Mord in der Buchhandlung

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Brigitte Glaser
Die Kündigung

Ottos Mops kotzt. Nein, ich übe keine Jandlschen Zungenbrecher, Ottos Mops kotzt wirklich. Gestern aufs Sofa, heute Nacht auf den Flokati im Wohnzimmer. Eklig. Ottos Mops ist eine Plage. Da ist es auch kein Trost, dass ich mit Ottos Mops immer nach draußen darf, wenn er muss. Mit Hunden dürfen selbst Italiener raus, und die haben deutlich strengere Ausgehverbote als wir. In Italien gieren die Nachbarn von Hundebesitzern sogar danach, mal mit dem Wauwau an die frische Luft zu dürfen. Das ist bei uns leider nicht der Fall. Keiner will mir Ottos Mops abnehmen. Dabei gehört er mir gar nicht, er gehört Otto König. Wir haben ihn entführt, und das war – wie sich danach herausstellte – ein bisschen übereilt.

Ja, wenn ich Doro eingeweiht hätte … Aber erstens gab es wenig Grund, anzunehmen, dass wir erfolgreich sein würden, und zweitens wollte ich bei Doro nicht die Hoffnung wecken, wir könnten ihren Buchladen retten. Vor einer Woche rief sie mich völlig erschüttert an und erzählte, dass der König ihr von jetzt auf gleich das Ladenlokal gekündigt hätte. Mich traf fast der Schlag. Schließlich ging es um den Laden, in dem ich in Studienzeiten auf Camus’ »Die Pest« stieß, den Laden, in dem ich von dem ersten Gehalt mein erstes Hardcover »Hundert Jahre Einsamkeit« von Gabriel García Márquez kaufte, den Laden, in dem ich ein paar Jahre später Harry Rowohlt aus Flann O’Briens »Trost und Rat« lesen hörte, den Laden, in dem ich unzählige Stunden beim Schmökern verbracht habe, den Laden, in dem ich – auch dank Doro und ihrer Kollegen – wahre Schätze entdecke, den Laden, wo ich jedes Buch, und sei es noch so speziell, innerhalb kürzester Zeit bekomme. Es ging um den schönsten, besten, großartigsten Buchladen weit und breit. Und den sollte es bald nicht mehr geben?

Das kann nicht sein, das darf nicht sein, sagte ich mir und überlegte, wie ich den Buchladen retten könnte. Deshalb habe ich die anderen angerufen und zu MäcDo bestellt. Das war kurz vor Beginn der Corona-Ausgangssperre. Noch hatten Kneipen und Restaurants geöffnet, noch gab es ein Fünkchen Hoffnung, dass es uns nicht so hart treffen würde. Wir wählten den Tisch am Fenster, Ralle, Valery, der Hirt und ich, und wir fielen auf. Erstens, weil wir zu viert am Tisch saßen – das war zu diesem Zeitpunkt schon eine Seltenheit –, und zweitens, weil wir nicht wie normale MäcDo-Besucher aussahen, mit Ausnahme von Ralle vielleicht. Der mampfte seinen BigMäc, als würde er dies öfter tun. Valery dagegen knusperte eher lustlos an einer Apfeltasche und der Hirt hatte, weil er halt irgendwas bestellen musste, ein Mineralwasser vor sich stehen. Damit das klar ist: Ich habe MäcDo nur als Treffpunkt gewählt, weil er nun mal direkt gegenüber von Doros Buchladen liegt.

»Sie hat wieder wunderschön dekoriert.« Valery legte die Apfeltasche ab und wies mit dem Kopf auf Doros Schaufenster. »Nur Bücher in Zartgrün, Rosa und Mauve. Ein echter Hingucker. Schaut doch nur, wie viele Leute stehen bleiben.« Wie stets war sie adrett in Pink und Grasgrün gekleidet. Aus dem pinken Mohairpulli lugte ein weißes Krägelchen.

Der Hirt nahm einen Schluck Wasser, das ihm nicht schmeckte, Ralle biss in seinen BigMäc, ich nickte halbherzig. Natürlich wussten wir alle, dass unter den Büchern in Zartgrün Valerys neuester Landhauskrimi lag, aber keine unserer Neuerscheinungen.

»Bist du sicher, dass der König ihr gekündigt hat?« Ralle wischte Remoulade aus seinem gewaltigen Bart. Ich weiß, dass er ihn regelmäßig bei dem türkischen Barbershop neben dem »Centrale« am Markt stutzen lässt, weil er davon jedes Mal Fotos auf Facebook postet. Die Barbershop-Fotos nutzt er, um für seine Krimis zu werben, denn neben dem Bart sind darauf immer seine T-Shirts zu sehen, die er stets mit dem Cover seines neuesten Buchs bedruckt. Diese T-Shirts trägt er dauernd, der Mann ist seine eigene Litfaßsäule.

»Ende Juni muss sie raus«, erklärte ich. »Nicht mal eine Fristverlängerung hat er ihr gewährt.«

Otto König gehören drei Spielhallen im Viertel, die größte nur zwei Häuser von Doros Laden entfernt. Die zwei Häuser hat er im letzten Jahr gekauft und sich nun auch noch das Haus mit dem Buchladen unter den Nagel gerissen.

»Der König will sein Imperium vergrößern. Als ob unser Viertel noch einen Spielsalon braucht«, ätzte der Hirt und rückte die schicke rahmenlose Brille zurecht. Teuer, aber mit Understatement, so kleidet er sich gerne. Perlgrauer Anzug, weißes Hemd mit offenem Kragen und so weiter.

»Doros Laden ist das Herz des Viertels! Für jeden hat sie ein offenes Ohr!« Valery erneuerte den Knoten in dem grasgrünen Tüchlein über dem weißen Krägelchen. Immer trägt sie so ein Tüchlein, wahrscheinlich wegen der Falten. Nirgendwo sind sie so verräterisch wie am Hals. »Der Laden ist eine Wohlfühloase zwischen Spielhallen, Ein-Euro-Läden und Handyshops«, ereiferte sie sich weiter. »Ein Ruhepol nach hektischen Einkäufen, die letzte Rettung, wenn man schnell ein Geschenk braucht. Zum Beispiel einen Landhauskrimi und dazu die Gartenhandschuhe in passendem …«

»Entscheidend ist, dass in ihrer gut sortierten Belletristik-Abteilung Klassiker genauso zu finden sind wie aktuelle Neuerscheinungen«, fuhr ihr der Hirt in die Parade.

»Wirklich entscheidend ist, dass sie auch Krimis von Selfpublishern vertreibt und nicht nur Bestseller in den Regalen stehen.« Ralle funkelte den Hirt an und knüllte seine Papierserviette zusammen. »Und dass man bei ihr stundenlang schmökern darf«, fügte er hinzu.

Der Hirt scherte sich nicht um das Funkeln. »Genug Gemeinplätze getauscht«, bestimmte er und schaute mich an. »Sag endlich, warum wir hier sind! Ich habe nicht unbegrenzt Zeit.«

Noch vor einer Stunde fand ich meine Idee genial, die Krimizunft des Viertels zusammenzutrommeln, um gemeinsam einen Plan zur Rettung von Doros Laden zu schmieden. Wer weiß besser, wie man einen windigen Spielhallenbetreiber und aufstrebenden Immobilienhai in seine Schranken weist als die Experten für Mord und Totschlag, Kidnapping und Erpressung, Intrigen und Fallgruben? Ja, wir alle schreiben Krimis. Verbrechen sind unser täglich Brot. Allerdings können sich nicht alle die Butter aufs Brot leisten, denn die Schriftstellerei ist ein schwieriges Geschäft. Auf der Erfolgsleiter stehen wir auf verschiedenen Stufen: ganz oben Oskar Hirt mit seinen literarischen Krimis – immer mit gesellschaftlich relevanten Themen, alles Bestseller, mehrfach preisgekrönt, immer Hardcover. Es folgt Valery Kohler, Erfinderin der pausbäckigen Hobbyermittlerin Frau Wuttke, die ganz ordentlich von ihren Landhauskrimis leben kann. Ein paar Stufen tiefer ich. Meine Regiokrimis um das Ermittlerduo Listig und Schlau werfen schon was ab, doch ohne meine Halbtagsstelle im Wasserwirtschaftsamt komme ich nicht über die Runden. Ganz unten dann Ralle Rankowski, Verfasser düsterer Survival- und Endzeit-Krimis, bei denen selten mehr als einer überlebt. Er verlegt seine Bücher selbst, Kennzeichen: schwarzes Cover mit roter Dracula-Schrift. Wovon Ralle lebt, weiß keiner so genau, aber immerhin reicht sein Geld für regelmäßige Besuche im Barbershop.

Wir kennen uns, weil Doro uns im Herbst immer zu ihrer Lesereihe »Wenn die Blätter fallen« einlädt und wir als Local Heroes den Krimiabend bestreiten. Immer in derselben Reihenfolge: Ralle macht mit seinem Hang zu blutrünstigen Szenen und Apokalypsen den Anfang, dann beruhigt Valery die Gemüter mit eleganten Verbrechen in beschaulichem Landhausflair, ich folge mit meinem witzigen Ermittlerduo Listig und Schlau und der letzte Part gehört stets dem Hirt, Spannung pur bei höchster literarischer Qualität. Am Ende alle noch mal nach vorne, donnernder Applaus. Ich halte mich dabei gerne im Hintergrund, ich hasse es, im Rampenlicht zu stehen oder mich in den Vordergrund zu drängen – im Gegensatz zu den anderen. Von denen ist jeder davon überzeugt, der Beste zu sein, aber der Hirt lässt sie am Ende des Abends gern spüren, dass er in einer ganz anderen Liga spielt. Was immer für ein bisschen schlechte Laune sorgt.

Natürlich hat Doro unsere Bücher, und nicht nur die Neuerscheinungen, immer vorrätig. Bei Ralle allerdings nur die aus dem laufenden Jahr, denn er haut alle drei Monate einen neuen Krimi raus. Und natürlich liegen unsere Bücher auch in ihrem Schaufenster, falls die Farbe stimmt. Nur der Hirt bekommt immer ein Schaufenster für sich allein, wenn er eine Neuerscheinung hat, da spielt die Farbe dann keine Rolle. Bei all ihrer Fürsorglichkeit und ihrem Gerechtigkeitssinn ist Doro auch Geschäftsfrau und der Hirt zieht halt Publikum, da rollt der Rubel. Ralle bringt das in Rage, Valery stichelt darüber und ich leide stumm. Uns verbindet also keineswegs das Motto der Drei Musketiere: »Einer für alle, alle für einen«.

Deshalb fragte ich mich im MäcDo, ob es wirklich eine gute Idee war, bei der Rettung von Doros Laden auf die Krimizunft zu bauen. Damals machte ich fünf Kreuze, weil ich Doro nichts von diesem Treffen erzählt hatte. Hätte ich doch nur … Aber hinterher ist man immer schlauer.

»Ist doch klar, weshalb wir hier sind«, dröhnte Ralle. »Doros Laden muss bleiben, wo er ist. Bei den Immobilienpreisen kann sie sich hier im Viertel kein anderes Geschäft leisten.«

»Da hält sie sich wacker und ideenreich gegen den Online-Handel mit dem großen A, und jetzt zwingt sie ein Spielhöllenbesitzer in die Knie. Das ist bitter!«, seufzte der Hirt. »Ich setze gerne eine Unterschriftenliste auf, unterschreibe als Erster und lasse die Aktion über meine Online-Kanäle laufen«, erklärte er großzügig. »Was haltet ihr von einer Demo? Bring ich auf den Weg und laufe vorneweg. Wenn wir nicht für den lokalen, unabhängigen Buchhandel kämpfen, wer dann?«

»Glaubst du im Ernst, der König lässt sich von einer Online-Aktion oder einer Demo beeindrucken, selbst wenn du vorneweg läufst?«, blaffte Ralle.

 

»Ist der König eigentlich immer noch mit der blonden Susi aus dem Nagelstudio zusammen?«, erkundigte sich Valery. »Da lass ich immer meine Nägel machen. Ich könnte mal ein Wörtchen …«

»Ein Wörtchen!« Ralle imitierte Valerys hohe Stimme. »Ein Wörtchen von Frau zu Frau … Noch nie davon gehört, dass hinter einem gierigen Mann eine noch gierigere Frau steht?«

»Worte sind unsere Waffen. Auch wenn du nicht so gut damit umgehen kannst wie wir«, giftete Valery zurück.

»Meine Rede«, stimmte der Hirt ihr zu.

»Der König hat sich noch nie für Wörter interessiert«, warf ich ein. »Den beeindrucken nur Zahlen und Tatsachen.«

»Schaffen wir Tatsachen und kidnappen ihn«, schlug Ralle vor. »Wir schleppen ihn zu der einsamen Eifelhütte, wo mein letztes Survival-Training gestartet ist. Ohne Guide braucht er mindestens einen, eher drei Tage, bis er auf bewohntes Gebiet vorstößt. Der Mann sitzt tagein, tagaus in seinen Spielhallen oder dem »Centrale«, der kennt Natur nur aus dem Fernsehen. Glaubt mir, der wird schnell mürbe. Dann tauche ich auf, inkognito, Sturmhaube und so weiter, verspreche, ihn heim ins Himmelreich zu führen, wenn er die Kündigung für Doros Laden zurücknimmt. Natürlich schriftlich mit allem Pipapo. Fertig ist die Laube!«

»Du denkst die Dinge nicht zu Ende, Ralle«, tadelte ihn der Hirt und straffte seinen Oberkörper unter dem weißen Hemd. »Selbst wenn der König in der Situation die Kündigung zurücknimmt, sowie er wieder in der Stadt ist, wird sein Anwalt den Vorgang für null und nichtig erklären. Sein Mandant habe nur unter Druck, nach Kidnapping, zugestimmt und so weiter. Zudem wird er Doro verdächtigen, hinter der Sache zu stehen. Und du willst doch nicht im Ernst, dass sie deine Schwachsinnsaktion ausbaden muss?«

»Hast du einen besseren Vorschlag?«, bellte Ralle ihn beleidigt an.

»Was haltet ihr von Gift?«, schlug Valery vor und in ihren Augen zeigte sich ein seltsames Glitzern. »Wenn ich die Andeutungen von Susi bei meinen letzten Nagelstudiobesuchen richtig deute, dann gibt es mehr Leid als Freud in ihrer Beziehung zum König. Ich könnte ihr – ganz unverbindlich – Möglichkeiten aufzeigen, wie sie König loswird. Ich kenne mich nicht nur mit allen möglichen Giften aus, ich weiß auch, wo man sie besorgen kann.« Sie lächelte unschuldig, ihr weißes Krägelchen strahlte, aber mir dämmerte plötzlich, was für ein verschlagenes Biest hinter dieser biederen Fassade lauerte, und ich fragte mich, ob es diese Kombination war, die ihre Bücher so erfolgreich machte.

»Das ist doch kompletter Unsinn«, bügelte der Hirt ihren Vorschlag ab. »Als ob Königs Tod die Kündigung rückgängig machen würde!«

»Das wäre nur Schritt eins. Schritt zwei und drei folgen auf dem Fuß. Habe ich in Frau Wuttkes drittem Fall sehr realistisch durchgespielt«, blaffte Valery.

»Das ist Fiktion, Valery, Fiktion!«, rief der Hirt so laut, dass die Gespräche am Nachbartisch verstummten. Schnell senkte er seine Stimme wieder: »Wir wollen einen Buchladen retten, keinen Mord begehen. Um den König anzugreifen, muss man ihn studieren, seine Schwachstellen finden. Was ist mit Geld? Wir alle wissen, wie sehr die Immobilienpreise in den letzten Jahren hier im Viertel explodiert sind. Verdient der König mit seinen Spielhallen wirklich so viel, dass er innerhalb von zwei Jahren drei Häuser in bester Lage kaufen kann? Oder arbeitet er nur als Strohmann? Und wenn ja, für wen?«

»Doro sagt, er hat das Haus bar bezahlt«, berichtete ich.

»Bar! Das stinkt doch nach Schwarzgeld«, tönte Ralle.

»Das Nagelstudio von Susi hat er auch bar bezahlt«, ergänzte Valery. »Susi sagt, der König hält nicht viel von Banken. Alles Verbrecher.«

»Recht hat er, was die Banken angeht!« Ralle nickte. »Aber der Spur des Geldes zu folgen, ist aufwendig und langwierig«, gab er zu bedenken.

»Man muss natürlich wissen, wo man ansetzt und wen man fragt.« Der Hirt verschränkte seine Arme im Nacken und lehnte sich zurück.

»Und so ein heller Kopf wie du weiß das natürlich«, zwitscherte Valery und kicherte giftig. »Beste Beziehungen in die Finanzwelt …«

Ich zog scharf die Luft ein und überlegte hastig, ob ich zur Entspannung der Situation schon meinen Trumpf ausspielen sollte. »Vielleicht«, unterbrach ich Valery. »Vielleicht gibt es …«

»Wartet, wartet, Leute, mir kommt da eine ganz andere Idee!« Ralle sprang vom Sitz auf und blickte aufgeregt in die Runde. »Wir bauen dem König Nacht für Nacht die Türen seiner Spielhallen mit Büchern zu. Dazu müssen wir lediglich die öffentlichen Bücherschränke plündern, die nutzen die meisten Leute eh nur, um Leseschrott loszuwerden. Ein paar Quadratmeter Bücher aus meinem Keller könnt’ ich selbst beisteuern.«

»Survival Band eins bis fünf, oder was?«, zündelte der Hirt, der bei Ralles Aufspringen nur durch beherzten Zugriff das Umkippen seines Wasserbechers verhindert hatte.

»Mir gefällt das«, konterte Valery. »Eine tolle Aktion für Social Media. Damit schaffen wir es auch hundertprozentig in die Zeitungen. Denkt mal an Schlagzeilen wie: ›Spielhallenbesitzer muss sich durch Goethes Gesamtwerk kämpfen‹ oder ›Drei Fragezeichen versperren Zockern den Weg‹.«

»Rechnet mal hoch, wie viele Bücher wir für die Aktion bräuchten«, warf der Hirt ein. »Selbst wenn du zwei Quadratmeter Survival-Krimis im Keller hast und wir alle Bücherschränke des Viertels leeren, es würde nicht reichen.«

Auch ich war skeptisch: »Königs Spielhallen schließen um 2 Uhr, wir müssten mitten in der Nacht anrücken. Parkplätze gibt es um die Zeit nirgendwo mehr. Wie sollen wir die Bücher abliefern?«

»Papperlapapp! Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg«, wischte Valery meine Bedenken vom Tisch.

»Ich könnte einen Gabelstapler besorgen«, bot Ralle an.

»Ich sage euch, was passiert, wenn es uns tatsächlich gelänge, genügend Bücher für die breiten Glastüren der Spielhalle beizubringen«, unkte der Hirt weiter. »Der Turmbau vor Königs Türen würde ewig dauern, weil wir alle Bücherfreaks sind. In diesen Bücherschränken wird nämlich nicht nur Schrott abgeladen, in Wirklichkeit sind das wahre Schatzkammern. Und wir könnten unmöglich Bücher aufstapeln, ohne auch in die Bücher hineinzuschauen, oder? Wahrscheinlich wären wir bis in die Morgenstunden am Stöbern und Durchblättern.«

»Beim Bücherstapeln würdest du tatsächlich eines meiner Bücher aufschlagen und lesen?«, erkundigte sich Ralle misstrauisch.

»Na ja, ich denke eher an … richtige Entdeckungen«, redete sich der Hirt heraus.

»Sind meine Bücher etwa keine Entdeckungen? Nur weil ich sie selbst verlege? Nur weil ich nicht bei einem großen Verlag bin?«, grollte Ralle.

Ich kannte diese Diskussionen und fürchtete neuen Zwist. Zudem sah es so aus, als würde in der Runde jeder Vorschlag zu Staub diskutiert werden. Es war an der Zeit, endlich meinen einzigen Trumpf in den Ring zu werfen.

»Ich kenne eine echte Schwachstelle von König«, verriet ich und hatte mit dem Satz die Aufmerksamkeit aller. »Sein Hund, dieser fette Mops. Der König macht keinen Schritt ohne ihn. Jeden Morgen sitzt er mit ihm vor dem ›Centrale‹.« Bei Luigi trinke ich auch gelegentlich meinen Espresso. Deshalb weiß ich das und auch, was der König für ein Geschiss um den Hund macht. Fressie, Fressie, Küsschen, Küsschen und so weiter.

»Stimmt.« Ralle nickte.

»Davon hat Susi auch gesprochen«, fiel Valery ein. »Der darf sogar bei den beiden im Bett schlafen, was Susi widerlich findet.«

»Was schlägst du vor?«, wollte der Hirt wissen.

»Na ja«, setzte ich an, aber weiter kam ich nicht.

»Entführung, ist doch klar«, grätschte mir Ralle ins Wort. »Aber dafür müssen wir mindestens zu dritt sein. Einer, der den König ablenkt, einer, der die Leine durchschneidet, und einer, der den Hund packt. Der sollte einen ordentlichen Sprint hinlegen können. Kriegt das einer von euch hin?«

»Nordic Walking«, sagte ich und Ralle lächelte mitleidig.

»›Krimizunft entführt Hund für einen guten Zweck‹, die Überschrift ist auch nicht schlecht«, begeisterte sich Valery. »Wir könnten die Aktion filmen und daraus ein Kunstevent machen.«

»Könnte tatsächlich erfolgsversprechend und öffentlichkeitswirksam sein«, ließ der Hirt sich vernehmen. »Die Botschaft: Eine Buchhandlung im Viertel gehört einfach zur Grundversorgung. Dafür kämpfen wir! Ich mache das Live-Video und übernehme den Kontakt zur Presse und den Social-Media-Kanälen.«

Erst traute ich meinen Ohren nicht, dann glitt ein Lächeln über mein Gesicht. Eine gemeinsame Aktion anstelle unserer ewigen Sticheleien? Einigkeit, wo sonst nie Einigkeit herrschte? Mein Trumpf zog, und das verschaffte mir eine stille Befriedigung. Manchmal sind die leisen Töne erfolgreicher als die lauten.

»Wir müssen uns beeilen«, mahnte Ralle. »Je schneller, desto besser.«

Wir nickten. Schließlich kannten wir die deprimierenden Bilder aus Italien. Wir wussten, dass die Tage, in denen der König mit seinem Mops vor dem »Centrale« sitzen konnte, gezählt waren. Der Virus machte nicht vor Landesgrenzen Halt, die Krise würde auch unser Viertel erreichen und Straßen und Plätze leerfegen.

»Morgen Vormittag«, schlug Valery vor und alle nickten.

Die Rollen waren so schnell verteilt wie bei unserer Herbstlesung: Valery sollte den König ablenken, ich die Leine durchschneiden, Ralle den Hund entführen und der Hirt das Ganze filmen. Ralle war für Sturmhauben, Valery fürs Verkleiden. Jeder, wie er will, entschieden wir demokratisch.

Am nächsten Morgen saßen kaum noch Leute vor dem »Centrale«. Wir fürchteten schon, die Aktion abblasen zu müssen, aber der König rauschte mit seinem Mops zur üblichen Zeit an. Er hockte sich auf seinen Stammplatz, der Mops ließ sich zu seinen Füßen nieder. Valery, mit Doris-Day-Perücke verkleidet, wartete bereits im Schatten der Eingangstür. Ralle mit aktuellem T-Shirt und doch ohne Sturmhaube schlenderte scheinbar ziellos über die Straße. Mit meinem schärfsten Küchenmesser in der Tasche trank ich am Tisch neben dem König einen Espresso. Der Hirt saß drei Tische weiter hinter der »Süddeutschen« verborgen, das Handy einsatzbereit neben sich auf dem Tisch. Eine solche Szenerie kannten wir aus dem Effeff, Szenen dieser Art hatte jeder von uns schon mal geschrieben. Man musste dabei immer alle Handelnden im Blick behalten, das war das Entscheidende.

Es ging los.

Großer Auftritt Valery. »Otto!«, kreischte sie, stürzte auf den König zu, und der Hirt zückte sein Handy. »Otto, die Susi hat nicht übertrieben. Die neue Frisur steht dir fantastisch!«

Verwirrt, geschmeichelt, wie auch immer, der König griff prüfend in sein Haar – und ich nach meinem Messer. Was gar nicht nötig war, denn der König ließ beim Griff ins Haar die Leine los. Der Mops, von seiner plötzlichen Freiheit überrascht, watschelte hinter Herrchens Rücken ein paar Schritte in Richtung Straße. Schon kam Ralle angesaust, schnappte sich das Viech und rannte davon.

»Nur die Koteletten müssten etwas kürzer sein«, krönte Valery ihren Auftritt. »Bussi, Bussi, bye-bye, Otto.« Sie hauchte einen Kuss auf die Hand und schickte ihn in Königs Richtung. Beim Abgang versuchte sie einen lasziven Hüftschwung à la Marilyn Monroe, aber daran musste sie noch arbeiten, fand ich. Der Hirt steckte Handy und Zeitung ein, winkte dem Kellner und zahlte. Der König bemerkte, dass der Hund weg war, und begann zu zetern. Bevor auch ich mich davonmachte, kniff ich mir in den Arm. Es schmerzte. Kaum zu glauben, die Aktion hatte wirklich geklappt.

Eine Stunde später trafen wir uns in einem Café und entwarfen den Erpresserbrief an König. Valery bestand darauf, ihn zu Hause mit ausgeschnittenen Buchstaben zusammenzubasteln. Wenn schon Erpresserbrief, dann stilecht. »Ich schick einen Fahrradboten ins Centrale. Luigi kann den Brief dann König geben«, meinte Valery, und Ralle fragte, ob wir nicht auch noch Geld von König erpressen könnten, davon habe der Kerl ja genug. Der Hirt bekam einen Tobsuchtsanfall. Dass damit das Robin-Hood-Hafte der Aktion verloren gehe, der Kampf Arm gegen Reich, dass er, Hirt, an der Aktion nur teilgenommen habe, um ein Zeichen zu setzen: für den kleinen inhabergeführten Buchladen gegen die Immobilienhaie der Stadt. Ralle hielt dagegen, dass er selbst arm und der König stinkreich sei. Am Ende setzte sich der Hirt durch und zur Strafe weigerte sich Ralle, den Mops über Nacht bei sich zu behalten. Das musste dann der Hirt übernehmen.

Am nächsten Morgen hatte das »Centrale« geschlossen, und einen weiteren Tag später war das ganze Land im Lockdown. Der König schien wie vom Erdboden verschluckt zu sein. Der Erpresserbrief lagerte beim »Centrale«, einen weiteren steckten wir in den Briefkasten der Spielhalle, der aber ohnehin nie geleert wurde. Wir waren buchstäblich auf den Hund gekommen. Nach zwei Wochen gaben wir Luigi Bescheid, er solle dem König sagen, wir wüssten, wo sein Hund steckt. Doch der König meldete sich nicht.

 

Seither reichen wir den Mops alle zwei Tage von einem zum anderen weiter. Er kotzt alles voll, vor allem Sachen, die schwer zu reinigen sind. Lesesessel. Heizkörper. Für das Überleben von Doros Buchladen hätten wir das noch eine Zeit lang ertragen, aber Doro hat selbst eine Lösung gefunden: ein Ladenlokal in einer Nebenstraße, nicht weit von der bisherigen Lage, nur einmal um die Ecke, das Angebot einer treuen Kundin. Sogar größer als das alte Geschäft, dadurch wird ein lang gehegter Traum wahr: Doro baut ein kleines Café in den Laden ein. Der König kann sie mal, sagt sie.

Die Krise meistert sie, so wie sie alle Krisen meistert: Sie hält durch, sie lässt sich nicht kirre machen, sie pflegt ihre Kontakte, sie improvisiert, sie erfindet sich neu. Natürlich rührt es sie, dass wir ihren Laden retten wollten. Aber den Mops kann sie nun wirklich nicht gebrauchen – dafür Ralle umso mehr. Der arbeitet jetzt als Fahrradkurier für sie. Er fährt im ganzen Viertel Bücher aus, und wenn er auf sein T-Shirt angesprochen wird, zaubert er seine neueste Survival-Story aus dem Hut und verkauft auch gelegentlich eine.

Derweil müssen wir anderen reihum den Hund hüten. Manchmal kommt mir der Verdacht, wir haben dem König mit der Entführung einen Gefallen getan. Der wollte den kotzenden Mops bestimmt längst loswerden. Nun überlege ich, ob ich den Mops beim Gassigehen einfach vor dem »Centrale« anbinde und zurücklasse. Irgendeiner wird sich bestimmt seiner erbarmen. Tierlieb sind die Menschen ja auch in Zeiten der Krise, manche sogar noch mehr als zuvor. So ein Mops ist eine angenehme Gesellschaft. Wenn er gerade mal nicht kotzt.