Von Casanova bis Churchill

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Ich legte mich wieder auf mein Bett und dachte darüber nach, wie ich an die schöne Amazone herankommen könnte.

Soll ich nach Einsiedeln gehen? Ja, was soll ich aber dort tun? Die Damen wollen dort beichten, kommunizieren, mit Gott, den Heiligen und den Mönchen Zwiesprache halten, was sollte ich dabei. Und wenn ich unterwegs dem Abt begegnete – was bliebe mir anders übrig, als wieder umzukehren? Hätte ich einen treuen Freund bei mir, so könnte ich mich in einen Hinterhalt legen und die Amazone entführen; dies wäre leicht gewesen, denn es war kein Mann bei ihr, um sie zu verteidigen. Wie wäre es, wenn ich sie ganz dreist zum Abendessen einlüde? Ja, aber diese schrecklichen drei Frauenzimmer! Man würde mich zurückweisen. Mir schien, die schöne Amazone könne nur oberflächlich fromm sein; denn aus ihrem Gesicht sprach Liebe zum Vergnügen, und ich hatte mich seit langer Zeit daran gewöhnt, die Frauen nach ihrem Mienenspiel zu beurteilen.

Ich wusste nicht, was ich anfangen sollte, als ich einen höchst glücklichen Einfall hatte. Ich stellte mich an das Flurfenster und blieb dort so lange, bis der Kellner vorüberkam. Ich liess ihn in mein Zimmer eintreten, drückte ihm zur Einleitung ein Goldstück in die Hand und sagte ihm, er möchte mir seine grüne Schürze leihen, denn ich wolle den Damen bei ihrem Abendessen aufwarten.

«Du lachst?» – «Ja, gnädiger Herr, über Ihre Laune, deren Zweck ich ahne.» – «Du bist ein Pfiffikus.» – «So sehr wie Sie einer. Ich werde Ihnen eine schöne, ganz neue Schürze holen. Die Hübsche hat mich gefragt, wer Sie seien.» – «Das kann sein, denn sie hat mich kurz gesehen, sicher wird sie mich nicht wiedererkennen. Was hast du ihr geantwortet?» – «Sie seien Italiener, weiter nichts.» – «Sei verschwiegen, und ich werde das Goldstück verdoppeln.» – «Ich habe Ihren Spanier gebeten, mir beim Aufwarten zu helfen, denn ich bin ganz allein und muss zugleich unten bedienen.» – «Schön; aber er darf nicht ins Zimmer kommen, denn der Bursche würde sich das Lachen nicht verhalten können. Er kann in die Küche kommen, du gibst ihm die Schüsseln, und er reicht sie mir an der Türschwelle.»

Der Kellner ging und kam gleich darauf mit einer Schürze und mit Leduc wieder, dem ich sehr ernst auseinandersetzte, was er zu tun hätte. Er lachte wie verrückt, versicherte mir jedoch, ich würde mit ihm zufrieden sein. Ich liess mir ein Vorlegemesser geben, tat mein Haar in einen Haarbeutel, schlug den Halskragen herunter und band die Schürze über meine scharlachrote goldbestickte Weste. Hierauf betrachtete ich mich im Spiegel und fand mit Befriedigung, dass ich gemein genug aussah, um die bescheidene Persönlichkeit vorzustellen, die ich spielen sollte. Ich war in freudiger Stimmung; denn ich sagte mir, da sie aus Solothurn wären, so müssten sie doch Französisch sprechen.

Leduc meldete mir, dass der Kellner gleich kommen werde. Ich ging in das Zimmer der Damen, musterte die gedeckte Tafel und sagte zu ihnen: «Man wird sofort auftragen, meine Damen.»

Die hässlichste von den vieren sagte mir: «Beeilen Sie sich nur, wir wollen schon vor Tagesanbruch aufstehen.» Ich rückte Stühle an den Tisch und sah die Schöne von der Seite an. Sie blickte mich an, als wenn sie versteinert wäre. Ich half dem Kellner die Schüsseln auf den Tisch setzen, und hierauf sagte er zu mir: «Hör mal, du, bleib hier; ich muss unten bedienen.»

Ich nahm ein Vorgericht und stellte mich meiner Amazone gegenüber hinter einen Stuhl, von wo aus ich sie unauffällig vorzüglich sehen konnte. Besser gesagt: ich hatte nur für sie Augen. Sie war erstaunt; die anderen beehrten mich nicht einmal mit einem Blick, und dies war das beste, was sie tun konnten. Nach der Suppe eilte ich zu ihr und wechselte ihren Teller; denselben Dienst verrichtete ich auch bei den anderen, worauf sie sich selber bedienten.

Während sie assen, nahm ich einen gepökelten Kapaun vor und zerlegte ihn kunstgerecht.

«Dieser Kellner», sagte meine Schöne, «bedient sehr gut. Sind Sie schon lange in diesem Gasthof?» – «Erst seit wenigen Wochen, Madame.» – «Sie servieren ausgezeichnet.» – «Madame sind sehr gütig.»

Ich hatte meine Manschetten von prachtvoller englischer Spitze in meine Ärmel hineingesteckt; aber die Hemdenkrause sah ein wenig aus der Weste hervor, die ich nicht sorgfältig zugeknöpft hatte. Sie bemerkte diese und rief: «Warten Sie, warten Sie!»

«Was wünschen Sie, Madame?» – «Lassen Sie doch mal sehen. Da haben Sie ja prachtvolle Spitzen.» – «Ja, Madame, das hat man mir gesagt; aber sie sind alt. Ein vornehmer italienischer Herr, der hier wohnte, hat sie mir geschenkt.» – «Haben Sie auch solche Manschetten?» – «Ja, Madame.»

Mit diesen Worten streckte ich meine Hand aus und knöpfte mit der anderen den Westenärmel auf. Sie zog langsam die Manschetten hervor und schien sich absichtlich so vorzubeugen, dass meine Blicke sich an ihrem Gesicht berauschen konnten. Welch köstlicher Augenblick! Ich wusste, dass sie mich wiedererkannt hatte, und als ich sah, dass sie darüber schwieg, empfand ich eine wirkliche Qual bei dem Gedanken, dass ich mit dieser Maskerade nur bis zu einem gewissen Punkt gehen konnte.

Als sie die Spitzen ziemlich lange betrachtet hatte, sagte ihre Nachbarin zu ihr: «Aber, meine Liebe, was für eine Neugier! Man sollte meinen, du hättest in deinem Leben noch keine Spitzen gesehen.»

Meine liebenswürdige Neugierige errötete.

Nach dem Essen zogen sich alle vier in eine Ecke zurück, um sich auszukleiden, während ich den Tisch abräumte, und meine Schöne begann zu schreiben. Ich gestehe, es fehlte nicht viel daran, so hätte ich in meiner Eitelkeit mir eingebildet, dass sie an mich schriebe; ich hatte aber doch eine zu gute Meinung von ihr, um nicht diesen Gedanken sofort zu verwerfen. Als ich abgedeckt hatte, stellte ich mich neben die Tür.

«Worauf warten Sie?» fragte die Schöne mich. – «Auf Ihre Befehle, Madame.» – «Ich danke Ihnen; ich brauche nichts.» – «Sie tragen Stiefel, Madame, und wenn Sie sich nicht etwa gestiefelt zu Bett legen wollen …» – «Da haben Sie allerdings recht; aber ich möchte Ihnen nicht die Mühe machen.» – «Bin ich denn nicht dazu da, Sie zu bedienen, Madame?»

Mit diesen Worten kniete ich vor ihr nieder und schnürte langsam ihre Halbstiefel auf, während sie ruhig weiter schrieb. Ich ging aber noch weiter: ich löste die Schnalle ihres Hosenbandes, um ihre Strümpfe herunterzuziehen, und weidete mich am Anblick und noch mehr am Betasten ihrer wundervoll geformten Waden; aber zu früh für meine Wünsche hörte sie auf zu schreiben, wandte den Kopf um und sagte: «Nun ist es aber genug, ich bemerkte gar nicht, dass Sie sich zu viel Mühe gaben; gehen Sie! Morgen abend werden wir uns wiedersehen.»

«Sie werden also hier zu Abend speisen, meine Damen?» – «Ja, gewiss.»

Ich nahm ihre Stiefel mit, indem ich sie fragte, ob ich die Tür verschliessen solle. «Nein, mein Lieber», antwortete sie, «lassen Sie den Schlüssel von innen stecken.»

Als Leduc die Stiefel der Fee mir abnahm, lachte er wie ein Besessener und sagte: «Sie hat Sie angeführt.» – «Wieso?» – «Ich habe alles gesehen, Monsieur. Sie spielten Ihre Rolle wie der beste Pariser Schauspieler, und ich bin überzeugt, morgen früh wird sie Ihnen einen Louis Trinkgeld geben; aber wenn Sie den nicht mir geben, plaudere ich die ganze Geschichte aus.» – «Da, du Spitzbube, da hast du ihn schon im voraus; lass mir schnell das Abendessen auftragen.»

Dies, lieber Leser, sind Freuden, die ich mir in meinem Alter nicht mehr verschaffen kann, die ich aber noch in der Erinnerung geniessen darf. Gewisse Unmenschen predigen die Reue, und närrische Philosophen erklären unsere Freuden für nichts als Eitelkeiten.

Ein barmherziger Traum liess mich die Nacht mit meiner Amazone verbringen, ein künstlicher, aber makelloser Genuss.

Quelle: Giacomo Casanova Chevalier de Seingalt: Geschichte meines Lebens, Hrsg. und kommentiert von Günter Albrecht in Zusammenarbeit mit Barbara Albrecht. Band 6, München: Verlag C. H. Beck 1985, S. 108–116.

Editorische Notiz: Casanovas Muttersprache war Italienisch, aber seine Schriften verfasste er auf Französisch, der bevorzugten Sprache der damaligen gebildeten Schichten. Die 3700-seitige Handschrift seiner Memoiren vermachte er kurz vor seinem Tod seinem Neffen. 1821 wurden sie an den Leipziger Verleger Friedrich Arnold Brockhaus verkauft. Der Text erschien im gleichen Jahr erstmals in gedruckter Form, allerdings stark zensiert und entstellt. Dennoch landete er sofort auf dem päpstlichen Index der verbotenen Bücher. Jahrzehntelang wurden nur stark bereinigte Fassungen veröffentlicht, die dann in Raubdrucken und eigenwilligen Übersetzungen erschienen. Die Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg überstand das Manuskript unbeschadet (siehe Einleitung, Seite 12). Erst 1960 erschien die erste vollständige Ausgabe, eine erste englische Übersetzung 1966, gerade rechtzeitig im Umfeld der sexuellen Revolution.

2010 hat die Bibliothèque Nationale in Paris das Manuskript für die sagenhafte Summe von 7,5 Millionen Euro erworben – noch nie wurde ein höherer Preis für eine Handschrift bezahlt; die Lebenserinnerungen sind, wie Fachleute und Kuratoren attestieren, in einem wunderbaren und lebendigen Französisch verfasst. Und Blätter und Tinte sind so gut erhalten, dass es so aussieht, als hätte Casanova erst gestern das Löschpapier drauf gepresst. 2012 bis 2015 ist eine dreibändige kritische Gallimard-Ausgabe erschienen, die erstmals den ganzen, den unverfälschten Casanova zugänglich macht, wissenschaftlich kommentiert.

1789
Jens
Immanuel
Baggesen

Bad Pyrmont —

Basel —

Biel —

 

St. Petersinsel —

Solothurn —

Aarau —

Zürich —

Schaffhausen —

Luzern —

Gotthard —

Furka —

Grimsel —

Grindelwald —

Lauterbrunnen —

Thun —

Bern

Die St. Petersinsel von Norden – Ziel literarischer Pilgerfahrten auf den Spuren Jean-Jacques Rousseaus. Gouachemalerei von Johann Jakob Hartmann (1811).

Wir stiegen ans Land. Meine Knie zitterten. Es war mir zu Muthe wie einem furchtsamen Liebhaber, der zum erstenmahl sich der Geliebten nähert […]. Ich stieg ans Land, oder eigentlich ich sank darauf hin; denn am ersten Stein kniete ich unwillkührlich, und küsste die Erde.

Jens Immanuel Baggesen (1789)

Wie kommt es dazu, dass ein erwachsener Mann weinend in die Knie sinkt und den Boden einer der wenigen Schweizer Inseln, namentlich der St. Petersinsel, küsst? Er ist nicht der Einzige, der dem idyllischen Eiland einen tränenreichen Besuch abstattet, vor und nach ihm sind Dutzende von Zeugnissen überliefert, von Schwindel wird berichtet, von heftigem Herzklopfen, von Umarmungen im gemeinsamen Gefühlstaumel. Das Geheimnis hinter diesem (aus heutiger Sicht) eher merkwürdigen Verhalten ist verbunden mit Jean-Jacques Rousseau. Um es kurz zu machen: Rousseau war einer der Superstars des 18. Jahrhunderts, vergleichbar mit Goethe; wer konnte, verschlang seine Schriften, die literarischen und die philosophischen, man nahm aber auch äusserst regen Anteil an seinem Schicksal, seinem Privatleben; von einigen seiner Anhänger wurde er regelrecht «gestalkt», würde man im heutigen Sprachgebrauch sagen. 1765 verbrachte er als politischer Flüchtling knapp zwei Monate auf der St. Petersinsel (verfolgt wurde er aufgrund seiner Publikationen, in denen er unter anderem unerhört neue Ideen zur Religionsfreiheit, zum Volk als oberstem Souverän, zu einer kindgerechten Erziehung formulierte). Im Rückblick schilderte er diese Herbstwochen mitten im Bielersee als die glücklichste Zeit seines Lebens, als einen Aufenthalt im Paradies, den er mit Botanisieren, Schreiben, Spazieren, Bootfahren verbrachte, nur manchmal unterbrochen durch eine Beteiligung an der Apfelernte oder einem Winzerfest oben auf der Inselkuppe: «Man hat mir einen kaum zwei Monate währenden Aufenthalt auf dieser Insel gegönnt. Ich aber hätte ohne einen Augenblick der Langeweile zwei Jahre, zwei Jahrhunderte und die ganze Ewigkeit auf ihr verbracht.»

Seine Schilderungen, in den Confessions (Bekenntnisse) und in den Rêveries d’un promeneur solitaire (Träumereien eines einsamen Spaziergängers), nach seinem Tod in den 1780er-Jahren erschienen, lösten augenblicklich einen Besucheransturm auf die St. Petersinsel aus. Und Jens Immanuel Baggesen, der Däne, der in seiner Muttersprache, aber auch auf Deutsch schrieb, ist ein sehr gutes Beispiel dafür, wie eine solche Rousseau-Pilgerfahrt ablief. Als der Dichter 1789 auf der Insel ankam, war diese noch vollkommen von Wasser umgeben (erst die Juragewässerkorrektur von 1868 bis 1891 liess den Seespiegel sinken, und aus der einstigen Insel wurde, durch neu aufgetauchtes Erdreich, eine Halbinsel mit einer natürlichen Landbrücke nach Erlach).

Fast alle Schiffe landeten damals an der sogenannten Südländte der Insel, schräg gegenüber von Lüscherz. Ein kleiner Kanal formte dort einen schützenden Hafen. Heute ist dieser Wasserweg zugeschüttet, nur die ihn einst säumenden Pappeln sind stehen geblieben und deuten den ehemaligen Verlauf an. Nicht nur Baggesen, auch viele andere Reisende berichten, dass die ersten Schritte auf diesem «heiligen Grund» sie erschütterten. In der Regel besuchte man zuerst das Rousseau-Zimmer, zwei bescheidene Kammern im Pächterhaus, zu Rousseaus Zeiten ein Bauernhof, vormals ein Benediktinerkloster. Einer der berühmtesten Schauspieler und Theatermänner der Goethe-Zeit, August Wilhelm Iffland, rief beim Betreten aus: «Hier wohnte er also, – hier dachte – hier fühlte – hier litt er!!» Dann stiegen die Fans die Anhöhe hinauf bis zum barocken Pavillon, von dem aus sternförmig Wege in den Wald und zu steinernen Lese- und Ruhebänkchen führten. Zur Ausrüstung der Reisenden, fast wichtiger als Proviant oder Kleidung, gehörten die Bücher von Rousseau. Diese sollten an Ort und Stelle gelesen werden, still und leise für sich oder einander gegenseitig daraus rezitierend: Karl Spazier, der mit Baggesen bis Basel reiste und sich dort von ihm trennte, schreibt in seinen Wanderungen durch die Schweiz: «Ich irrte den ganzen Tag umher, sass zuweilen am Ufer, den Blick zum See hingekehrt, auf welchem Nachen hin und her schifften: ich las, mit welcher erhöhten Teilnehmung lässt sich leicht denken, in Rousseaus Bekenntnissen […].» Im Pavillon auf der Insel-Anhöhe hinterliess man Sinnsprüche und Gedichte, Namen und Datum – die hölzernen Wände und Bänke waren über und über bedeckt mit den Schriftzügen von Rousseau-Verehrern und -Verehrerinnen. Dank dem steigenden Ruhm der St. Petersinsel entwickelte sich übrigens eine richtige kleine Tourismusindustrie am Bielersee: Einheimische Bauern und Fischer boten ihre Dienste als Ruderer an; Künstler schufen zahlreiche Ansichten, und diese Veduten, vervielfältigt als Stiche oder Aquatinten, dienten als Souvenirs, als Vorläufer der Postkarten.

Am Originaltext von Baggesen lässt sich leicht erkennen, worum es den Reisenden ging: um totale Immersion, Eintauchen in die Welt von Rousseau – und idealerweise um eine Begegnung mit seinem Geist oder Schatten.

Die empfindsamen Reisenden wollten Gegenden und Orte aufsuchen, deren Anblick in ihrem Inneren wahre Gefühlsstürme auslöste. Ja, man kann sogar etwas überspitzt sagen, dass bezaubernde Orte wie die St. Petersinsel letztlich nur Mittel zum Zweck waren; im Vordergrund standen nicht Landschaft oder geschichtliche Ereignisse und Spuren, sondern die durch die Natur ausgelösten Gefühle. Oder anders gesagt: Meistens verschmolzen Naturbeschreibung und Empfindungsprotokoll. Die Empfindsamkeit, das ist eine literarische Epoche, aber auch ein von der Literatur inspiriertes Lebensgefühl. Literatur und Leben, Lektüre und Wirklichkeit waren untrennbar miteinander verbunden, so sehr, dass Unterscheidungen mitunter schwierig wurden (das bekannteste Beispiel dazu ist immer noch das Werther-Syndrom: Nach dem Vorbild der von Goethe geschaffenen literarischen Figur in Die Leiden des jungen Werther begingen damals mehrere junge Männer Suizid – Identifikation mit der Welt im Buch bis in den Tod hinein). Das empfindsame Naturerlebnis konnte aber auch zum Zwang werden: Nachgerade peinlich wurde es für die Reisenden, wenn sie angesichts vielfach «erprobter» Naturschönheiten nicht den Schauder und das Zittern erfuhren, von dem alle anderen vor ihnen schon berichtet hatten. Wilhelm von Humboldt erging es so beim Staubbachfall in Lauterbrunnen. Am guten Willen lag es nicht, er versuchte und versuchte es immer wieder («Denn ich wollt doch gern ein nicht ganz gefühlloser Mensch sein»), aber das empfindsame Gefühl wollte sich partout nicht einstellen …


Jens Emmanuel Baggesen (1764–1826) auf einem Porträt von 1807.

Baggesen also, der Mann, der den Boden der St. Petersinsel küsste, als wäre es heiliger Grund (und das war sie ja für ihn auch), war kein Spinner, kein komischer Typ, nein, er war ganz einfach ein Kind seiner Epoche. Es ist dennoch höchst erfreulich zu lesen, dass seine Schwärmereien wenige Wochen später auf etwas ganz anderes ausgerichtet waren als auf die verblassenden Spuren eines vor mehr als zwanzig Jahren verstorbenen Philosophen. Die St. Petersinsel war nur eine Station auf einer ausgedehnten Reise durch die Schweiz. Und wenig später hatte er sein Herz an Sophie von Haller verloren, seine reizende Reisegefährtin bei einer Überfahrt von Unterseen nach Thun. Erst bei der Ankunft in Thun wurde klar, dass die junge Dame die Enkelin des berühmten Naturforschers und Dichters Albrecht von Haller war. Das steigerte seine Begeisterung für das ebenso hübsche wie profund gebildete Geschöpf noch einmal. In Bern besuchte Baggesen das Haus der Hallers und hielt um Sophies Hand an. Schon im März 1790 wurde geheiratet.

Die beiden führten eine überaus glückliche dänisch-schweizerische Ehe. Eine allzu kurze, denn schon 1797 starb Sophie an einem Lungenleiden. Ihrem Gatten hinterliess sie die zwei gemeinsamen kleinen Söhne. Baggesen selbst pendelte künftig zwischen der Schweiz, Norddeutschland, Dänemark und Paris, heiratete noch einmal, lebte für den Rest seines Lebens kränkelnd und in bescheidenen Verhältnissen, trotz einer extra für ihn eingerichteten Professur für dänische Sprache und Literatur an der Universität Kiel. Seine Liebe zur Schweiz, die ihn selbstredend immer auch an die Zeit mit Sophie erinnerte, hat er in dem heute vergessenen Epos Parthenaïs oder die Alpenreise (1803) ausgedrückt, inspiriert von einer Wanderung, die er im Juli 1794 mit seiner Frau und zwei ihrer Freundinnen ins Berner Oberland unternommen hatte: «Ich bin wieder auf dem Sprunge, eine Reise zu machen. Sophie packt zusammen, wir gehen nach Bern, um da unsere liebe Charlotte und Freundin Gritli G. abzuholen zu einer Reise nach Hasli, nach Grindelwald und Lauterbrunnen», kündigte Baggesen die Reise einem Freund an. Literarisch wurde diese Reise dann so umgesetzt, wobei die Hauptfiguren Nordfrank und Myris nach dem realen Liebespaar Jens und Sophie geformt sind: «Drei junge Schwestern machen sich von Bern aus mit ihrem Führer, dem Poeten Nordfrank, auf zu einer Reise zum Fusse der Jungfrau. Hermes und Amor – die griechischen Götter haben, von den Türken aus dem Olymp vertrieben, ihren Wohnsitz im Berner Oberland genommen – trachten danach, das Unternehmen zu verhindern und legen den Wandernden mannigfaltige Hindernisse in den Weg. […] Die Reisegesellschaft erreicht schliesslich so unbeschadet wie unberührt ihr Ziel, wo sie, nachdem Nordfrank noch allein den Eiger bestiegen und dort die Dichterweihe empfangen hat, gemeinsam mit den unterdessen ebenfalls eingetroffenen Eltern die Verlobung Nordfranks mit Myris feiern» (Adrian Aebi). Die ganze Handlung vollzieht sich vor dem Panorama der Berner Alpen, bekannte Sehenswürdigkeiten und Naturphänomene wie der Staubbach im Lauterbrunnental, das Alpenglühen oder das Knarren des Gletschereises werden effektvoll eingebaut.

Man kann nach alledem zum Schluss kommen, dass Baggesen in der Schweiz durch und durch zum empfindsamen Reisenden wurde – und beinahe ist man versucht, ihn sich als diesen schwärmerischen Jüngling ein für alle Mal einzuprägen; dass man ihn aber nicht nur mit diesem Etikett versehen sollte, zeigt ein Blick in sein berühmtestes Werk, die Reiseerzählung Das Labyrinth, die die Strecke von Kopenhagen bis Basel im Jahr 1789 schildert, also exakt jene Tage und Wochen vor seinem Besuch auf der St. Petersinsel. Diese ganze Reise durch Deutschland stand für Baggesen unter dem Eindruck der soeben ausgebrochenen Französischen Revolution – euphorisch begrüsste er den Sturm auf die Bastille, als ihn die Nachricht davon im hessischen Friedberg erreichte. Die gesamte weitere Reise stand fortan im Zeichen der Revolution. Dass Baggesen nicht nur ein nostalgisches Auge hatte, sondern auch eines für die Nöte seiner Zeit, das beweist seine berühmt gewordene, hochgradig sozialkritische Beschreibung des Frankfurter Judenviertels, die in fassungslosen rhetorischen Fragen gipfelt: «Ist es möglich, dass noch in unserem Zeitalter eine Nation, deren physische und moralische Existenz allen anderen gleich ist, als politisch nicht existent angesehen wird, für immer zur Landflucht bestimmt? Ist es möglich, dass man sich darüber einig sein kann, eine Gruppe von Erdenbürgern abzulehnen aufgrund ihrer besonderen Religion, dem vornehmsten aller Rechte, dem natürlichsten aller Besitztümer?»