die Scheibe ins Innere des Autos und erkannte etwas, das ihm das Pippi in der Blase gefrieren ließ. Seinem E-Roller ging vor Entsetzen der Saft aus und der Verkehr um ihn herum verlangsamte sich wie in Zeitlupe. Alle Geräusche verblassten und es wurde so still, als hätte jemand die Lautstärke auf Stumm gestellt. Merlan konnte seine eigenen Gedanken hören, wie sie von Simon Jäger vorgelesen wurden.

Konnte das wirklich sein?

War das etwa?

Aber wie?

Er blinzelte.

Und schon hatte er vergessen, warum er mit einem E-Roller an einer Ampel stand und ihm aus einem Skoda Fabia hilfesuchend zwei Augen entgegenstarrten.

Augen, die mit Tränen gefüllt waren.

1 Ich finde exakte Wegbeschreibungen in Büchern immer bescheuert. Als ob man jemals Lust hätte, die Wege der Protagonisten selber abzugehen. Wegbeschreibungen sind wie Personenbeschreibungen, meistens völlig überflüssig. Geht es Ihnen da auch so? Was jucken mich irgendwelche Straßennamen. Die Geschichte spielt in Berlin: Tegel. Tiergarten. Brandenburger Tor. Man hats verstanden.

2 Zusammen mit Irma Holder und Joachim Horn-Bernges.

3 Falls sie sich über den komischen Namen von Merlans Vater wundern. Gebürtig heißt der Mann zwar Rüdiger, doch als 1987 Spaceballs veröffentlicht wurde, verlor er auf tragische Weise eine Wette und war gezwungen, seinen Namen zu ändern. Sachen gibts, was?

7.

Es waren die Augen eines jungen Hundes.

Nicht älter als elf Monate, praktisch noch ein Welpe. Ein Golden Retriever und der schaute ihn flehend mit großen Augen an, wässrig und verzweifelt.

Er presste einen Zettel gegen die Windschutzscheibe. Doch den ignorierte Merlan erst mal. Neben dem Hund saß ein Junge. Er schien kaum älter als zwölf Jahre mit den typischen aufgeschürften Knien. Was nicht so typisch war, war dessen Gesichtsausdruck. Der Junge blickte drein wie ein Vierzigjähriger, der schon so viel erlebt hatte wie ein Siebzigjähriger, sich aber fühlte wie ein Zehnjähriger, obwohl er erst zwölf war.

Merlan kannte diesen Blick.

Er selbst hatte in dem Alter immer doof aus der Wäsche geguckt, wenn man ihn irgendwo hin verschleppt hatte. Zu den Großeltern oder sonst wo. Der Hund musste wohl dem Jungen gehören. Warum war das Tier derart traurig? Wurde es nicht gut behandelt? War der Junge in Wahrheit ein niederträchtiger Miesling, der den Golden Retriever irgendwo gekidnappt hatte? Was steckte hinter der ganzen Sache?

Auf den Vordersitzen konnte er eine Frau am Steuer erkennen. War sie etwa blond, hatte einen Bauch und war in letzter Zeit sehr unsicher, was ihre bisherigen Lebensentscheidungen anging? Neben ihr saß ein Mann mit langen Haaren. Merlan spürte, dass er Angst vor der Frau hatte, ihr verfallen war, aber auch keinen Ausweg wusste. Er war ihr ausgeliefert. Das erkannte Merlan daran, wie der Kerl den Arm nicht auf die Mittelkonsole zwischen den Sitzen legte, die komplett vom Arm der Frau belegt war.

In einer Fernsehdokumentation hatte Merlan einmal eine psychologische Theorie aufgeschnappt, die sich Korrespondenzverzerrung nannte. Dieser Begriff der Sozialpsychologie bezeichnete die Neigung, Persönlichkeitseigenschaften, Meinungen und das Verhalten anderer systematisch zu überschätzen und äußere Faktoren gleichzeitig zu unterschätzen.

Merlan fühlte, dass er etwas mit dem Jungen gemeinsam hatte. Auch er hatte schon immer einen Hund gewollt. Hauptsächlich in der Hoffnung, das Tier würde ein paar der doofen Meerschweinchenweiber seines Vaters auffressen, und so die nächste Wurfwelle verhindern. Natürlich hatte er damals nicht genau gewusst, wie ein Hund funktionierte, sonst hätte er sich einen Waran oder eine Schlange gewünscht.

Tief in seinem Inneren redete sich Merlan ein, dass der Junge wollte, dass er ihm den Hund abnahm. Warum sonst würde das Kind weinend und verheult mit seinen geschundenen Knien auf dem Rücksitz eines Autos sitzen, das nicht mal einen Kindersitz besaß? Der Golden Retriever drehte sich zu dem Knaben um und fletschte die Zähne.

Ein eindeutiges Zeichen

Der Hund wollte von Merlan gerettet werden!

Merlan lenkte seine Aufmerksamkeit auf den Zettel, den der Hund noch immer gegen die Scheibe presste. Die Pfote war leicht schwitzig und hinterließ einen feuchten Abdruck.

Auf dem Zettel stand:



Welch eine in höchstem Maße sonderbare Botschaft! Und was für detaillierte Schriftzeichen das Tier erstellt hatte, gänzlich ohne Daumen nur mithilfe seiner Pfoten. Er musste Stunden, wenn nicht Tage an dieser Botschaft gesessen haben.

Die Bedeutung jedoch blieb ihm ein Rätsel. Auch deswegen, weil er seine Lesebrille nicht dabei hatte.

Dann wieder, was erwartete er von einem Hund, der etwas auf ein Stück Papier geschrieben hatte? Das waren alles Dinge, die sie noch klären konnten, wenn er das Tier in seinen Besitz gebracht hatte.

Ohne weiter nachzudenken, legte er die Hand an den Türgriff und riss ihn auf.

Der Motor des Skoda Fabia schrie mit seinen 105 PS auf wie ein Katzenbaby und brauste über die rote Ampel hinweg, auf und davon. Vollgas. Die Tür wurde vom Fahrtwind wieder zugeschlagen.

Merlan aktivierte die Turbotaste seines E-Rollers, ließ den Hinterreifen durchdrehen und beschleunigte innerhalb von zwei Sekunden auf siebzig Stundenkilometer. Mit einem Affenzahn brauste er dem Kleinwagen hinterher.

Er war fest entschlossen, den Wuffer nicht entkommen zu lassen. Ein Foto des Nummernschilds wäre sicherlich sinnvoll, doch wie er sich kannte, hatte er, bis er es wieder brauchen konnte, längst vergessen, wofür es gut war.

Es galt, den Moment auszuleben.

Die dreckige Berliner Nachtluft strich ihm durch das Haar, und Lichter sausten an ihm vorbei.

Eine wilde Verfolgungsjagd entbrannte.

8.


Nach mehreren Kapiteln des Erzählens befinden wir uns zurück im Wirtshaus. Die Ghule haben noch immer das Gebäude umstellt, der Königsmörder sitzt gebrechlich am Tisch und ist bereit, nach einer Unterbrechung in weiteren 128 Rückblenden von seinem Leben zu erzählen. Oh Moment falsches Buch …


Zurück in der Gegenwart

Wir befinden uns in der Gefängnisbibliothek


Merlan hatte eine Erzählpause eingelegt, und so hatte Hermes angeboten, der Sache mit dessen Hintern und der Seife, die darin verborgen war, einen zweiten Versuch zu geben.

Der Trickbetrüger hatte eingewilligt.

Diesmal wollten sie es im Stehen versuchen, nachdem das Liegen weniger gut funktioniert hatte. Merlan zog die Latzhose aus, die er sich übergeworfen hatte, und war wieder komplett nackt. Er ging in die Hocke, als ziele er auf eine unsichtbare Kloschüssel. Winky umklammerte wieder seine Beine. Candy hielt ihm die Hände, damit er sich in dieser unangenehmen Situation irgendwie abstützen konnte.

Hermes rutschte mit einer Taschenlampe im Mund wie ein Automechaniker unter die Problemstelle und rieb sich die Hand mit einem Riegel Butter ein. Das Beste, was sie für diese Situation bekommen konnten.

„Ich wünschte wirklich, wir hätten ein bisschen Vaseline“, jammerte Merlan.

„Ja, das sind so die Dinge, die man sich herbeisehnt in solchen Situationen“, sagte Winky.

„Luft anhalten!“, ordnete Hermes an.

Merlan atmete langsam aus, wieder ein und hielt die Luft an. Die Hand des Hermes verschwand in Merlans Hintertürchen. Der verzog die Augen und versuchte, an etwas Schönes zu denken. Irgendwie fiel ihm dabei aber der Song „Take it Easy“, von den Eagles ein. Was kein bisschen half.

„HA!“, schrie Hermes.

Merlan spürte, was er meinte. Die Hand war dabei, ihn zu verlassen, und sie zog etwas mit sich. Kurz vor dem männlichen Muttermund musste Hermes noch mal kräftig ziehen. Was nie dafür gemacht war, dehnte sich auf eine Breite von acht Zentimetern, um sich kurz darauf wieder zusammenzuziehen wie eine verängstigte Schnecke.

„Auuuuuuu“, machte Merlan.

Candy ließ ihn los. Er kippte nach vorne über.

„Hab das Ding!“, sagte Hermes und hielt die braun gesprenkelte weiße Seife hoch. „Das war vielleicht anstrengend.“

„Es tut mir leid“, fiepte Merlan, „dass es für dich so unangenehm war.“

Der massive Candy half Merlan auf die Beine und in seine Latzhose. „Setz dich auf den Stuhl da“, sagte er und zog einen vom großen Tisch, wo die Insassen normalerweise Platz nahmen, um zu lesen. „Das ist wie nach einem großen Stuhlgang. Wenn du dich auf deinen Hintern setzt, fühlst du dich bald wieder besser.“

„Ich will aber nicht sitzen“, sagte Merlan und wurde von Candy hingesetzt. Das Gefühl, das er dabei verspürte, war gänzlich neu und konnte nur als unangenehm und nicht empfehlenswert beschrieben werden.

Unterdessen verschwand Hermes, um seine Hand zu reinigen. Die Seife hatte er auf den Tisch neben Merlan gelegt.

Candy und Winky hatten Platz genommen.

Merlan warf einen Blick auf die Seife und schleckte sich die Lippen ab. Noch konnte er sich beherrschen, doch schon bald würde ein weiteres Geheimnis über ihn ans Tageslicht kommen. Selbstbeherrschung war keine seiner Stärken.

Hermes kam zu ihnen, der sich gerade mit einem Spray alles von Ober- bis Unterarm nachträglich desinfizierte. „Sag mal, warum hast du Tabea nicht verheimlicht, dass du so vergesslich bist?“, fragte er.

Das war eine gute Frage. Antworten gab es verschiedene. Sollte er gleich hier und jetzt eingestehen, dass er ein hundsmiserabler Lügner war?

„Das war die bescheuertste Kennenlern-Geschichte aller Zeiten“, merkte Winky an.

„Na, es gibt bestimmt noch blödere“, sagte Candy. „Urteile nicht gleich so hart, mein Freund.“

„Aber genau so ist es gewesen“, bestätigte der Trickbetrüger. „Sicher zwischen dem Tag, an dem sie mich angeschossen hat, und der Therapie lagen einige Jährchen, aber Beziehungen sind immer gleich. Man lügt sich gegenseitig so lange an, bis man es nicht mehr aushält, scheißt drauf, ob man die Gefühle des anderen verletzt, und gesteht endlich, dass man chinesisches Essen und Fahrradtouren eigentlich scheiße findet und zackbum aus die Maus.“

Merlan verlor die Beherrschung. Er griff nach der Seife und biss ein großes Stück ab.

Candy wandte sich in Entsetzen ab.

Hermes sprang auf, verengte die Augen zu Schlitzen und kreischte: „Igitt … was zum Henker …“

Winky drehte sich zur Seite und übergab sich auf den Boden.

Merlan schloss die Augen, hielt die Seife mit beiden Händen, und kaute genüsslich. „Ihr müsst entschuldigen. Nebst vielen Dingen leide ich unter dem Pica-Syndrom.“

„Was soll denn das sein?“, fragte Winky und wischte sich den Mund ab. „Du hast doch nicht mehr alle Hummel-Figuren in einer Reihe!“

„Das Pica-Syndrom verursacht einen spontanen Heißhunger auf Dinge, die allgemein als nicht genießbar oder ekelerregend gelten. Ich habe es mir nicht ausgesucht“, sagte er und nahm einen weiteren Bissen von der Seife.

„Wäääää“, machte Hermes und drehte den Kopf weg.

Zumindest eines Gutes hatte das Pica-Syndrom. Merlan war sich sicher, dass jemand, der eine verschissene Seife fraß, so sicher von sexuellen Übergriffen durch seine Mitinsassen war, wie man nur irgendwie sein konnte.

Merlan hatte bis hierhin ein tragisches Leben geführt. Bis heute wusste er nicht richtig, was seine Vergesslichkeit auslöste. Mit Sicherheit hatte man es ihm schon mehrfach erklärt, aber er konnte es einfach nicht abrufen, wenn er die Information brauchte. Das Schlimmste aber war, wie der Stress in seinem Alltag seine Vergesslichkeit verschlimmerte.

Ja richtig, Stress. Schlimmer als Krebs, das Finanzamt und die GEZ zusammen. Die Quelle von mehr Krankheit und Übel in unserer Zeit als alles andere. Wo die Angst einen Menschen nicht fertigmacht, kommt der Stress und gibt einem den letzten Schubs in die Grube der Verzweiflung.

 

Jedes Mal, wenn Merlan auf dem Amt war, um ein Formular auszufüllen, vergaß er eine wichtige Information und wurde von dem Mann hinter dem Schalter angeschrien, er solle sich beeilen. Meistens verließ er peinlich berührt das zuständige Amt und kam nie wieder. Beim Dönerimbiss um die Ecke quengelte man hinter ihm in der Schlange, wenn er sich nicht entscheiden konnte, während Merlan versuchte, herauszufinden, warum er den Imbiss überhaupt aufgesucht hatte. Manchmal irrte er den ganzen Tag, von morgens früh bis abends spät durch den Feinkost Albrecht1 auf der Suche nach etwas, das er dringend brauchte, aber nicht beschreiben konnte. Immer wieder griff er nach fremden Einkaufswagen und wurde dafür verbal abgestraft, bis er sich nicht mal mehr traute, um Hilfe zu fragen. Er suchte und suchte so lange, bis man ihn am Abend mit den nicht verkauften Backwaren neben die Mülltonne stellte, wo er oftmals die Nacht verbrachte.2

Einmal hatte er sich getraut, einen Arzt aufzusuchen, um von seinem Leiden zu berichten. Der Stress würde seine

Verfassung verschlimmern und ihn an den Rand des Wahnsinns treiben. Dieser nickte, machte sich Notizen und verschrieb Merlan Tal ein Heilmittel, das all seine Probleme lösen würde. Leider verlor Merlan den Zettel auf dem Weg zur Apotheke, wo er aus Scham nur einen teuren Erkältungstee kaufte.

Danach war er nie wieder zum Arzt gegangen.

Ja liebe Kinder, Merlan mogelte sich durchs Leben wie ein cleverer Mensch in einem dummen Körper. Überall an Unterarm und Innenfläche der Finger hatte er sich Notizen mit dem Gröbsten gemacht. Seine Adresse und Name. Das Passwort zu seinem Android-Account. Die Pin seines Girokontos. Er ging sogar so weit, dass er sich ein kompliziertes System schuf, um sich an Eselsbrücken zu erinnern, die ihm im Alltag helfen sollten. Und dabei hielt er den Informationsaustausch mit seinen Mitmenschen immer so vage wie möglich. Er verwende oft keine Namen, sondern nannte jeden und alle „Du“ oder „Sie“. Wenn er einkaufen geschickt wurde, brachte er einfach das mit, was seiner Meinung nach ein gutes Abendessen ergeben würde.

Auch seine berufliche Laufbahn war von seiner Behinderung maßgeblich beeinträchtigt worden. Den Job als Qualitätstester in der Kondomfabrik war er losgeworden. Aufgrund seiner Kondition und mangelnder sexueller Erfahrung ging er lange davon aus, es handele sich um eine Wasserballon-Fabrik und er wäre dafür zuständig, dass die Ballons beim Aufprall platzten.

Im Hotelwesen war er gefeuert worden, da er nicht dazu taugte, Weckrufe durchzuführen, und auch als Taxifahrer entpuppte er sich als komplett unfähig, da er immer nach halber Strecke vergaß, wohin der Gast wollte, und ihn einfach irgendwo absetzte.

„Hey“, sagte Hermes und klatschte in die Hände. „Bist du irgendwohin abdriftet?“

„Bitte entschuldigt“, sagte Merlan und nahm den letzten Happen der Seife in den Mund.

„Wenn du so vergesslich bist“, fragte Winky, „warum hast du nie dein Gedächtnis trainiert?“

„Na ja, ich war von Anfang an nie ein geistiger Schwarzenegger“, erklärte Meran. „Mein Hirnmuskel ist, was er ist. Dazu wurde bei mir im Kindesalter ADHS diagnostiziert. Jahrzehntelang war ich auf Ritalin, bis ich endlich den Absprung geschafft habe. Ich habe Angststörungen. Mein Gehirn versucht zwar, sich zu erinnern, aber irgendetwas in meiner Seele verhindert das. Dazu kommen noch die mehrfachen Schädelbrüche in meiner Jugend, die zweifelsohne die Durchblutung meines Gehirns erschwert haben.“

„Na das ist mal eine Ausrede, die mehr Leute benutzen könnten“, sagte Hermes sarkastisch.

„Was wurde denn aus dem Hund?“, fragte Candy.

„Ach der ja, also um euch ein halbgares Kapitel mit drögem Ende kurzzufassen: Es gab eine bombastische Verfolgungsjagd. Michael Bay hätte es nicht besser hinbekommen. Explosionen, attraktive Frauen in knappen Kleidern. Den ein oder anderen flotten Spruch. Dann hatte ich den Skoda Fabia eingeholt. Die blonde Frau, der Mann mit den grauen Haaren stiegen samt Junge und Hund aus und verschwanden in einem Haus.“

„Und dann?“, fragte Hermes.

Merlan zuckte mit den Schultern.

Die drei Knasties schauten sich ratlos an.

„Du kannst dich nicht erinnern?“, fragte Winky.

Merlan nickte und zeigte mit dem Finger auf ihn.

Alle drei stöhnten auf und warfen die Hände in die Luft.

„Bist du sicher, dass du nicht vielleicht nur ein miserabler Arsch bist, mit dem man nicht mal mitfühlen kann?“, fragte Hermes. „Dein Bullshit häuft sich zu gerade unüberschaubaren Proportionen. Ganz ehrlich, wenn du die Seife nicht gefressen hättest, hätte ich jetzt Lust, sie dir wieder reinzuschieben. Verstehe diesen Akt der Nächstenliebe nicht falsch. Wir haben uns hier eigentlich getroffen, um dich zusammenzuschlagen und dich irgendwo blutend in der Ecke liegen zu lassen.“

„Weißt du, was du gemacht hast, nachdem du den Hund und den Jungen eingeholt hast? Irgendetwas?“, fischte Winky nach Details.

„Ich bin zur Arbeit. Ich war damals ja noch im Restaurant von Paulchen Panther angestellt, ihr wisst doch, das, welches ich versucht habe zu überfallen. Mit Tabea als Bedienung.“

„Du bist zur Arbeit?“, fragte Candy ungläubig.

„Sicher. Mein Pflichtbewusstsein war noch intakt. Außerdem wollte ich, nachdem ich meine Frau verloren hatte, nicht auch noch meine Arbeit verlieren.“

„Tabea?“, fragte Hermes genervt, „die du mit der Ausrede vom Nutella-Monster hast sitzen lassen? In der Therapie?“

„Pssst“, sagte Merlan und schaute sich nervös um. „Die Trademark-Anwälte von Ferrero sind überall. Bitte nenne es nicht so. Es heißt Nuss-Nugat-Monster oder aber Nathaniel Uterus Tella.“

„N-Punkt-U-Tella?“, fragte Hermes. „Nutella?“

„Schhhhttt“, machte Merlan und gestikulierte ihm wild, die Klappe zu halten.

„Das wird mir zu blöd, ich gehe“, sagte Winky, stand auf und verließ die Szene.3

„Jetzt will ich aber eine Sache von dir wissen, bevor wir hier über irgendetwas Weiteres reden“, forderte Hermes. „Hast du den Jungen ermordet? Stimmt es, was man über dich sagt? Bist du ein Kindermörder?“

„Tja äh also …“, setzte Merlan an. „Das erinnert mich an Folgendes …“

„Ausgerechnet jetzt erinnert er sich …“, sagte Candy.

Das Bild der Gefängnisbücherei verschwamm und anstelle dessen trat …

1 Aldi.

2 Mit dem einzigen Vorteil eines fast frischen Frühstücks am Morgen.

3 Wir verabschieden uns an dieser Stelle von einigen Lesern, die sich schon reichlich bedient fühlen. Danke, dass Sie bis hierhin dabei waren. Ich hoffe, Sie bald wieder bei einem meiner Bücher begrüßen zu dürfen. Zum Abschluss noch ein Trick: Zwingen Sie sich, das Buch zu Ende zu lesen, und platzieren Sie es auf dem Klo in griffbereiter Nähe. Sie werden sehen, Sie kommen wieder! Dieses Stück „Literatur“ ist einfach zu schmutzig, um es wegzulegen. Mu-ha-ha!