Von Casanova bis Churchill

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Auszüge aus Lord Byrons Tagebuch an Augusta, 1816

Clarens, 18. Sept. 1816: Gestern, den 17. September 1816 – bin ich (mit Hobhouse) zu einem Ausflug in die Berge von ein paar Tagen aufgebrochen. Ich will ein kurzes Tagebuch führen und die Ereignisse jeden Tages für meine Schwester Augusta aufzeichnen.

17. Sept.: Um fünf aufgestanden; verliessen Diodati ungefähr um sieben in einer der Landkutschen (einer Charaban3), unsere Diener zu Pferd: Wetter herrlich; der See ruhig und klar; Mont Blanc und die Aiguille von Argentieres beide sehr deutlich zu sehen; die Seeufer schön. In Lausanne vor Sonnenuntergang angekommen; angehalten und in Ouchy geschlafen.

H. ging fort, um mit einem Herrn Okeden zu Abend zu essen. Ich blieb in unserer Karawanserei (obwohl in das Haus von H.’s Freund eingeladen – zu faul oder müde, oder sonst etwas, um hinzugehen) und schrieb einen Brief an Augusta. Ging um neun ins Bett – Leintücher feucht: fluchte, zog sie heraus und warf sie – der Himmel weiss wohin: wickelte mich in die Wolldecken ein und schlief wie ein Kind von einem Monat bis fünf Uhr des [Satzende].

19. Sept.: Um fünf aufgestanden: den Wagen herumgeschickt. Die Berge bis Montbovon zu Pferd überquert und auf Maultieren und, wegen des Kletterns, auch zu Fuss; die ganze Strecke schön wie ein Traum, und jetzt für mich fast genauso verschwommen. Ich bin so müde; denn, obgleich gesund, habe ich doch nicht die Kräfte wie noch vor wenigen Jahren. In Mont Davan frühstückten wir; nachher an einem Steilhang abgestiegen, gestürzt und einen Finger aufgerissen; das Gepäck machte sich ebenfalls los und fiel eine tiefe Schlucht hinunter, bis ein grosser Baum es aufhielt: fluchte; holte das Gepäck; Pferd müde und stolprig; stieg auf ein Maultier. Als wir uns dem Gipfel des Dent Jamal näherten, mit H. und der ganzen Gesellschaft wieder abgestiegen. Kamen zu einem See, so richtig in der Brustwarze der Brust des Berges; liessen unsere Vierbeiner bei einem Schäfer und stiegen weiter; kamen zu einigen Überbleibseln Schnee, auf den der Schweiss von meiner Stirn fiel wie Regen, er durchlöcherte ihn wie ein Sieb: die Kälte des Windes und des Schnees machte mich schwindlig, aber ich kletterte weiter und immer höher. H. ging bis auf die höchste Zinne; ich nicht, sondern blieb einige Yards unterhalb (wo der Felsenhang eine Öffnung hat). Beim Heruntersteigen stürzte der Führer dreimal; ich fing an zu lachen und stürzte auch – der Abstieg ist glücklicherweise weich, wenn auch steil und schlüpfrig: H. fiel auch, aber niemand verletzt. Der Berg als Ganzes ist prächtig. Ein Schäfer auf einem sehr hohen und steilen Felsen spielte auf seiner Flöte; sehr verschieden von Arkadien (wo ich die Hirten mit langen Musketen statt Stäben und Pistolen in den Gürteln gesehen habe). Die Flöte unseres Schweizer Hirten war süss und seine Melodie wohltuend. Sah eine verlaufene Kuh; man sagte mir, dass sie sich an und über den Felsenspitzen oft die Hälse brechen. Stiegen nach Montbovon hinunter; hübsches, mageres Dörfchen, mit einem wilden Fluss und einer hölzernen Brücke. H. ging Fischen – fing einen. Unser Wagen nicht da; unsere Pferde, Maultiere, etc. ausgepumpt; wir selbst todmüde; aber um so besser – ich werde schlafen.

Die Aussicht vom höchsten Punkt der heutigen Reise umfasste auf der einen Seite den grössten Teil des Lac Léman, auf der anderen die Täler und Berge des Kantons Fribourg und eine unermessliche Ebene mit den Seen von Neuchâtel und Morat, und alles, was die Ufer von diesen und des Genfersees erben: an einem Aussichtspunkt hatten wir beide Seiten des Jura vor uns, mit Alpen die Menge. Als wir an einem Felsrutsch vorbeikamen, empfahl uns der Führer dringend, schneller zu gehen, da die Steine mit grosser Geschwindigkeit fallen und gelegentlich Schaden anrichten: der Rat ist ausgezeichnet, aber, wie guter Rat meistens, undurchführbar, weil die Strasse an dieser bestimmten Stelle so unwegsam ist, dass weder Maultiere, noch Menschen, noch Pferde sich schneller vorwärtsbewegen konnten. Ohne Brüche oder Gefahr davon durchgekommen.

Die Musik der Kuhglocken (denn ihr Reichtum, wie der der Patriarchen, besteht in Vieh) auf den Weiden, (die weit höher hinaufreichen als jeder Berg in England), und die Hirten, die uns von Felsenspitze zu Felsenspitze zuriefen und auf ihren Rohrflöten spielten, an Steilhängen, die fast unerreichbar schienen, mit der Landschaft, die uns umgab, verwirklichte alles, das ich je von einem Hirtendasein gehört oder mir vorgestellt habe: – viel mehr als Griechenland oder Kleinasien, denn dort sind wir ein bisschen zu sehr von der Zunft der Säbel und Musketen; und wenn da ein Stab in der einen Hand ist, kann man sicher sein, ein Gewehr in der anderen zu sehen: – aber dies war rein und ungetrübt – einsam, wild und patriarchalisch: die Wirkung kann ich nicht beschreiben. Als wir fortgingen, spielten sie den «Ranz des Vaches» und andere Weisen, als Lebewohl. Ich habe letzthin meinen Geist mit Natur neu bevölkert.

20. Sept.: Auf um 6. Fort um 8. Die ganze heutige Reise in einem Durchschnitt von zwischen zweitausendsiebenhundert und dreitausend Fuss über dem Meeresspiegel. Dieses Tal, das längste, schmälste, das man für eines der schönsten der Alpen hält, wird selten von Reisenden durchquert. Sah die Brücke von La Roche. Das Flussbett sehr weit unten und tief, zwischen ungeheuren Felsen, und reissend wie der Zorn; – ein Mann und ein Maultier sollen hinuntergestürzt sein, ohne Schaden zu nehmen (das Maultier hat auf alle Fälle Glück gehabt; bevor ich nicht den Mann kenne, werde ich mich hüten, von ihm das gleiche zu sagen). Die Leute sahen frei und glücklich und reich aus (das letztere schliesst keins der ersteren ein): die Kühe prächtig; ein Stier sprang beinahe in die Charaban – «angenehmer Gefährte in einer Postchaise»; Geissen und Schafe sehr gut gedeihend. Ein Berg mit riesigen Gletschern zur Rechten – der Kletsgerberg; etwas weiter der Hockthorn – nette Namen – so weich! – Hockthorn, glaube ich, sehr hochragend und zerklüftet, nur stellenweise mit Schnee bedeckt; keine Gletscher darauf, aber einige gute Wolkenepauletten.

Die Grenze passiert, aus dem Vaud heraus und in den Kanton Bern; das Französische mit einem schlechten Deutsch vertauscht; der Bezirk berühmt für Käse, Freiheit, Besitz und keine Steuern. […] Zum Fluss geschlendert: sah Buben und kleinen Ziegenbock; Böcklein folgte ihm wie ein Hund; Böcklein konnte nicht über einen Zaun kommen und blökte mitleiderregend; versuchte selbst, dem Böcklein zu helfen, wäre aber bald mit ihm in den Fluss gefallen. Ungefähr um sechs Uhr abends hier angekommen. Neun Uhr – im Begriff, ins Bett zu gehen. H. im Nebenzimmer hat sich den Kopf an der Tür angeschlagen und natürlich gegen alle Türen gewettert; heute nicht müde, hoffe aber doch zu schlafen. Frauen plappern drunten: lesen eine französische Übersetzung von Schiller. Gute Nacht, liebste Augusta.

21. Sept.: Früh fort. Das Tal von Simmenthal wie vorher. Der Eingang in die Ebene von Thoun sehr eng; hohe Felsen, bis zur Spitze bewaldet; Fluss; neue Berge, mit grossartigen Gletschern. See von Thoun; weite Ebene mit einem Gürtel von Alpen. Ging hinunter zum Chateau de Schadau; Aussicht den See entlang: überquerte den Fluss in einem Boot, das von Frauen gerudert wurde: Frauen kamen mir jetzt zum erstenmal wieder in den Sinn. Thoun ist eine sehr hübsche Stadt. Die Reise des ganzen Tags war im Hochgebirge und stolz.

22. Sept.: Thoun in einem Schiff verlassen, das uns in drei Stunden über die ganze Länge des Sees brachte. Der See klein; aber die Ufer schön: Felsen bis hinunter zur Wasserfläche. In Neuhause gelandet; an Interlachen vorbeigekommen; dort beginnt eine Kette von Landschaftsbildern, die jede Beschreibung oder Vorstellung übertreffen. An einem Felsen vorbei; Inschrift – 2 Brüder – der eine ermordete den anderen; just der Ort dafür. Nach immer neuen Windungen kamen wir zu einem riesigen Felsen. Mädchen mit Früchten – sehr hübsch; blaue Augen, gute Zähne, sehr helles Haar: ein langes, aber gut geschnittenes Gesicht – erinnerte mich ziemlich an Fanny.4 Kaufte ein paar von ihren Birnen, und klopfte sie auf die Wange; der Ausdruck ihres Gesichts sehr mild, aber gut und gar nicht kokett. Am Fuss des Berges (der Yungfrau, d. h. das Mädchen) angekommen; Gletscher, Giessbäche; einen dieser Giessbäche sieht man von neunhundert Fuss Höhe herunterfallen. Beim Pfarrer untergebracht. Aufgebrochen, um das Tal zu sehen; hörte eine Lawine fallen, wie Donner; sah den Gletscher – ungeheuer. Sturm kam auf, Donner, Blitz, Hagel; alles ganz vollkommen und schön. Ich war zu Pferd; der Führer wollte meinen Stock tragen; ich wollte ihn gerade übergeben, als mir einfiel, dass es ein Stockdegen ist, und ich dachte, der Blitz könnte von ihm angezogen werden; behielt ihn selbst; reichlich behindert damit (und mit meinem Wettermantel), da er zu schwer war, um als Peitsche gebraucht zu werden, und das Pferd war dumm und blieb bei jedem zweiten Donnerschlag stehen. Angekommen, nicht sehr nass; der Mantel ist wasserdicht. H. durch und durch nass; H. suchte Zuflucht in einer Hütte, sandte ihm einen Mann, Schirm und Mantel nach (vom Pfarrer, sobald ich dort war). Das Haus des Schweizer Pfarrherrn ist wirklich sehr gut – viel besser als die meisten englischen Pfarrhäuser. Es ist direkt gegenüber dem Giessbach, von dem ich sprach. Der Giessbach krümmt sich über den Felsen in einer Form wie der Schweif eines weissen Pferdes, der im Wind flattert, so wie man sich den des «fahlen Pferdes» vorstellen könnte, auf dem der Tod reitet, in der Apokalypse. Es ist weder Nebel noch Wasser, sondern etwas zwischen beidem; seine ungeheure Höhe (neunhundert Fuss) gibt ihm eine Welle, eine Krümmung, ein Spreiten hier, ein Verdichten da, wunderbar und unbeschreiblich. Ich glaube, dass dieser Tag, im ganzen genommen, ergiebiger war als alle anderen dieses Ausflugs.

 

23. Sept.: Vor der Bergbesteigung ging ich (7 Uhr morgens) nochmals zu dem Giessbach; die Sonne darauf bildete aus dem unteren Teil einen Regenbogen aller Farben, aber hauptsächlich Purpur und Gold; der Bogen bewegt sich, wie man sich bewegt; ich habe nie etwas Ähnliches gesehen; das gibt es nur im Sonnenschein. Bestiegen den Wengenberg; mittags erreichten wir ein Tal auf der Gipfelhöhe; liess die Pferde stehen, nahm meinen Mantel ab und ging zum Gipfel hinauf, 7000 Fuss (englische Fuss) über dem Meeresspiegel, und ungefähr 5000 über dem Tal, das wir am Morgen verlassen hatten. Unsere Aussicht umfasste auf der einen Seite die Jungfrau mit allen ihren Gletschern; dann den Dent d’Argent, strahlend wie die Wahrheit; dann den kleinen Giganten (den kleinen Eigher); und den grossen Giganten (den Grossen Eigher) und nicht zuletzt das Wetterhorn. Die Höhe der Jungfrau ist 13 000 Fuss über dem Meeresspiegel, 11 000 über dem Tal; sie ist die höchste dieser Kette. Nahezu alle fünf Minuten hörten wir Lawinen hinunterstürzen – wie wenn Gott den Teufel vom Himmel herab mit Schneebällen bewerfen wollte. Von unserem Standort aus, der Wengen Alp, konnten wir all dies auf der einen Seite sehen: auf der anderen stiegen die Wolken aus dem gegenüberliegenden Tal auf und krausten sich zu senkrecht aufragenden Felsschroffen wie der Schaum des Ozeans der Hölle während einer Springflut – er war weiss und schwefelgelb und schien unermesslich tief. Die Seite, die wir hinaufstiegen, fiel (natürlich) nicht so jäh ab; aber als wir auf dem Gipfel ankamen, blickten wir auf der anderen Seite in ein kochendes Wolkenmeer hinunter, das gegen die Felsen anspritzte, auf denen wir standen (diese Felsen waren auf einer Seite fast völlig lotrecht). Blieben eine Viertelstunde; begannen den Abstieg; fast frei von Wolken auf dieser Seite des Berges. Als wir durch die Schneemassen kamen, machte ich einen Schneeball und bewarf H. damit.

Kamen wieder zu unseren Pferden hinunter; assen etwas; stiegen auf; hörten immer noch die Lawinen; kamen zu einem Sumpf; H. stieg ab; H. kam gut hinüber: ich versuchte, mein Pferd darüber zu lenken, das Pferd versank bis zum Kinn, und natürlich waren es und ich zusammen im Schmutz; über und über beschmiert, aber unverletzt; lachte und ritt weiter. Kamen in Grindelwald an; assen zu Abend, stiegen wieder auf und ritten zu einem höheren Gletscher – Zwielicht, aber deutlich erkennbar – sehr schöner Gletscher, wie ein zu Eis erstarrter Orkan. Sternenlicht, wunderschön, aber ein verflixter Weg! Trotzdem sicher heimgekommen; etwas Blitzen; aber der ganze Tag, was das Wetter betrifft, so herrlich wie der, an dem das Paradies gemacht wurde. An ganzen Wäldern verdorrter Kiefern vorbeigekommen, alle verdorrt; Strünke kahl und ohne Rinde, Zweige leblos; geschehen in einem einzigen Winter – ihr Aussehen erinnerte mich an mich und meine Familie.

24. Sept.: Aufgebrochen um sieben; auf um fünf. Am schwarzen Gletscher vorbei, den Berg Wetterhorn zur Rechten; überquerten den Scheideckberg; kamen zum Rosengletscher, der der grösste und schönste der Schweiz sein soll. Ich halte den Bossons-Gletscher in Chamouni für genauso schön; H. nicht. Kamen zum Reichenback Wasserfall, zweihundert Fuss hoch; hielten an, um die Pferde ruhen zu lassen. Erreichten das Tal von Oberhasli; es begann zu regnen; etwas durchnässt; aber doch nur 4 Stunden Regen in 8 Tagen. Kamen zum See von Brientz, dann zu der Stadt Brientz; zogen uns um. H. stiess sich den Kopf an der Türe an. Am Abend kamen vier Schweizer Bauernmädchen aus Oberhasli und sangen Lieder aus ihrer Gegend; zwei der Stimmen schön – die Melodien auch; sie singen auch diese Tyroler Weise und das Lied, das Du, Augusta, so liebst, weil ich es liebe – und das ich liebe, weil Du es liebst; sie singen noch, Liebste, Du weisst nicht, wie mir das gefallen würde, wenn Du bei mir wärst. Die Weisen sind so wild und eigenartig und zugleich von grosser Anmut. Der Gesang ist vorbei: aber von unten höre ich die Klänge einer Fiedel, die mir für meinen Schlaf heut Nacht nichts Gutes prophezeien. Der Härr helfe uns – ich werde hinuntergehen und dem Tanzen zuschauen.

25. Sept.: Die ganze Stadt Brientz war scheint’s in den Räumen unten versammelt; hübsche Musik und vorzügliches Walzertanzen; nichts als Bauern; das Tanzen viel besser als in England; die Engländer können nicht Walzer tanzen, konnten es nie und werden es auch nie können. Ein Mann behielt die Pfeife im Mund, tanzte aber so gut wie die anderen; einige andere Tänze, zu zweien und zu vieren, und sehr gut. Ich ging zu Bett, aber die Lustbarkeit war bis spät und früh im Gange. Brientz ist nur ein Dorf. Früh aufgestanden. Auf den Brientzer See hinausgefahren, in einem langen Kahn, der von Frauen gerudert wurde (eine sehr jung und sehr hübsch – setzte mich zu ihr und fing auch an zu rudern): nach kurzer Zeit legten wir an, und wieder sprang eine Frau herein. Es scheint hier Sitte zu sein, dass die Kähne von Frauen bemannt werden: denn von fünf Männern und drei Frauen in unserem Boot nahmen alle Frauen ein Ruder und nur ein Mann.

[…] Am Abend erreichten wir Thoun: das Wetter war den ganzen Tag recht erträglich; aber da der wilde Teil der Tour vorüber ist, ist es uns gleich: während des wünschenswerten Teils haben wir wirklich sehr viel Glück gehabt, was Wärme und Durchsichtigkeit der Atmosphäre betrifft, und dafür «wollen wir den Herrn loben»!

Quelle: Byron in seinen Briefen und Tagebüchern, dargestellt von Cordula Gigon. Zürich: Artemis Verlags-AG 1963, S. 354–362.

1824
Karl
Friedrich
Schinkel

Freiburg —

Basel —

Liestal —

Solothurn —

Bern —

Neuchâtel —

Yverdon —

Lausanne —

Sion —

Brig —

Simplon —

Mailand

Sion mit Notre-Dame de Valère von der Festungsruine Tourbillon aus gesehen. Bleistift- und Federzeichnng von Karl Friedrich Schinkel (1824).

In der Stadt sind wenig Häuser, die bewohnt aussehen; alles scheint auf Ruinen und alten Gewölben zusammengebaut, mehr der Aufenthalt von Ratten, Eulen und Fledermäusen als von Menschen zu sein.

Karl Friedrich Schinkel (1824)

Gotischer Dom am Wasser, die Innenansicht eines Bergwerks in Katalonien, Palastgarten mit Blick auf Kaschmir, die – imaginierte – Villa Laurentia von Plinius dem Jüngeren: Karl Friedrich Schinkels hochpoetische Bilderwelten, seien es zur praktischen Verwendung gedachte Architekturskizzen, seien es Reiseimpressionen oder Opern-Bühnenbilder, sind zum Hinknien schön. Man kommt aus dem Staunen gar nicht mehr heraus. Der Mann war ein Genie, ein Multitalent – Architekt, Maler, Denkmalpfleger, Bühnenbildner, Möbeldesigner. Als «Schrittmacher der Moderne» (Jürgen Tietz) hatte er dem klassizistischen Berlin seine visuelle Signatur aufgeprägt, die preussische Residenzstadt geformt. Man begegnet seinen Bauten auf Schritt und Tritt, von der Neuen Wache Unter den Linden über das Alte Museum bis hin zum Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Dass Berlin den Beinamen «Spree-Athen» bekommen hat, ist sein Verdienst.

1824 reiste er zum zweiten Mal nach Italien, ein berühmter Baumeister, Familienvater, ein Mann in den besten Jahren. Er reiste als Architekt in Staatsdiensten, nach einem genauen Terminplan und mit Aufträgen seines Ministers Altenstein. Vor allem ging es darum, für das im Bau befindliche Museum (heute: Altes Museum) Anschauungsmaterial in puncto Inneneinrichtung und Ausstattung zu sammeln.

Die Schweiz war dabei nur ein Nebenschauplatz. Dass er sie mit Musse durchquert und auch dort einiges gesehen, notiert und skizziert hat, wird in der Forschungsliteratur kaum je erwähnt. Dabei hat er ein ausführliches Tagebuch über die Reise von Basel bis zum Simplonpass geschrieben. Aber schon in den ersten Abschnitten zeigt sich: Er war ein ungeheuer begabter Zeichner, ein begnadeter Schreiber war er nicht. Gewissenhaft schildert er, was ihm auf der Reise aufgefallen ist; oft geht er bei baulichen Besichtigungen ins Detail, das gehört zu seinem Beruf. Und das klingt dann im Abschnitt über Neuchâtel zum Beispiel so: «Das Rathaus der Stadt, ein ansehnliches Gebäude aus Quaderstein mit einem reichen Säulenvestibül, einer sehr kühnen Treppe und prächtigen Sälen ist eine würdige Stiftung eines reichen Einwohners und wird herrlich unterhalten.» In seiner Beschreibung wird noch so vieles mit den Prädikaten schön, ansehnlich, herrlich, anmutig versehen sein … Nun gut, dazwischen hält er doch ein paar prägnante Sätze bereit. Zum Beispiel die lakonische Beobachtung, die Menschen, besonders die Frauen, seien «in diesem schönen Lande nicht schön». Aufschlussreich sind auch seine ästhetischen Urteile, etwa wenn er Städte vergleicht, wobei Basel für einmal über die Massen gelobt wird. Schinkel begeisterte die Aussicht von der Pfalz beim Münster: «[…] altertümlicher rücksichtlich der Gebäude und grandioser in Beziehung auf die Landschaft, übertrifft dieses Panorama noch den Blick, den man von der Dresdener Terrasse hat.» Der Eindruck des pflichtbewussten Absolvierens verstärkt sich noch, wenn man Schinkels Aufzeichnungen mit jenen seiner ersten Italienreise von 1803 bis 1805 vergleicht: «Während die Texte und Zeichnungen der ersten Reise einen Einblick in den dramatischen Entfaltungsprozess eines grossen Künstlers gewähren und durch die Unvollständigkeit der Dokumentation […] etwas von der Erregbarkeit, Spontaneität und Sprunghaftigkeit des Suchenden […] wiedergeben, verrät die, wie es scheint, lückenlose Berichterstattung der zweiten Reise etwas von dem gleichmässig arbeitenden, pflichtbewussten Beamten, der gewohnt ist, das ihm wegen seiner Tüchtigkeit aufgebürdete Arbeitspensum zu erledigen» (Helmut Börsch-Supan). Das Tagebuch diente aber auch dazu, der in Berlin gebliebenen Ehefrau Susanne laufend Bericht zu geben, sie an den Erlebnissen teilhaben zu lassen – es wurde in Abschnitten den Briefen an sie beigelegt. Schinkel verzichtete auf eine Überarbeitung, und an Susanne schrieb er über das Tagebuch: «[…] es ist auch nur so von der Zeit gestohlen hingeschrieben, indes nimmst du es gewiss gern in seinem unvollständigen Zustand auf.»

Spannender als der Text sind die Skizzen, die Schinkel unterwegs gemacht hat (es sind nicht viele, Schinkel hat im Wallis eifrig gezeichnet, dann ausführlicher erst wieder in Sorrent und Amalfi). Und das, was er aus der Schweiz mitgenommen hat nach Deutschland: die Idee der Schweizer Häuser, eine Art Kulturexport. Schinkel war ein früher grosser Fan des Schweizer Chalets. Seine Bemerkungen über die Alphütten in einem Brief an seinen Schwager von 1836 ziehen auch gleich die ganz grossen Linien aus, bis in die Antike: «Die Alpenhütte, sowohl die kleine unbedeutende, als die zierlichste grosse Wohnung eines Patriziers eines kleinen Ortes ist ein classisches architectonisches Werk, wie ein altgriechischer Tempel, und gewiss war sie zu Perikles Zeit schon ganz ebenso gebaut. Die Dachwinkel geben dem Giebel vollkommen dasselbe Verhältnis des Frontons eines griechischen Tempels der besten Zeit. Dazu kommen die trefflichen Galerien unter dem Schutz des weit überragenden Daches; die zierlichsten Ornamente innen an denselben architectonischen Theilen des Gebäudes und oft so fein ausgedacht, dass manches Gebäude an Kunstwerth mit grossen gepriesenen Werken wetteifert und diese sogar übertrifft.»

Unterwegs durch die Kantone Bern, Neuenburg und Wallis hat Schinkel einige kaum ausgearbeitete Skizzen angefertigt, etwa ein «Schweizerhaus im Kanton Bern», weniger Chalet als – soweit erkennbar – eines jener mächtigen Berner, vielleicht Emmentaler Bauernhäuser mit tiefragendem Walmdach und kunstvoll verzierten Lauben. Was er in der Folge daraus gemacht hat, wie er das «Schweizer Chalet» und das «Schweizer Bauernhaus» verwandelt hat in etwas ganz anderes, damit hat er Architekturgeschichte geschrieben.

Schon im Ancien Régime dekorierten die Aristokraten ihre Parks mit Schweizer Chalet-Häuschen, angelegt als Ruheplätze oder Aussichtspunkte. Der Begriff «chalet» stammte aus der Westschweiz, erst durch Jean-Jacques Rousseau fand er Aufnahme in den allgemeinen französischen Sprachgebrauch. Im 19. Jahrhundert steigerte sich das Interesse an den «Schweizerhäusern» noch, als gebauter Ausdruck von Naturverbundenheit. Schinkel trug zu diesem Hype selber bei, indem er 1830 ein «Schweizerhaus» auf der berühmten Pfaueninsel bei Potsdam baute. Aber eben, es ist ein «Schweizerhaus» à la Schinkel, mit seinen Vorbildern in der Schweiz hatte es fast gar nichts mehr zu tun. Es wurde nicht aus Holz, sondern massiv aus Stein errichtet und zudem verputzt, was es deutlich klassizistischer wirken liess. Nur unter den Fensterbänken befinden sich geschnitzte Rosetten. Ein zweites Haus errichtete Schinkel 1835 auf der Insel Rügen, am Stubbenkammer – zweistöckig, mit Galerien und mit den typischen Laubsägeornamenten, angelegt als Gaststube.

 

Für die jungen Schweizer Architekten erwies sich das 1837 in der Zeitschrift für das gesamte Bauwesen publizierte Schinkel’sche «Schweizerhaus» in Potsdam als richtungsweisend für die weitere Entwicklung einer eigenen Formensprache. Es heisst dort im Kommentar: «Wir fügen diesem Heft in Tafel XXIII die Ansichten eines, von dem genialen Ober-Landes-Baudirector, Herrn Schinkel in Berlin, entworfenen und bei Potsdam ausgeführten Schweizerhäuschens bei, dessen Zeichnung und Einsendung wir dem Architekt. Hrn. Fr. Schund aus Glarus, verdanken.» Mit anderen Worten: Der Ideenexport nach Deutschland, die Aneignung und Umwandlung der Bauernhäuser in architektonische Idealprojekte stiess in der Schweiz die Beschäftigung mit dem eigenen baulichen, ländlichen Erbe überhaupt erst an – aber eben stark inspiriert von der «berlinischen» Variante.


Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) auf einem Porträt von Georg Eduard Wolff (um 1824).

Schinkel war natürlich nicht der alleinige Auslöser, er war Teil eines damaligen Zeitgeist-Phänomens. Das Geschäft mit den «Schweizerhäusern» kam Mitte des 19. Jahrunderts so richtig in Schwung und erreichte 1900, an der Pariser Weltausstellung, seinen Höhepunkt: «Die Firma Henneberg und Allemand errichtete für eine Pauschalsumme von 2,5 Millionen Franken auf einer Fläche von zweieinhalb Hektaren ein village suisse mit einer Ansammlung von nicht weniger als 103 Gebäuden im Chaletstil. Die Umgebung wurde mit einer Mischung aus Mörtel, Gips und Drahtgeflecht zu einem malerischen Bergpanorama mit Hügeln, Gletschern und Felsabbrüchen plastisch gestaltet. Vor dieser Kulisse, zusätzlich belebt mit 750 eigens für diesen Zweck herbeigeschafften Tannen und einer Schweizer Viehherde, arbeiteten Strohflechterinnen aus Freiburg und dem Aargau, Käser aus dem Greyerzerland und Schnitzlerfamilien aus Brienz.» Eine gigantische Werbe-Performance für die zahlreichen Schweizer Chalet-Fabriken, die die Häuser in Katalogen anboten und dann als Fertighaus-Bausatz nach ganz Europa lieferten.

Aber noch einmal zurück zu Schinkels Reisetagebuch aus dem Jahr 1824. Denn der Text hält doch noch eine Überraschung bereit: Plötzlich gelingt Schinkel eine knappe, aber sehr atmosphärische Skizze von Sion – fast schon literarisch angehaucht erscheint die Stadt als eine Art idealer Schauplatz einer gothic novel, von Ruinen geprägt, düster, unheimlich. Die Pfauen, die auf den Schornsteinen sitzen, lassen es beinahe ins Fantastische kippen. Den Grund für die geisterhafte Atmosphäre nennt Schinkel allerdings nicht: 1788 wurde Sion von einem verheerenden Brand heimgesucht, zudem haben die Franzosen 1798 Schloss Tourbillon, den Sommersitz der Bischöfe von Sion, zerstört. 1824, zum Zeitpunkt von Schinkels Durchreise, war die Stadt erst ansatzweise wieder aufgebaut worden; Tourbillon blieb eine Ruine – von diesem Standort aus zeichnete Schinkel seine Sion-Vedute, gerahmt von einer Maueröffnung (siehe Abbildung Seite 90).

Hat Schinkels plötzliches schriftstellerisches Können damit zu tun, dass er zu Sion eben auch eine Zeichnung angefertigt hat, ungeheuer plastisch und detailreich, ein kleines Meisterwerk? Ja, Schinkels Zeichnungen und Bilder sind aussergewöhnlich – das gilt auch für die pittoreske Ansicht von Sion. Hier verschmelzen Schinkels Schilderungen, jene in Worten (siehe Originaltext) und jene mit Grafitbleistift und grauer Tusche (siehe Auftaktbild zum Kapitel) zu einer seltenen Einheit.