Henkersmahl

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»Bis vor einem halben Jahr hat sie als Hacker-Fahnderin bei der Kölner Kriminalpolizei gearbeitet, als Angestellte in einer Datenverarbeitungsgruppe. Sie ist in der Lage, sich Zugang zu fast jedem System zu verschaffen«, antwortete Max.

Florian versuchte, seine Überraschung zu verbergen. Er ließ den seltsamen kleinen Laut, der über seine Lippen kam und sich fast wie ein Pfeifen anhörte, in ein Hüsteln übergehen. Scheinbar unberührt sinnierte er: »Bei der Kripo. Ich dachte, sie wäre eher links?«

»Ist sie auch«, sagte Max. »Deswegen hat sie den Job ja quittiert. Außerdem war er wohl nicht gerade üppig bezahlt.«

»Als Beamtin verdient man doch nicht schlecht«, hielt Florian dagegen.

»Soviel ich weiß, war sie nicht verbeamtet, sondern angestellt. Sie hat quasi für einen Hungerlohn gearbeitet. Aber nachdem sie ihr Informatikstudium abgebrochen hatte, war sie erst einmal froh, überhaupt einen Job zu haben.«

»Wollen wir hoffen, dass sie sich bei uns ein bisschen wohler fühlt.«

Max horchte auf: »Spricht da aus deinen Worten etwa mehr als nur berufliches Interesse?«

»Ach was.« Florian wandte sich schnell der Kaffeekanne zu und goss sich noch eine Tasse ein. »Schon mal was von Paragraf 202 a StGB gehört?«

»Ja, aber ich habe den Inhalt nicht mehr exakt präsent«, antwortete Max. Er legte seinen Kopf schräg und sah Florian erwartungsvoll grinsend an.

»Das Ausspähen von Daten kann mit einer Gefängnisstrafe von bis zu drei Jahren bestraft werden. Meinst du, Jana ist sich darüber im Klaren?«

»Sicher. Sie weiß, was sie tut. Aber wenn die Richter gnädig sind, kommt man auch mit einer Geldstrafe davon.« Max begann zu flüstern. »Und wenn ich es nicht für absolut notwendig halten würde, hätte ich sie nicht um diesen Gefallen gebeten. Immerhin stehen Menschenleben auf dem Spiel.«

Florian sah Max erstaunt an. »Weißt du etwa mehr? Erzähl.«

»Gedulde dich noch ein bisschen.« Max runzelte die Stirn. »Wenn ich sicher bin, erfährst du es als Erster. Nur so viel: Ich glaube, da ist eine ganz große Schweinerei passiert. Und mit den Leuten, die dahinter stecken, ist bestimmt nicht zu spaßen.«

4

Bingo.

Florian legte den Hörer auf. Ausgerechnet jetzt fiel sein Blick auf den Stapel Autogrammkarten, der auf der Ecke seines Schreibtischs lag. Sie waren bereits signiert und zeigten Jörn Carlo mit leicht nach vorn geneigtem Oberkörper und einem Grinsen, das er selbst für ein strahlendes Lächeln hielt. Viele Fans anscheinend auch. Über 50 Autogrammanfragen erreichten die Redaktion jeden Tag. Ein Glück, dass er sich darum, seit er fest als Redakteur angestellt war, nicht mehr kümmern musste.

Florians Blick wanderte zu seiner Armbanduhr. Es war gleich 12 Uhr, er hatte den ganzen Vormittag wie besessen herumtelefoniert, und nun war er endlich zufrieden. Er hatte für die Sendung nicht nur die Zusagen vom Leiter des Gesundheitsamtes und einer Referentin aus dem NRW-Innenministerium, sondern auch die Zusage einer indirekt Betroffenen. Gerade hatte er ausgiebig mit der Ehefrau eines Opfers telefoniert, die ihren bereits bewusstlosen Mann ins Krankenhaus gebracht hatte. Sie war bereit, als Talkgast aufzutreten, und eventuell würde auch ihr Mann, der heute entlassen werden sollte, ins Studio kommen. Florian hatte bereits mit ihm telefoniert. Er war überzeugt davon, dass er in Kombination mit seiner Frau und den politischen Talkgästen die optimale Besetzung für die Talkshow wäre. Das Ehepaar, das sich glücklicherweise gut ausdrücken konnte, war emotional zwar sehr angegriffen, aber das war nicht schlecht, denn Emotionen ließen die Quoten steigen. Außerdem hatten sie mehrfach betont, dass sie großes Vertrauen in die Sensibilität des Moderators hätten. Florian verzog bei diesem Gedanken die Unterlippe. Wenn die wüssten, wie Carlo über manche seiner Talkgäste nach der Sendung herzog. Irgendwie, dachte Florian, mochte er sie alle nicht.

Aber unter journalistischen Gesichtspunkten betrachtet, war Carlo in jedem Fall der optimale Talkshow-Moderator, immer gut vorbereitet, schlagfertig und zu allem Überfluss auch noch attraktiv. Er war groß, schlank, und seine braunen halblangen Locken machten ihn zum Traum aller potenziellen Schwiegermütter.

Sie produzierten Diens-Talk in der Vulkanhalle, einem denkmalgeschützten Klinkerbau in Köln Ehrenfeld, auf dem Gelände des ehemaligen Leuchtstoffröhrenwerks Vulkan. Die Halle bot Platz für bis zu 800 Personen und hatte ein schönes Ambiente, für ihre Talkshow war sie die optimale Location. Wenn Jörn Carlo dienstags nach der Sendung in der Bar auftauchte, in der die Talkgäste mit ihren Angehörigen, die im Publikum gesessen hatten, einen Drink nahmen, rissen sich die Leute darum, noch einmal ein paar Worte mit ihm zu wechseln. Carlo genoss es, im Mittelpunkt zu stehen und angehimmelt zu werden.

Der Einzige, der offen zugab, mit Carlo Probleme zu haben, war der Leiter der Abteilung journalistische Unterhaltung beim Sender, für den sie Diens-Talk produzierten. Trotz der guten Quoten. Vermutlich, weil Barrick ahnte, dass Carlo den Menschenfreund nur mimte und weil er es hasste, dass er so gut aussah. Barrick selbst, mit Spitzbart, Geheimratsecken und Kasperlgesicht konnte joggen, so viel er wollte, selbst mit einem perfekten Körper würde sich kaum eine Frau für ihn interessieren.

Florian bemerkte, dass Barrick ihm tatsächlich leid tat, und er wunderte sich darüber. Er sah vom Notizzettel auf, den er sich für die Vorbereitung des Talks gemacht hatte, denn es hatte geklopft. Wenn das so weiterging, würde er den Showablauf zur Redaktionskonferenz nicht mehr fertig bekommen.

Eddie Klump steckte den Kopf zur Tür herein. Er war Boulevardjournalist und hatte hin und wieder spannende Tipps auf Lager, die sich für die eine oder andere Sendung als hilfreich erwiesen. Das Entscheidende aber war, dass Eddie und Max sich schon lange kannten, und die beiden sich gegenseitig immer wieder Informationen zusteckten. Eddie stammte aus einer alteingesessenen Kölner Familie und beherrschte das Klüngeln aus dem Effeff. Er agierte, wie die meisten Kölner, ganz nach dem Adenauer-Motto ›Man kennt sich, man hilft sich‹, und nicht zuletzt dadurch hatte er einen bemerkenswerten beruflichen Erfolg, der über Jahre anhielt. Gegen Klüngeln war im Grunde nichts einzuwenden, fand Florian. Solange es nicht kriminell wurde und Angestellte im öffentlichen Dienst und Unternehmen sich unter der Hand gegenseitig Vorteile verschafften, in dem sie sich Geld und Aufträge zuschoben. Doch genau dafür war Köln ja bekannt. Florian selbst hatte den guten Kontakten seiner Mutter zu verdanken, dass er als Redakteur bei Profi Entertainment arbeitete.

Jetzt, da er Eddie zur Tür hereinkommen sah, dachte er daran, dass Max ihn erst vor einiger Zeit mit dem Journalisten bekannt gemacht hatte, aber Max hatte sicher gewusst, warum. Kürzlich erst waren sie miteinander in der Schreckenskammer versackt, einer Brauereikneipe in der Ursulagartenstraße, bei reichlich Kölsch und abschließend Ramazzotti. Seither hatten sie sich nicht mehr gesehen.

Eddie machte einen erschöpften Eindruck auf Florian, er hatte tiefe Schatten unter den Augen, die trotz seiner rechteckigen Brille sichtbar waren.

»Hast du dir gestern wieder so eine Dosis verpasst?«, fragte Florian lachend.

»Um Himmels willen, eine Kölsch- und Kräutervergiftung im Monat reicht mir. Was du siehst, ist alles ehrlich erarbeitet. Sehe ich wirklich so schlimm aus?«

»Das letzte Mal hast du schlimmer ausgesehen. Aber setz dich doch.« Er deutete auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand, und Eddie nahm Platz.

»Was gibt’s?«, fragte Florian.

»Ihr macht doch eine Sendung über diese unerklärlichen Krankheitsfälle, oder?«

»Ja. Hat Max dir davon erzählt?« Florians Aufmerksamkeit stieg schlagartig.

»Genau. Vielleicht habe ich eine interessante Neuigkeit für dich«, sagte Eddie. »Max meint, dass das was für dich wäre. Habe ihm gerade kurz ›Hallo‹ gesagt.«

»Um was geht’s denn?«

»Um eine mögliche Verbindung zwischen den Krankheitsfällen und einem Todesfall in Ehrenfeld.« Eddie schlug seine langen Beine übereinander. Wie Florian war er fast zwei Meter groß, nur erheblich schlanker.

»Einem Todesfall?«

»Ja, am Wochenende hat es einen erwischt, auf einer Party in Ehrenfeld. Offiziell heißt es, er sei an den Folgen einer Schlägerei gestorben, aber ich vermute, dass er der Erste ist, den die mysteriöse Krankheit gekillt hat.«

»Bist du sicher?«

»Ich war selbst auf der Party. Der Typ hat sich tatsächlich geprügelt, aber das war völlig harmlos. An den Verletzungen ist er mit Sicherheit nicht gestorben, er hatte nur ein blaues Auge, eine gebrochene Nase und ein paar Schnittwunden.«

»Weißt du, wie er heißt?«

»Peter Mallmann. War gerade mal 32.«

»Warum hat er sich geprügelt?«

»Ist mit dem neuen Freund der Gastgeberin aneinandergeraten. War ziemlich eifersüchtig. Offenbar hatte er sich noch Chancen bei ihr ausgerechnet.«

Florian schwieg einen Moment. »Und wieso bist du so sicher, dass er nicht an der Schlägerei, sondern infolge der Krankheit gestorben ist?«

»Erstens hat der Notarzt eine entsprechende Vermutung angestellt, denn Peter Mallmann hat anscheinend ähnliche Symptome wie die anderen Erkrankten gezeigt. Zweitens war die Kripo vor Ort und hat den Staatsanwalt informiert und um eine Obduktion gebeten und drittens war ich heute früh in der Uniklinik. Da habe ich gehört, wie zwei Ärzte mit demselben Kripobeamten, der auch auf der Party war, über erste Ergebnisse der Obduktion sprachen.«

»Ja, und?« Florian hielt die Luft an, aber Eddie biss erst einmal in ein Brötchen, das er aus seiner Jackentasche gezogen hatte.

 

»Hab’ seit gestern Abend nichts mehr gegessen«, sagte er entschuldigend und nahm noch einen Bissen.

»Na, dann guten Appetit.«

Nach einer Ewigkeit, zumindest kam es Florian so vor, fuhr Eddie kauend fort: »Der Tote hatte in seinem Magen eine Substanz, wie sie auch in den Mägen von anderen Erkrankten entdeckt wurden. Was es ist, habe ich bisher nicht herausbekommen.«

Florian pfiff durch die Zähne: »Bleibst du dran?«

»Na logo.«

»Und hältst mich auf dem Laufenden?«

»Gut möglich.« Eddie erhob sich. »Aber denk doch mal drüber nach, ob der bestinformierte Journalist der Stadt nicht auch ein hervorragender Talkgast für euren schönen Carlo wäre.«

Einen Moment lang sah Florian ihn sinnierend an, dann sagte er unbestimmt: »Mal sehen.«

Eddies Blick blieb herausfordernd und schließlich gab Florian sich geschlagen: »Ist schon o. k. Du bist der Beste, und ich denke, ich find ein Plätzchen in der Sendung für dich.«

Eddie lächelte und wollte gerade gehen. Er hatte schon die Klinke in der Hand, als Florian sagte: »Wie heißt der Kripobeamte, der sich um den Fall kümmert?«

»Rössner, Marco Rössner. Der Name der Gastgeberin ist übrigens Yvonne Kosuczek, sie ist eine alte Freundin von mir und wohnt in Ehrenfeld in der Taku­straße 15.«

»Danke. Ich melde mich nach der Konferenz.«

Eddie hob grüßend die Hand und ging. Florian raffte in Windeseile seine Unterlagen zusammen, dann eilte er in das Büro schräg gegenüber.

Während Florian Max alles erzählte, stürzte Theo, der Praktikant, mit einer Mail ins Zimmer: »Um 17 Uhr gibt es eine Pressekonferenz.«

Beide sahen sich an.

Florian dachte daran, dass er die Hintergrundinfos und Fragenvorschläge für sämtliche Talkgäste schreiben musste. Sie sollten morgen früh fertig sein. Und die Abläufe waren natürlich auch noch nicht fertig. Das bedeutete, dass er gleich nach der Redaktionskonferenz, die in einer Viertelstunde beginnen sollte, Megastress haben würde. Trotzdem, die Pressekonferenz hatte absolute Priorität, er musste unbedingt hin.

»Ich gehe«, sagte er und fragte: »Hat Jana schon etwas herausgefunden?«

»Nein, bis jetzt nichts. Sie kommt nicht ins System, die EDV bei der Kripo ist aus irgendeinem Grund blockiert.«

Florian holte tief Luft. »Mist. Was meinst du, wann können wir mit Informationen rechnen?«

»Vielleicht erfahren wir im Laufe des Tages etwas«, sagte Max. »Jana bleibt dran, und ich übrigens auch. Wenn es stimmt, was Eddie erzählt hat, müsste sie auch auf Informationen über Peter Mallmann stoßen.«

»Wie macht sie das eigentlich?«

Max senkte den Blick. »Das fragst du sie am besten selbst.« Auffällig beschäftigt blätterte er in seinen Aufzeichnungen.

»Auf jeden Fall haben wir jetzt ausreichend Stoff für den Talk morgen Abend. Die Stunde Sendezeit kriegen wir gefüllt. Ich bin hochgespannt, ob sich die Mitteilungen nachher auf der Pressekonferenz mit Janas Rechercheergebnissen und den Informationen von Eddie decken.«

Die Tür wurde aufgerissen, die Redaktionssekretärin raunte: »Beeilt euch, die warten schon. Die Konferenz hat angefangen, sie haben bereits mehrmals versucht, euch anzuklingeln.«

Die Sekretärin, ein junges blondes Mädchen, das noch an das Gute im Menschen glaubte, stutzte, denn sie hatte bemerkt, dass Max den Hörer neben den Apparat gelegt hatte.

Beide erhoben sich und griffen nach den Unterlagen. Max überprüfte alles auf Vollständigkeit und murmelte: »Ablaufplan der Sendung, Zuspielfilme, alles da.« Ungerührt legte er den Hörer auf und sagte: »Komm, lass uns einen Zahn zulegen, wenn Regine so trommelt, verheißt das nichts Gutes.«

5

Florian und Max standen vor der Fahrstuhltür und starrten auf das Display der Fahranzeige. Der Fahrstuhl hing offenbar fest, denn die Anzeige K1 leuchtete permanent rot auf. Dort im Souterrain befand sich das Archiv und einige Schnittplätze, an denen Profi Entertainment die Zuspielfilme der Sendung produzierte. Wahrscheinlich hatte mal wieder irgendein Kollege den Fahrstuhl blockiert.

»Verdammt, immer wenn man es eilig hat«, fluchte Max. »Komm, wir nehmen die Treppe.«

Aus dem oberen Stock kam ihnen einer der Aufnahmeleiter entgegen. Im Vorbeilaufen frotzelte er: »Hält fit, was?«

»So fit, dass ich bald einen Kreislaufkollaps kriege«, antwortete Max ärgerlich. Er blieb stehen und hielt sich einen Moment am Treppengeländer fest.

Florian wunderte sich, denn Max machte doch sonst nicht so schnell schlapp. »Nun los, komm schon«, sagte er und musterte ihn prüfend.

Beide nahmen die nächsten Stufen, Max jedoch deutlich langsamer. Als sie im dritten Stock angekommen waren, beugte Max sich über das Treppengeländer und rief hinunter: »Um wie viel Uhr geht’s eigentlich los? Verzögern sich die Stellproben?«

»Nein, sieht gut aus, wir können den Zeitplan vermutlich halten. Ich melde mich, falls ich etwas anderes höre«, rief der Aufnahmeleiter, der bereits im zweiten Stock angelangt war, zurück.

»Hauptsache, morgen läuft alles glatt«, grummelte Florian. Stellproben, die dazu dienten, dass Licht, Kamera, Ton und Ablauf der Sendung so aufeinander abgestimmt waren, dass alles reibungslos funktionierte, führten sie in ihrer Show derzeit eigentlich selten durch, aber diese Woche hatten sie eine neue Bühnendekoration bekommen und deshalb mussten die Elemente der Show neu koordiniert werden, obwohl im Prinzip alles beim Alten blieb.

Mittlerweile war beim Diens-Talk, der seit zwei Jahren lief und am Dienstagabend von 21 bis 22 Uhr einen Marktanteil von durchschnittlich 16 Prozent erzielte, fast alles reine Routine. Auch die Redaktionssitzungen.

Als Florian und Max nun mit Schweißperlen auf der Stirn in den Konferenzraum eintraten, schlug ihnen eine Wolke schlechter Luft entgegen. Irgendjemand hatte Knoblauch gegessen, viel Knoblauch. Florian ging zum Fenster und kippte es, obwohl er es am liebsten weit geöffnet hätte, aber dafür war es noch zu kalt. Dann setzte er sich an den ovalen Konferenztisch, der vor einem großen Flachbildschirm stand, auf dem ununterbrochen das Programm eines Nachrichtensenders lief. Er wunderte sich darüber, dass Hermann Barrick, Leiter der journalistischen Unterhaltung beim Sender, auch hier war. Üblicherweise zitierte er Regine und Max zu Besprechungen zu sich ins Büro. Außer ihm und Max, Regine Liebermann und Hermann Barrick waren zwei weitere Redakteure anwesend, Katja und Curt. Sie waren Kettenraucher wie Regine.

Regine ergriff das Wort: »Um es kurz zu machen. Wir haben das Thema der nächsten Sendung gekippt. Es lautet nicht mehr Köln in Angst, sondern Brutale Diebe, Jugendbanden in Nordrhein-Westfalen.«

»Das ist nicht dein Ernst.« Max bekam einen roten Kopf.

»Doch. Und zwar aus gutem Grund.« Regines Stimme klang ungewohnt scharf.

Barrick lehnte sich zurück, reckte den Hals und schob den Unterkiefer vor, wie immer, wenn er sich einerseits unbehaglich, aber dennoch wunderbar mächtig fühlte.

»Der Leiter des Gesundheitsamtes und die Referentin aus dem NRW-Innenministerium haben vor 20 Minuten ihre Teilnahme an der Show abgesagt«, erklärte Regine.

Florian unterbrach sie entgeistert: »Was? Ich habe doch gerade noch mit beiden telefoniert.«

»Nun, was Sie so unter gerade noch verstehen. Wir machen eine aktuelle Talkshow, und die aktuelle Entwicklung sieht nun mal so aus, dass beide nicht zur Verfügung stehen. Anstatt nun wie wild Ersatz-Talkgäste aus der Politik zu suchen und in Anbetracht der knappen Zeit maximal Gäste der B- oder C-Kategorie zu kriegen, machen wir lieber eine Top-Sendung zu einem ganz anderen Thema …«

»… das aber niemanden wirklich interessiert«, führte Max den Satz fort. »Ich habe zwar, wie ihr wisst, die Sendung über die Jugendbanden schon vorbereitet, aber im Brennpunkt stehen doch jetzt ganz andere Dinge! Die Menschen wollen erfahren, was es mit den dubiosen Krankheitsfällen auf sich hat. Außerdem erwarte ich in den nächsten Tagen einen heißen Tipp über einen bevorstehenden Bandenkrieg, der sich in Köln-Bickendorf abspielen soll. Wäre doch schade, das Pulver einfach zu verschießen.«

Max sah Regine an, und die Hoffnung, dass sie ihm zustimmte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Er fuhr fort: »Außerdem haben wir Neuigkeiten. Ein Toter aus Ehrenfeld scheint Opfer der unerklärlichen Krankheit zu sein.«

»Woher wollen Sie das denn wissen?« Barrick funkelte ihn an. Seine Geheimratsecken ließen sein Gesicht noch länglicher erscheinen, als es eh schon war.

»Aus sicherer Quelle«, erwiderte Max.

»Und um welche geht es dabei, wenn ich fragen darf?« Barricks Stimme klang beinahe spöttisch.

»Das würde ich jetzt lieber für mich behalten. Informantenschutz. Aber ich gehe davon aus, dass Sie das spätestens übermorgen in der Zeitung lesen werden.« Max’ Antwort war schroffer als nötig ausgefallen.

»Die Quelle wollen Sie also nicht nennen und wir können sie auch nicht benutzen«, stellte Barrick fest. »Treu und Glauben als Basis der Sendung? Dafür riskiere ich nicht den Kopf bei der Programmdirektion.«

»Moment mal, Herr Barrick. Wenn wir die Sendung machen, dann wird die Quelle sogar mit auf dem Talksofa sitzen«, versetzte Max.

Regine schritt ein: »Woher stammen die Informationen, Max, und wer ist dein geheimnisvoller Talkgast?«

»O. k.« Max verzog das Gesicht. »Eddie Klump vom Kölner Blick. Er weiß eine Menge und war sogar auf der Party, auf der der junge Mann starb.«

»Dieser windige Boulevard-Journalist«, erregte Barrick sich. »Dem ist doch jede Lüge recht, um sich bei uns in die Sendung zu schleichen.« Barrick, bereits Ende 50, kam tatsächlich in Fahrt. »Machen Sie die Sache wasserdicht. Kommen Sie mir nicht mit diesem Klump und bringen Sie mir klare Belege, dann reden wir weiter.«

Max schluckte. »Da ist noch etwas. Florian Halstaff und ich haben heute Morgen per Anruf auf dem Handy eine Drohung erhalten. Wenn wir die Sendung nicht kippen würden, müssten wir mit dem Schlimmsten rechnen. Was immer das auch heißen mag.«

Max und Florian sahen Barrick erwartungsvoll an, gespannt, wie er auf diese Mitteilung reagieren würde.

Barrick stutzte einen Moment. »Sie nehmen das doch nicht etwa ernst?«

»Auf jeden Fall so ernst, dass wir die Sendung unbedingt machen sollten. Nun erst recht.« Max drehte sich zu Florian, der nachdrücklich nickte.

»Keine Frage.«

»In diesem Fall gebietet allein meine Fürsorgepflicht, Ihnen die Sendung zu untersagen«, erwiderte Barrick ironisch. »Nicht, dass Ihnen etwas zustößt. Sie wissen ja, für solche Fälle sind wir beim Sender nicht versichert.«

Max starrte Barrick an und schwieg. Jetzt schaltete sich Regine ein, die wie immer in einem dunklen Designerkostüm am Tisch saß, das ihr halblanges blondes Haar perfekt kontrastierte.

»Wie auch immer, fest steht, dass uns die Gäste aus der Politik abgesprungen sind. Das Problem haben wir in jedem Fall und die Chancen, so kurzfristig hochkarätigen Ersatz zu bekommen, stehen schlecht. Die haben uns nur Mitarbeiter aus dem Mittelbau anzubieten.«

Florian und Max sahen sich an. Die beiden anderen Redakteure sagten keinen Ton.

Schließlich unternahm Max einen letzten Versuch. »Vielleicht lässt sich ja doch noch was machen. Persönliche Kontakte ins Ministerium gibt es doch, oder?« Er wandte sich fragend an Florian.

»Vielleicht, vielleicht auch nicht. Meine Mutter hat Drähte dorthin. Aber wir könnten auch schlicht und ergreifend eine ganz offizielle Anfrage an den Direktor der Uniklinik richten, der wäre als Talkgast auch gut geeignet.«

»Einen Versuch ist es auf jeden Fall wert«, versetzte Max und sah seine Chefin erwartungsvoll an. »Wir sollten nicht so schnell aufgeben.«

Es entstand eine kurze Pause. Die anderen beiden Redakteure, Katja und Curt, schwiegen nach wie vor. Regine rutschte unruhig auf ihrem Stuhl hin und her und schlug die Beine übereinander. Florian bemerkte, dass sie mit ihrem linken Fuß auf und ab wippte. Sie sah einen Moment lang Barrick an, wie um in seinen Gesichtszügen nach Anzeichen für einen eventuellen Meinungsumschwung zu suchen und zündete sich eine weitere Zigarette an, bevor sie abschließend sagte: »Danke für das Angebot. Dennoch, es bleibt dabei, wir machen die Sendung zum Thema Jugendbanden.«

»Frau Liebermann und ich sind einer Meinung.« Hermann Barrick legte in einer entschiedenen Geste seinen Stift, den er in der Hand gehalten hatte, weit vor sich auf den Tisch. Florian kannte ihn inzwischen gut genug, um zu wissen, dass dies das Zeichen dafür war, dass die Debatte nun beendet sei.

 

Max rang um Selbstbeherrschung. Er hatte sich vom Stuhl erhoben und beugte sich vor: »Vermutlich hätten Sie zwischen den Talks zur Bandenkriminalität in Nordrhein-Westfalen gern etwas Militärmusik zur Auflockerung, oder?«

Barrick erwiderte trocken: »Gar keine schlechte Idee, sollten Sie sich direkt drum kümmern.«

»Zu kurzfristig«, sagte Max knapp.

»Und mit Kontakten zur Big Band der Bundeswehr kann ich leider nicht dienen«, ergänzte Florian.

»Dann bemühen Sie sich darum. Ich bin gespannt auf die Ergebnisse.« Barrick sah Max und Florian an, griff seine Aktentasche, verabschiedete sich knapp von Regine und verließ mit steifen Schritten das Zimmer.