Von Casanova bis Churchill

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Heinrich von Kleists Brief an die Schwester Ulrike, 1802

Auf der Aarinsel bei Thun, 1. Mai, 1802: Mein liebes Ulrikchen, ich muss meiner Arbeit einmal einen halben Tag stehlen, um dir Rechenschaft zu geben von meinem Leben; denn ich habe immer eine undeutliche Vorstellung, als ob ich dir das schuldig wäre, gleichsam als ob ich von deinem Eigenthume zehrte.

Deinen letzten Brief mit Inschriften u Einlagen von den Geliebten, habe ich zu grosser Freude in Bern empfangen, wo ich eben ein Geschäft hatte bei dem Buchhändler Gessner, Sohn des berühmten, der eine Wieland, Tochter des berühmten, zur Frau, u Kinder, wie die lebendigen Idyllen hat: ein Haus, in welchem sich gern verweilen lässt. Drauf machte ich mit Zschokke und Wieland, Schwager des Gessner, eine kleine Streiferei durch den Aargau – Doch das wäre zu weitläufig, ich muss dich überhaupt doch von manchen andern Wunderdingen unterhalten, wenn wir einmal wieder beisammen sein werden. – Jetzt leb’ ich auf einer Insel in der Aare, am Ausfluss des Thunersees, recht eingeschlossen von Alpen, ¼ Meile von der Stadt. Ein kleines Häuschen an der Spitze, das wegen seiner Entlegenheit sehr wohlfeil war, habe ich für sechs Monate gemiethet u bewohne es ganz allein. Auf der Insel wohnt auch weiter niemand, als nur an der andern Spitze eine kleine Fischerfamilie, mit der ich schon einmal um Mitternacht auf den See gefahren bin, wenn sie Netze einzieht u auswirft. Der Vater hat mir von zwei Töchtern eine in mein Haus gegeben, die mir die Wirthschaft führt: ein freundlich-liebliches Mädchen, das sich ausnimmt, wie ihr Taufname: Mädeli. Mit der Sonne stehn wir auf, sie pflanzt mir Blumen in den Garten, bereitet mir die Küche, während ich arbeite für die Rückkehr zu euch; dann essen wir zusammen; Sonntags zieht sie ihre schöne Schwyzertracht an, ein Geschenk von mir, wir schiffen uns über, sie geht in die Kirche nach Thun, ich besteige das Schreckhorn, u nach der Andacht kehren wir beide zurück. Weiter weiss ich von der ganzen Welt nichts mehr. Ich würde ganz ohne alle widrigen Gefühle sein, wenn ich nicht, durch mein ganzes Leben daran gewöhnt, sie mir selbst erschaffen müsste. So habe ich zum Beispiel jetzt eine seltsame Furcht, ich mögte sterben, ehe ich meine Arbeit vollendet habe. Von allen Sorgen vor dem Hungertod bin ich aber, Gott sei dank, befreit, obschon Alles, was ich erwerbe, so grade wieder drauf geht. Denn, du weisst, dass mir das Sparen auf keine Art gelingt. Kürzlich fiel es mir einmal ein, u ich sagte dem Mädeli: sie sollte sparen. Das Mädchen verstand aber das Wort nicht, ich war nicht im Stande ihr das Ding begreiflich zu machen, wir lachten beide, u es muss nun beim Alten bleiben. – Übrigens muss ich hier wohlfeil leben, ich komme selten von der Insel, sehe niemand, lese keine Bücher, Zeitungen, kurz, brauche nichts, als mich selbst. Zuweilen doch kommen Gessner, oder Zschokke oder Wieland aus Bern, hören etwas von meiner Arbeit, u schmeicheln mir – kurz, ich habe keinen andern Wunsch, als zu sterben, wenn mir drei Dinge gelungen sind: ein Kind, ein schön Gedicht, und eine grosse That. Denn das Leben hat doch immer nichts Erhabneres, als nur dieses, dass man es erhaben wegwerfen kann. – Mit einem Worte, diese ausserordentlichen Verhältnisse thun mir erstaunlich wohl, und ich bin von allem Gemeinen so entwöhnt, dass ich gar nicht mehr hinüber mögte an die andern Ufer, wenn ihr nicht da wohntet. Aber ich arbeite unaufhörlich um Befreiung von der Verbannung – du verstehst mich. Vielleicht bin ich in einem Jahre wieder bei euch. – Gelingt es mir nicht, so bleibe ich in der Schweiz, und dann kommst du zu mir. Denn wenn sich mein Leben würdig beschliessen soll, so muss es doch in deinen Armen sein. – Adieu. Grüsse, küsse, danke Alle. Heinrich Kleist.

N. S. Ich war vor etwa 4 Wochen, ehe ich hier einzog, im Begrif nach Wien zu gehen, weil es mir hier an Büchern fehlt; doch es geht so auch u vielleicht noch besser. Auf den Winter aber werde ich dorthin – oder vielleicht gar schon nach Berlin. – Bitte doch nur Leopold, dass er nicht böse wird, weil ich nicht schreibe, denn es ist mir wirklich immer eine erstaunliche Zerstreuung, die ich vermeiden muss. ln etwa 6 Wochen werde ich wenigstens ein Dutzend Briefe schreiben.

Quelle: An Ulrike von Kleist (Brief Nr. 68). In: Heinrich von Kleist. Sämtliche Werke, Band 4: Briefe von und an Heinrich von Kleist 1793–1811. Herausgegeben von Klaus Müller-Salget und Stefan Ormanns. Frankfurt am Main: © Deutscher Klassiker Verlag 1997, S. 305–307.

1814
Mary
Godwin &
Percy Bysshe
Shelley

London —

Dover —

Calais —

Paris —

Neuchâtel —

Aarberg —

Sursee —

Luzern —

Brunnen —

Luzern —

Laufenburg —

Rheinfelden —

Basel —

Breisach —

London

Blick auf Brunnen, im Hintergrund Rigi-Hochfluh. Hier wollten sich Mary Godwin und Percy Bysshe Shelley im Sommer 1814 niederlassen. Kolorierte Aquatinta, gezeichnet von Johann Jakob Wetzel (1817).

Ein stürmischer «vent d’italie» (Südwind) durchpflügte den See, schuf riesige Wellen und sog das Wasser in einem Wirbelsturm hoch in die Luft, von wo es wie heftiger Regen in den See zurückfiel.

Mary Godwin (1814)

«In der Nacht, die diesem Morgen voranging, da alles entschieden war, bestellte ich eine Kutsche, die um 4 Uhr bereitstehen sollte. Ich wartete, bis die Blitze und Sterne verblassten. Endlich war es 4 Uhr. Ich glaubte nicht, dass es uns gelingen würde: Sogar in der Gewissheit schien noch eine gewisse Gefahr verborgen zu sein. Ich ging. Ich sah sie. Sie kam auf mich zu. Es blieb uns noch eine Viertelstunde. Es mussten noch einige Vorkehrungen getroffen werden & sie verliess mich für kurze Zeit. Wie quälend erschienen mir diese Minuten. Es schien, als spielten wir mit Leben & Hoffnung. Wenige Minuten später lag sie in meinen Armen – wir waren in Sicherheit. Wir befinden uns auf dem Weg nach Dover.» Nein, das ist kein Romananfang, aber es klingt wie einer! Und ja, geschrieben sind diese Zeilen von einem Dichter von weltliterarischem Rang. Percy Bysshe Shelley (1792–1822) notierte sie am 28. Juli 1814 in den ersten Band eines gemeinsamen Reise-Tagebuchs, das er mit seiner blutjungen Geliebten Mary Godwin (1797–1851) führte (grün eingebunden, in Paris erstanden, als Zeichen für den Beginn eines neuen Lebens). Das Tagebuch, das heute noch so frisch und teilweise atemlos wirkt, als wäre es erst gestern geschrieben worden, macht uns zu späten Zeugen dieser Fluchtgeschichte.

Die noch nicht siebzehnjährige, ausserordentlich belesene Mary, ausgestattet mit einem messerscharfen Intellekt, und der 23-jährige Lyriker Percy, der aber bereits Ehemann und Vater war (um genau zu sein: Shelley lässt seine Frau Harriet, im dritten Monat schwanger und mit einem vierzehn Monate alten Baby, in England zurück), waren einander vor Kurzem erst verfallen. Selbst in der Phase des Kennenlernens kam es zu Szenen, die wie so vieles in dieser Geschichte erfunden anmuten: nämlich dass die Liebenden sich für ihre Rendezvous am Grab von Marys Mutter, der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Mary Wollstonecraft, trafen.

Mary und Percy, das ist eine jener grossen Leidenschaften, die das Leben aller Beteiligten wie eine Naturgewalt umpflügen. Um diese Liebe leben zu können, mussten sie England verlassen – sie taten es im Bewusstsein, wohl nie wieder in die Heimat zurückzukehren (doch in diesem Punkt haben sie sich geirrt). In der Kutsche sass in jener Nacht noch eine dritte Person, Claire (eigentlich Jane) Clairemont, Marys um ein Jahr jüngere Stiefschwester, die in die Fluchtpläne eingeweiht worden war.

Der Road Trip konnte beginnen. Geld hatten sie praktisch keines, und das sollte sich während der gesamten Reise nicht ändern. So hatte das Abenteuer durchaus «a backpacker quality», die Anmutung einer Rucksackreise, wie Padraig Rooney schreibt. In einer stürmischen Nacht überquerten die drei von Dover aus den Ärmelkanal und reisten weiter nach Paris. Dort musste Shelley zunächst einmal alles verkaufen, was sie noch entbehren konnten, auch seine Taschenuhr mitsamt Kette. Gegenwert: 60 Pfund. Damit organisierten sie sich einen klapprig-kranken Esel zwecks Gepäck- und Personentransport in Richtung Schweiz. Später tauschten sie den Esel, mit Verlust natürlich, gegen ein Maultier ein, schliefen manchmal unter Bäumen, manchmal in sehr dreckigen Unterkünften. Ihre Reise war geprägt durch unzählige Unannehmlichkeiten – aber das tat dem Abenteuergeist und der enthusiastischen Laune der drei keinen Abbruch, im Gegenteil. Sie hatten einander, und sie hatten Bücher im Gepäck, den Kopf voller verrückter Pläne und Ideen – wer wollte da an ein bequemes Bett oder auch nur an eine warme Mahlzeit denken?!


Percy Bysshe Shelley (1792–1822), in einem Porträt von 1815.


Mary Godwin, später Shelley (1797–1851), in einem posthum erstellten Porträt.

Zwölf Jahre später lässt Mary in ihren Erinnerungen die «romanhafte» Stimmung dieser ersten Kontinentalreise noch einmal aufleben: «Im Sommer 1814 wurde jede Unannehmlichkeit bejubelt als neues Kapitel im Roman unserer Reisen; das schlimmste Ärgernis überhaupt, das Zollhaus, war eine amüsante Neuheit für uns; mit Begeisterung betrachteten wir die seltsame Kleidung der französischen Frauen, lasen mit Vergnügen unsere eigenen Steckbriefe in den Pässen, schauten neugierig auf jeden Teller, stellten uns vor, dass die in Öl gebratenen Artischockenblätter Frösche wären; wir sahen Schäfer in Klappzylindern und Postboten in Reitstiefeln; und wir hörten (pour comble de merveille [als Gipfel der Wunder]) kleine Mädchen und Jungen französisch sprechen: Es war, als würden wir in einem Roman spielen, als wären wir eine fleischgewordene Erzählung.»

 

So zogen sie also quer durch Frankreich, und um zu verstehen, was der Übertritt der französisch-schweizerischen Grenze bedeutet, muss man kurz einen Blick auf die historische Situation werfen: 1814 – da war der Kontinent von den napoleonischen Kriegen verwüstet, Städte waren zerstört, ungezählte Landsitze und Höfe lagen in Ruinen, und noch immer streiften marodierende Truppen umher. Es herrschte an vielen Orten bittere Armut. Insbesondere Shelley war tief betroffen von dem, was er sah. Die beiden jungen Damen hingegen hatten sich so nachhaltig in Abenteuerstimmung versetzt, dass ihnen alles als pittoresk und aufregend erschien, auch die Spuren des Kriegs.

Doch der Wechsel von Frankreich in die Schweiz wird von allen als eine Schwelle empfunden, als Eintritt durch eine Art magisches Portal: «[…] tatsächlich schien sich alles in dem Moment zu verändern, als wir von Frankreich in die Schweiz gelangten […]. Die Hütten & die Leute wurden (wie durch Magie) beinahe augenblicklich sauber und gastfreundlich – die Kinder waren rosig und interessant, keine Spur von zerschlissener Kleidung – In Frankreich ist es beinahe unmöglich, eine Frau unter fünfzig zu Gesicht zu bekommen, die meisten von ihnen zeigen Spuren fortgeschrittenen Alters, ihre Hütten sind in einem fürchterlichen Zustand – Dreck und Verfall scheinen dort für immer eingezogen zu sein, aber in der Schweiz […] sieht man fröhliche, zufriedene, lächelnde, gesunde Gesichter», hielt Claire in ihrem Tagebuch fest. Gerade dieser – neben den Schriften der Shelleys fast vergessene – Reisebericht enthält einige sehr spannende Details, die auf einen kritischen Geist und ein scharfes Auge schliessen lassen. Claires anfängliche Euphorie für die Schweiz verfliegt schon bald, und sie beginnt durchaus kritisch auch Unschönes zu verzeichnen.

In Neuchâtel, nach einer Lagebesprechung betreffend Finanzen, brachte Shelley tatsächlich das Kunststück zustande, mit einem Wechsel Geld aufzutreiben, vielleicht ein Vorschuss, vielleicht etwas Geliehenes, er kam jedenfalls zum Hotel zurück, «staggering under the weight of a large canvas bag full of silver», schwankend unter dem Gewicht einer grossen Leinentasche voller Silbertaler.

Was immer wieder auffällt auf dieser Reise: Lesen und studieren, schreiben und diskutieren gehörten zur täglichen Routine. Sie lasen in den Büchern von Marys Mutter, sie lasen Tacitus und Shakespeare, sie schrieben gemeinsam Tagebuch, und Shelley – manchmal mithilfe von Mary als Koautorin – skizzierte einen Roman unter dem Titel The Assassins (interessanterweise hat dieses Romanfragment gar nichts mit der aktuellen Reise zu tun, es geht vielmehr um eine Gruppe von Frühchristen in einem entlegenen libanesischen Tal).

Eigentlich waren die drei auf der Suche nach einem Haus, einer Bleibe für unbestimmte Zeit. Sie reisten vom Welschland in Richtung Luzern, kauften dort ein paar dringend benötigte Dinge ein und schifften sich dann ein für Brunnen. Dort mieteten sie tatsächlich zwei Zimmer in einem alten Haus für sechs Monate, nur um diese Wohnung tags darauf schon wieder zu verlassen. Weshalb? Unter anderem weil der Ofen nicht funktionierte. Und weil es hässlich war («At last we find a lodging in an ugly house they call the chateau for 1 louis per month»). Vielleicht aber auch, weil sie nicht wussten, wovon sie dort leben sollten. Oder weil es, wie Claire unzufrieden bemerkte, zu viele «Cottages» gab. Das wäre eine ausnehmend hübsche Bleibe, schreibt sie, wenn die Gegend nur nicht so erstaunlich bevölkert wäre. Es sei unmöglich, eine wilde und vollständige Einsamkeit zu finden. Ja, in diesem fruchtbaren Land sei kein Flecken unbewohnt, ausser ganz oben, auf den Gipfeln der Berge. Das klingt, mit Verlaub, fast so, als würde Claire die heutige Debatte rund um Agglomeration, verbautes Mittelland und Dichtestress kommentieren … Am Tag vor der Abreise wurden nochmals Pläne gewälzt – vielleicht doch über den Gotthard reisen? Aber eigentlich war längst klar, dass Brunnen den Punkt der Umkehr markierte – das Experiment war gescheitert. Was auch immer es war, was sie so schnell wieder abreisen liess – es hatte ohnehin nichts, was sie taten, eine Struktur oder einen Plan. Und das Geld neigte sich wieder einmal dem Ende zu; es war auch völlig unklar, ob es überhaupt für eine Rückreise nach England ausreichen würde. Ihre Abfahrt verzögerte sich durch ein ganz praktisches Problem: Die gewaschene Wäsche, die eine Einheimische dem Trio brachte, war noch nicht trocken, weswegen man einen Tag später nach Luzern aufbrach.

Und so begann die lange Rückreise mit einer Bootsfahrt im Regen, morgens um sieben Uhr, sehr unbequem, mit Wolken, die dicht über den Köpfen der Reisenden hingen. In Luzern stiegen sie auf ein Flussboot um, das war damals die mit Abstand billigste Art zu reisen. Abenteuerlich war auch diese Fahrt auf Reuss und Rhein, in Richtung Basel, über Stromschnellen: «Von Luzern aus fuhren wir auf der Reuss stromabwärts – in der hier und dort gefährliche Felsen lagen – wir flogen wie ein Blitz über eine Stromschnelle, wie das hier genannt wird – ich wage zu behaupten, dass es mindestens 8 Fuss waren, die wir hinabstürzten», berichtete Claire.

Die kurze Episode in der Zentralschweiz hat eine kleine, feine Spur in Mary Shelleys Werk hinterlassen: Als sie zwei Jahre später in der Villa Diodati am Genfersee, im Jahr ohne Sommer, ihren Roman-Erstling und Bestseller Frankenstein or the Modern Prometheus schreibt, scheint der Vierwaldstättersee in einer kurzen Episode auf. Aber entweder täuscht sich die Figur, die da erzählt, oder aber Mary verändert den See, den sie ja mit eigenen Augen gesehen hat, absichtlich, denn grüne Inseln gab es auch damals nicht im Vierwaldstättersee. Wohl aber den Föhnsturm, der dem Urnersee ganz plötzlich ozeanische Dimensionen verleiht. Er habe, so berichtete Doktor Frankensteins bester Freund Henri Clerval, Echo von Marys Tagebuch, «landschaftliche Szenen von grösster Schönheit in meinem eigenen Land gesehen; ich habe die Seen von Luzern und Uri besucht, wo die schneebedeckten Berge beinahe senkrecht ins Wasser abfallen und dabei schwarze, undurchdringliche Schatten werfen. Dies könnte düster, ja traurig wirken, wären da nicht die sattgrünen Inseln, die das Auge erlösen durch ihre heitere Erscheinung. Ich habe diesen See gesehen, aufgepeitscht durch einen Sturm. Als der Wind Wirbelstürme aus Wasser entfachte, bekam man eine Vorstellung davon, wie eine Wasserhose draussen auf dem grossen Ozean aussehen könnte; und die Wellen schlugen voller Wut an die Felswände […].»

Man mag diese Flucht in die Schweiz, diesen – so rasch gescheiterten – Ausbruch aus den Fesseln der Gesellschaft naiv oder sogar lächerlich finden. Oder man kann, wie Alexander Pechmann schreibt, diese Reise «auch als Versuch werten, die Ideale der Romantik an der Wirklichkeit zu erproben. Gleiches gilt für die Experimente freier Liebe, die in Marys Briefen deutlich werden.» Was bleibt – neben Texten der Weltliteratur –, sind Zeugnisse von Menschen, die ein anderes Leben wagten, als es die Gesellschaft damals sowohl für Männer wie auch für Frauen vorgesehen, ja vorgeschrieben hatte. Fast könnte man meinen, Marys unbändiger Freiheitsdrang sei – von welcher höheren Instanz auch immer – hart bestraft worden. Die brutalen Schicksalsschläge folgten dicht aufeinander, und es ist ein Wunder, dass sie an all dem Unglück nicht zerbrach: Von ihren vier Kindern, die sie zusammen mit Percy zeugte, überlebte nur eines. Der Schock, als das erste Kind, nur wenige Tage nach der Geburt, starb, muss besonders gross gewesen sein, und die Zeilen, die Mary in ihr Tagebuch schrieb, bewegen einen noch heute tief: «Sonntag, i9.März. Träume, mein Baby würde wieder lebendig werden – dass ihm nur kalt gewesen sei & dass wir es am Feuer rieben & es lebte – ich erwachte & finde das Baby nicht.» Ihre Kinder Clara und William starben mit nur einem halben Jahr Abstand. Nur der Jüngstgeborene, nach seinem Vater ebenfalls Percy genannt, blieb am Leben. Den Unfalltod ihres geliebten Mannes musste Mary im Juli 1822 erleben, da waren sie neun Jahre ein Paar, sieben davon verheiratet. Shelley, der Nichtschwimmer, ertrank beim Untergang seines Segelbootes an der italienischen Küste zwischen La Spezia und Livorno.

Der Schweiz und ihren Landschaften hat Mary unsterbliche literarische Denkmäler gesetzt. Nicht nur in Frankenstein spielt die Bergwelt, vor allem der Genfersee in einem Gewitter, eine grosse Rolle, sondern auch in ihrem apokalyptischen Science-Fiction-Roman The Last Man (1826), der am Ende des 21. Jahrhunderts spielt, in einer Welt, die von der Pest entvölkert und von einer schwarzen Sonne beschienen wird. Darin verarbeitet sie nochmals die Erinnerungen an die Reisen von 1814 und 1816 (siehe das Kapitel über Lord Byron, Seite 75–79) und verknüpft sie mit Hommagen an Shelley und Byron, die zwar unter anderem Namen, aber deutlich erkennbar auftauchen. Die Pest wütet in ganz Europa, als ein paar Überlebende aus England beschliessen, ein besseres, kälteres Klima aufzusuchen – ihr Ziel sind die Schweizer Berge: «[…] to reach Switzerland, to plunge into rivers of snow, and to dwell in caves of ice, became the mad desire of all», die Schweiz zu erreichen, in Ströme aus Schnee einzutauchen und in Höhlen aus Eis zu hausen, das wurde zum wahnwitzigen Wunsch von allen.

Auszüge aus Mary Shelleys «Six Weeks’ Tour», 1817

Beim Überqueren der französischen Grenze kann man einen überraschenden Unterschied zwischen den beiden Völkern feststellen, die auf den gegenüberliegenden Seiten hausen. Die schweizerischen Bauernhäuser sind viel sauberer und hübscher, und ihre Bewohner weisen denselben Unterschied auf. Die Schweizerinnen tragen sehr viel weisses Leinen, und ihre ganze Kleidung ist immer völlig sauber. Diese grössere Sauberkeit kommt hauptsächlich von den unterschiedlichen Religionen: Deutschlandreisende weisen auf denselben Kontrast zwischen protestantischen und katholischen Städten hin, obwohl sie nur einige Meilen voneinander entfernt sind.

Die Landschaft während dieser Tagesreise war göttlich, mit ihren bewaldeten Bergen, kahlen Felsen und grünen Flecken übertraf sie jede Vorstellungskraft. Nachdem wir beinahe eine Meile zwischen hoch aufragenden Felsen hinabgestiegen waren, die mit Kiefernwäldern bedeckt sind, durchsetzt von grünen Lichtungen, wo das Gras kurz und weich und wundervoll grün ist, kamen wir in das Dorf St. Sulpice.

Das Maultier hatte vor kurzem zu lahmen begonnen, und der Mann war dermassen ungehorsam, dass wir uns entschlossen, für den Rest des Weges ein Pferd zu mieten. Unser voiturier war uns vorausgeeilt, ohne uns im mindesten seine Absichten mitzuteilen: Er hatte beschlossen, uns in diesem Dorf zu verlassen und zu diesem Zweck Vorbereitungen getroffen. Der Mann, den wir nun anheuerten, war ein Schweizer, ein Bauer der höheren Klasse, der auf seine Berge und sein Land stolz war. Auf die Lichtungen zeigend, von denen die Wälder durchsetzt waren, informierte er uns darüber, dass sie sehr schön und ausgezeichnetes Weideland wären; dass die Kühe dort gediehen und entsprechend vorzügliche Milch geben würden, aus der man den besten Käse und die beste Butter der Welt mache.

Nach St. Sulpice wurden die Berge noch höher und schöner. Wir kamen durch ein schmales Tal zwischen zwei von Wäldern bedeckten Bergketten, an deren Fuss sich ein Fluss entlangzog, aus dessen schmalem Bett sich jäh die Grenzen des Tales erhoben. Die Strasse lag etwa in der Mitte des Berghanges, der eine der Seiten bildete, und wir sahen die vorspringenden Felsen über und unter uns, enorme Fichten und den Fluss, den man nur durch die Reflexion des Himmelslichts weit unten wahrnehmen konnte. Die Berge dieser wunderschönen Schlucht liegen so eng beieinander, dass man während des Krieges mit Frankreich eine eiserne Kette von einem zum anderen geworfen hat. Zwei Meilen von Neuchâtel sahen wir die Alpen: Eine schwarze Bergkette nach der anderen erstreckt sich weiter und weiter, und weit hinter allem überragen die schneebedeckten Alpen jedes andere Landschaftsmerkmal. Sie waren hundert Meilen entfernt, aber ragten so hoch in den Himmel auf, dass sie wie jene blendendweissen Wolkenformationen aussahen, welche sich während des Sommers am Horizont sammeln. Ihre ungeheure Grösse überwältigt die Vorstellungskraft, und sie übersteigen jedes Fassungsvermögen so weit, dass es einiger Anstrengung des Verstandes bedarf, um glauben zu können, dass sie wirklich Teil dieser Welt sind.

 

Von diesem Punkt stiegen wir nach Neuchâtel hinab, das in einer schmalen Ebene zwischen den Bergen und seinem riesigen See liegt und keine sonstigen Merkmale von besonderem Interesse aufweist.

Wir blieben den folgenden Tag in dieser Stadt, mit der Überlegung beschäftigt, welcher nächste Schritt wohl am ratsamsten wäre. Das Geld, das wir aus Paris mitgebracht hatten, war beinahe aufgebraucht, doch wir erhielten für einen Wechsel ungefähr £ 38 Sterling von einem der Bankiers in der Stadt, und damit setzten wir unsere Reise in Richtung Uri See fort, um in diesem romantischen und reizvollen Land ein Häuschen zu finden, wo wir einsam und in Frieden verweilen könnten. Dies waren unsere Träume, welche wir wahrscheinlich wahr gemacht hätten, wäre da nicht der Mangel an jener unverzichtbaren Sache namens Geld, der uns dazu zwang, nach England zurückzukehren.

Ein Schweizer, den Shelley am Postamt getroffen hatte, zeigte freundschaftliches Interesse für unsere Probleme und half uns, eine voiture zu mieten, die uns nach Luzern bringen sollte, der grossen Stadt am Vierwaldstädter See, der mit dem Uri See verbunden ist.

Dieser Mann war vom Geist wahrer Höflichkeit erfüllt und bemühte sich wirklich darum, dienstbar zu sein, und er schien die reinen Förmlichkeiten der Angelegenheit als sehr geringwertig einzuschätzen. Für die Reise nach Luzern brauchten wir mehr als zwei Tage.

Das Land war flach und langweilig, und ausser der Erwartung, ab und zu einen Anblick der göttlichen Alpen zu erhaschen, gab es nichts, das uns interessierte. Luzern war vielversprechender, und sobald wir ankamen (23. August), mieteten wir ein Boot, mit dem wir das Seeufer entlangfahren wollten, bis wir eine passende Ansiedlung erreichen würden, oder wir würden vielleicht sogar nach Altdorf reisen, den Sankt Gotthard überqueren, um im warmen Klima der Länder südlich der Alpen eine heilsamere Luft zu finden und eine Temperatur, die dem prekären Zustand der Gesundheit Shelleys zuträglicher wäre als die düsteren Gefilde des Nordens.

Der Vierwaldstädter See ist in allen vier Himmelsrichtungen von hohen Bergen umgeben, die steil aus dem Wasser emporragen; manchmal fallen ihre kahlen Felsen lotrecht ab und werfen einen schwarzen Schatten auf die Wellen; manchmal sind sie dicht mit Wäldern bedeckt, deren dunkles Laub von den kahlen braunen Felsspitzen durchsetzt ist, auf denen die Bäume Wurzeln geschlagen haben. Überall, wo sich im Wald eine Lichtung zeigt, erweist sie sich als bepflanzt, und Landhäuser lugen aus den Wäldern hervor. Die üppigsten, felsigen, von Moos und krummen Bäumen bedeckten Inseln sind über den ganzen See verstreut. Die meisten von ihnen werden von einer jämmerlichen Wachsfigur eines Heiligen geschmückt.

Der See erstreckt sich zunächst von Ost nach West, dann wendet er sich nach rechts und dehnt sich von Nord nach Süd, dieser zweite Abschnitt wird namentlich von dem anderen geschieden und wird Uri See genannt. Der erste Abschnitt ist ebenfalls ungefähr in der Hälfte geteilt, wo die Landzungen beinahe aufeinandertreffen, deren felsige Steilufer tiefe Schatten auf die kleine Wasserstrasse werfen, die man durchquert. Die Gipfel von einigen der Berge, die den See in südlicher Richtung umschliessen, sind von ewigen Gletschern bedeckt; über einen von ihnen, gegenüber Brunen, erzählt man sich die Geschichte eines Priesters und seiner Geliebten, die, auf der Flucht vor Verfolgung, ein Häuschen am Fusse der Gletscher bewohnten. In einer Winternacht wurden sie von einer Lawine verschüttet, aber in stürmischen Nächten kann man immer noch ihre klagenden Stimmen vernehmen, welche die Bauern um Hilfe rufen.

Brunen liegt an der Nordseite der Abzweigung des Sees, der äussersten Grenze des Vierwaldstädter Sees. Hier rasteten wir während der Nacht und entliessen unsere Bootsleute. Es könnte nichts Wundervolleres geben als die Aussicht von dieser Stelle. Wir waren von hohen Bergen umgeben, die das Wasser verdunkelten; in der Ferne, an den Ufern von Uri, konnten wir die Kapelle von Wilhelm Tell erkennen, und dies war das Dorf, wo er die Verschwörung plante, um den Tyrannen seines Heimatlandes zu stürzen; und tatsächlich schien dieser liebliche See, diese erhabenen Berge und wildwachsenden Wälder die passende Wiege für ein Herz, das nach grossen Abenteuern und heroischen Taten strebt. Dennoch bemerkten wir nicht den Funken seiner Seele in seinen gegenwärtigen Landsleuten. Die Schweizer erschienen uns damals, und die Erfahrung hat uns in dieser Meinung bestärkt, als ein Volk von langsamer Auffassungsgabe und Schwerfälligkeit; doch die Gewohnheit hat sie untauglich für die Sklaverei gemacht, und sie würden, daran zweifle ich kaum, tapferen Widerstand gegen jeden Angriff auf ihre Freiheit leisten.

Solcherart waren unsere Überlegungen, und wir blieben bis spät in den Abend hinein an den Ufern des Sees, unterhielten uns, genossen die aufkommende Brise und betrachteten mit Gefühlen von äusserster Wonne die göttlichen Schöpfungen, die uns umgaben.

Der folgende Tag wurde mit einer Besprechung unserer Umstände verbracht und mit der Betrachtung der uns umgebenden Landschaft. Ein stürmischer vent d’italie (Südwind) durchpflügte den See, schuf riesige Wellen und sog das Wasser in einem Wirbelsturm hoch in die Luft, von wo es wie heftiger Regen in den See zurückfiel. Die Wellen brachen sich mit enormem Tosen an den felsigen Ufern. Dieses Zusammenprallen setzte sich während des ganzen Tages fort, doch gegen Abend wurde es ruhiger. Ich und Shelley gingen am Ufer spazieren, und während wir am urtümlichen Pier sassen, las Shelley laut den Bericht des Tacitus über die Belagerung von Jerusalem.

In der Zwischenzeit bemühten wir uns darum, eine Unterkunft zu finden, konnten aber nur zwei unmöblierte Zimmer in einem hässlichen grossen Haus bekommen, das man Chateau nannte. Sie wurden für einen Guinea pro Monat vermietet, Betten wurden noch hineingestellt, und am nächsten Tag zogen wir ein. Doch es war ein jämmerlicher Ort, ohne Komfort oder Bequemlichkeit. Es gab einige Schwierigkeiten, bis man uns etwas zu essen anrichtete: Da es kalt und regnerisch war, befahlen wir ein Feuer anzufachen – sie zündeten einen ungeheuren Kamin an, der eine Ecke des Zimmers einnahm; es dauerte lange, bevor er sich erwärmte, und als er endlich heiss war, war die Hitze so unangenehm, dass wir gezwungen waren, unsere Fenster aufzustossen, um uns vor dem Erstickungstod zu retten; zu guter Letzt gab es in ganz Brunen nur eine Person, die Französisch sprechen konnte, denn in diesem Teil der Schweiz war eine barbarische Abart des Deutschen Landessprache. Aus diesem Grund hatten wir Schwierigkeiten, auch nur die grundlegendsten Wünsche erfüllt zu bekommen.

Diese unmittelbaren Unannehmlichkeiten führten uns zu einer ernsthafteren Betrachtung unserer Lage. Die £ 28, die wir besassen, waren der gesamte Betrag, mit dem wir bis zum kommenden Dezember rechnen konnten. Für alle zusätzlichen Mittel war Shelleys Anwesenheit in London unbedingt erforderlich. Was konnten wir tun? In Kürze würden wir vollkommen auf Almosen angewiesen sein. So beschlossen wir, nachdem wir verschiedene Punkte, die sich aus unserer Besprechung ergaben, abgewägt hatten, nach England zurückzukehren.

Nachdem wir zu diesem Entschluss gekommen waren, blieb uns kein Augenblick zum Zögern: Unser kleiner Vorrat verringerte sich merklich, und £ 28 schienen kaum für solch eine lange Reise zu genügen. Die Durchquerung Frankreichs von Paris nach Neuchâtel hatte uns sechzig Pfund gekostet; aber wir beschlossen nun, auf eine weit günstigere Art zu reisen. Die Fahrt auf den Wasserwegen ist stets am billigsten, und glücklicherweise waren wir an einem Ort, von welchem wir durch Nutzung der Flüsse Reuss und Rhein England erreichen könnten, ohne eine einzige Meile über Land zu reisen. Unser Plan war folgender: Wir würden achthundert Meilen zurücklegen; aber würde dies für solch einen kleinen Betrag möglich sein? Doch eine Alternative gab es nicht, und tatsächlich wusste Shelley nur zu gut, wie wenig wir für unser Auskommen übrig hatten.