Von Casanova bis Churchill

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

1760
Giacomo
Girolamo
Casanova

Stuttgart —

Tübingen —

Schaffhausen —

Zürich —

Einsiedeln —

Zürich —

Baden —

Solothurn —

Lausanne —

Aix-les-Bains

Zürich, Weinplatz mit Haus zum Schwert (in der Bildmitte). Hier schlüpfte Casanova in die Rolle eines Kellners. Tuschzeichnung von Johann Jakob Uehlinger (um 1750/1760).

Während sie assen, nahm ich einen gepökelten Kapaun vor und zerlegte ihn kunstgerecht. «Dieser Kellner», sagte meine Schöne, «bedient sehr gut. Sind Sie schon lange in diesem Gasthof?»

Giacomo Girolamo Casanova

(geschrieben zwischen 1785 und 1798)

Man darf sich das so vorstellen: In den Morgenstunden eines Apriltages im Jahre 1760 ist auf der Landstrasse, entlang dem westlichen Zürichsee-Ufer in Richtung Kanton Schwyz, ein Mann unterwegs, zu Fuss, vermutlich in Stiefeln, denn Halbschuhe hätten sich bei den damaligen Strassenverhältnissen nicht empfohlen. Es handelt sich um eine auffällige Erscheinung: gross (die Angaben variieren zwischen 1,87 und 1,93 Meter), gut gebaut, scharfes Profil, der Teint südländisch, elegant, um nicht zu sagen extravagant gekleidet, in Brokatweste, feinsten Spitzen, samtenem Gehrock. «Wissen Sie», so soll Friedrich der Grosse im Park von Sanssouci einmal anerkennend zu ihm gesagt haben, «Sie sind ein sehr schöner Mann.» Sein Name ist Legende: Giacomo Girolamo Casanova.

«Ich habe die Frauen bis zum Wahnsinn geliebt, aber ich habe ihnen stets meine Freiheit vorgezogen», verkündet der Venezianer selbstbewusst in seiner Histoire de ma Vie, seinen Lebenserinnerungen. Zu seinen zahlreichen Eroberungen quer durch Europa gehören laut Memoiren Gräfinnen, Schauspielerinnen, Tänzerinnen, Zimmermädchen, eine griechische Sklavin, die Nichte eines Priesters, eine Bauerstochter, fünf Schwestern mitsamt ihrer Mutter, ein Transvestit, eine Bucklige, eine Nymphomanin und natürlich Nonnen.

Ob er der grösste Verführer aller Zeiten war? Darüber lässt sich quantitativ, hinsichtlich der Anzahl seiner Eroberungen, streiten. 132 Affären sollen es gewesen sein, haben fleissige Forscher anhand der Quellen errechnet. Fast ist man versucht zu sagen: Das hält sich ja durchaus in Grenzen, verteilt auf eine «aktive Zeit» von einigen Jahrzehnten … Aber qualitativ steht er zweifellos ganz oben: Casanova hatte einfach Stil, und das in jeder Lebenslage. Seine Memoiren sind durchsetzt von grandiosen Schilderungen von Essen, Musik, Parfums, Mode, Kunst und natürlich Sex. In seinen Schriften wird das 18. Jahrhundert lebendig. Der Chevalier de Seingalt, wie er sich mit einem selbst verliehenen Adelstitel nannte, war ein Mann, der alle Sinne kultivierte.

Nun war er also in der Schweiz und gerade nicht mit einer Frau beschäftigt, sondern alleine und erstaunlich sportlich unterwegs. Für die Strecke von Zürich, Weinplatz, wo er an der feinen Adresse des Gasthofs Zum Schwert einquartiert war (siehe Abbildung Seite 16), bis Einsiedeln, wo er zufällig landete und mit Interesse das Koster und die Pilgerkirche besichtigte, brauchte er nach eigener Aussage rund sechs Stunden (siehe Originaltext). Misst man die Strecke nach, kommt man allerdings auf gut 70 Kilometer. Flunkereien also bereits bei den Längen- und Zeitangaben. Lassen wir ihn einen Augenblick weiterwandern. Zunächst wären ja zwei Fragen zu klären: Weshalb kam Casanova in die Schweiz, was wollte er in Zürich? Und weshalb wissen wir davon? Die Antwort auf beide Fragen hängt neben Verführung und Erotik mit einem zweiten Leitmotiv in Casanovas Leben zusammen – mit seinen grossen und kleinen Fluchten.


Giacomo Girolamo Casanova (1725–1798),

porträtiert von Alessandro Longhi (undatiert).

Geboren als Sohn eines mittellosen Schauspielerpaares, musste sich Casanova seinen gesellschaftlichen Aufstieg selbst organisieren. «Die Fähigkeit, auf den ersten Blick zu gefallen», die er sich selber (und sicher zu Recht) zuschreibt, öffnete viele Türen. Entscheidend war dann aber ein Zufall: In einer Kutsche stand er einem von einem Schlaganfall getroffenen Senator bei und pflegte ihn über Nacht; dieser Don Matteo Bragadin nahm ihn nach seiner Genesung aus Dankbarkeit in sein Haus auf «und überhäufte ihn mit Geschenken. Nun konnte er wie ein aristokratischer Playboy leben, sich kostbar kleiden, Spielsalons besuchen und sich in vornehmsten Kreisen bewegen», schreibt Tony Perrottet, einer der derzeit besten Casanova-Kenner (ein anderer behauptet, Casanova sei ganz einfach der toy boy des alten Mannes gewesen). Doch Casanovas glanzvolles Leben erfuhr eine dramatische Wendung, als er 1755, kurz nach seinem dreissigsten Geburtstag, verhaftet wurde. Von Spionen der Inquisition wurde er als Betrüger, Freimaurer, Astrologe, Kabbalist und Gotteslästerer denunziert und eingekerkert, in den berüchtigten venezianischen Bleikammern. Fünfzehn Monate später gelang es ihm, über das Dach zu entkommen – und tadellos gekleidet durch das Hauptportal hinauszuspazieren.

Die Tollkühnheit dieser Flucht verschaffte ihm europaweite Berühmtheit, bedeutete aber auch den Beginn eines Exils, das achtzehn Jahre dauern sollte. Im Laufe seines unsteten Daseins, praktisch immer auf Reisen, hat Casanova insgesamt fast 60 000 Kilometer zurückgelegt, zumeist in der Kutsche, über die schlechten Strassen zwischen Madrid und St. Petersburg, London und Konstantinopel rumpelnd und holpernd. Die grosse Flucht flankierend, waren zahlreiche kleine Fluchten zu verzeichnen, jene nämlich aus Betten und Schlafzimmern verheirateter Gespielinnen in verschiedenen Ländern. Oder jene aufgrund von Geldschulden, denn Casanova war ein notorischer Glücksspieler. So musste er unmittelbar vor seinem Schweiz-Aufenthalt Stuttgart Hals über Kopf verlassen aufgrund eines üblen Ausgangs bei einem Kartenspiel in einem «verrufenen Haus». «Meine Lage war nicht eben erfreulich: durch ein Glas Wein vergiftet, betrogen, bestohlen, beschimpft, sah ich mich meiner Freiheit beraubt und von der Notwendigkeit bedroht, hunderttausend Francs zu bezahlen, zu deren Deckung ich mich bis aufs Hemd hätte ausplündern lassen müssen […].» Es kam aber noch wilder: Inzwischen hatte sich die örtliche Justiz eingeschaltet und angekündigt, sämtliche Besitztümer Casanovas zu beschlagnahmen und, falls sich damit die Schuld nicht tilgen liesse, ihn «als gemeinen Soldaten in die Truppen Seiner allerdurchlauchtigsten Hoheit einzureihen». Es blieb nur die Flucht, eine schwierige Aufgabe, aber, so tröstete sich Casanova selber, «ich war nicht unter den Bleidächern, und die Erinnerung an meine grosse Flucht erhöhte meinen Mut». Eine Perücke auf dem Kissen täuschte den ruhig schlafenden Casanova vor, seine Habseligkeiten wurden etappenweise unbemerkt aus dem Zimmer geschafft, er selber seilte sich über eine Mauer ab, watete durch den Schlamm und erreichte endlich die rettende Postkutsche, die ihn nach Tübingen brachte. Aber die Gefahr war noch nicht vorüber, sein Diener holte ihn ein und warnte: «Monsieur, in Stuttgart weiss jedermann, dass Sie hier sind, und es steht zu befürchten, dass die drei Offiziere, die zu feige sind, um ein Duell aufzunehmen, Sie ermorden lassen. Wenn Sie vernünftig sind, reisen Sie sofort nach der Schweiz ab.» Und so geschah es auch, Casanova reiste mit der Post nach Schaffhausen, von dort mit einem Mietfuhrwerk weiter nach Zürich.

Die letzte Flucht, jene, die uns all diese detaillierten Auskünfte zu Casanovas Leben und eben auch zu seinem Aufenthalt in der Schweiz beschert hat (wobei, unnötig zu betonen, nicht immer so ganz klar ist, wo die Wahrheit endet und die Erfindung anfängt), ist eine, die nur im Kopf stattfand; eine Flucht in Gedanken. 1785 begannen die dreizehn letzten traurigen Jahre Casanovas, ohne Frauen, ohne Reisen, ohne alles, was ihn ausgemacht hatte, er war ein kranker und für damalige Verhältnisse sehr alter Mann. Der Lebenskünstler und Bonvivant sass auf Schloss Dux in Böhmen, angestellt als Bibliothekar. Eine Art Gnadenbrot, das ihm der junge Graf Josef Waldstein gewährte. Auf Anraten seines irischen Arztes befasste er sich mit der Niederschrift seiner Memoiren, täglich bis zu dreizehn Stunden über die Blätter gebeugt. Und tatsächlich, das erneute Durchleben seiner Abenteuer, amouröser und anderer, liess noch einmal das Blut in seinen Adern schneller fliessen. 1791 schrieb er seinem Freund Johann Ferdinand Opitz, dass er täglich arbeite und guter Dinge sei. «Welche Freude, sich an vergangene Freuden zu erinnern! Es amüsiert mich, weil ich nichts erfinde.»

Von Dux aus liess er auch die Schweizer Episoden noch einmal in seiner Vorstellung aufsteigen, mit erstaunlich vielen Details. Die Schweizer Städte waren nicht Venedig und auch nicht Paris. Aber Casanova fand auch hier seine Bühne – beziehungsweise richtete sich geschickt eine her. Nachdem er sich in Einsiedeln für kurze Zeit mit dem (nicht ganz ernst zu nehmenden) Gedanken trug, Mönch zu werden, gab er sich in Zürich schon wieder ganz anderen Fantasien hin. Ziel seines Begehrens war diesmal eine geheimnisvolle «Amazone» – in Begleitung dreier weit weniger attraktiver Freundinnen, wie Casanova unwillig bemerkte. Die Amazone, mit bürgerlichem Namen Maria Anna Ludovica von Roll, 24 Jahre alt, entflammte ihn dermassen, dass er sich einen Schauspielertrick ausdachte, um in ihre Nähe zu gelangen (wie der genau funktionierte, das soll er selber erzählen, siehe Originaltext). Die bühnenreife Szene im Gasthof Zum Schwert gehört zweifellos zu den witzigsten und schönsten Passagen in den Memoiren. Doch da auch der passionierte schauspielerische Auftritt nicht dazu führte, dass Casanova im Bett der Amazone landete oder sie in seinem, musste er sich noch etwas anderes einfallen lassen. Er folgte dem Objekt der Begierde bis nach Solothurn, mietete dort extra ein Landhaus für stille Stundendoch es wollte und wollte nicht klappen diesmal, es ergab sich keine günstige Gelegenheit, um die Amazone zu verführen.

 

Trost aber war, wie immer bei Casanova, nicht weit: Da war zum Beispiel seine «Haushälterin» Madame Dubois, für die er ungewohnt tief empfand («Ich betrachtete sie als meine Frau; wir liebten uns und konnten uns nicht vorstellen, dass wir uns eines Tages trennen würden»), später zwei Bernerinnen in der berüchtigten Badeanstalt im Matte-Quartier unten an der Aare, dann drei Genferinnen, die er hintereinander und gleich mehrfach beglückt, und so weiter. Die Szenen in der Schweiz sind recht explizit, am Schauplatz Genf wird etwa ein Liebesspiel mit Metallkugeln, eingelegt in eine alkalische Lösung, beschrieben, die Casanova zur Verhütung einsetzte statt der von ihm verabscheuten Präservative («[…] aber erwarten Sie nicht von mir, dass ich mich in ein Stück toter Haut einzwängen werde, um Ihnen zu beweisen, dass ich völlig lebendig bin»). In Zürich versorgte ihn eine Kupplerin mit wechselnden Gespielinnen, er vergnügte sich «aber nur sehr schlecht», denn die unverständliche einheimische Sprache, das «grobe Schweizerdeutsch», machte ihm zu schaffen. «Und ohne die Sprache vermindert sich das Vergnügen an der Liebe gleich um wenigstens zwei Drittel.»

Es wäre aber, das muss man immer wieder betonen, ganz und gar verfehlt, Casanova auf die Rolle des Verführers zu reduzieren. Er war ein kluger Kopf, ein Universalgelehrter, sprach fünf Sprachen fliessend, war befreundet mit Voltaire, mit Katharina der Grossen und mit Benjamin Franklin, er erfasste den Wert einer Bibliothek auf einen Blick (siehe seine Einschätzung der Bibliothek von Einsiedeln, Originaltext), war Experte im zeitgenössischen Musikgeschehen, ein grosser Menschenkenner und ein noch grösserer Schriftsteller. Der amerikanische Casanovist Tom Vitelli sagt sogar: «Geschichte meines Lebens ist grosse Literatur. Wahrscheinlich ist es die grösste Autobiografie aller Zeiten – in Thematik, Umfang, Stil und Sprache.»

Vor diesem Hintergrund kann man Casanovas Reise durch die Schweiz auch noch anders lesen. Seine Schilderungen enthalten zahlreiche aufschlussreiche kulturhistorische Details und Einschätzungen. Dabei kristallisiert sich das Bild des kultivierten Reisenden heraus, der kein Auge hat für die Naturschönheiten; dafür ist es – historisch gesehen – gerade noch zu früh: Die Landschaft war, überspitzt gesagt, noch gar nicht erfunden. «La nature le laisse complètement indifférent», die Natur lässt ihn vollkommen gleichgültig, heisst es bei Pierre Grellet im schönen Band Les Aventures de Casanova en Suisse (1919), oder noch pointierter: «Casanova va passer cinq ou six mois en Suisse sans la voir», er wird fünf oder sechs Monate in der Schweiz verbringen, ohne sie zu sehen. In der lieblichen Gegend rund um den Murtensee interessieren ihn der Geschmack der Fische und das Beinhaus aus der Zeit der Burgunderkriege, nicht die Landschaft; die Alpen werden ohnehin mit keinem Wort erwähnt. Einen Reisenden wie Casanova (sein Desinteresse an der Natur ist nicht individuell, sondern epochal bedingt) faszinierten Architektur, Bibliotheken, Kunstsammlungen, Kunstsalons, Musik, Sitten und Gebräuche, der Ideenaustausch mit gelehrten Gesprächspartnern. Er hatte Rousseau gelesen, er besuchte Voltaire in Genf und Haller in Zürich und debattierte mit ihnen auf Augenhöhe.

Am besten allerdings blieb ihm Bern in Erinnerung. Hier verlebte er einige innige Tage mit seiner Freundin Dubois (Identität ungeklärt), die ihn über den Misserfolg bei der Amazone mehr als hinwegtröstete. «Seine Freundin» schien er so aufrichtig zu lieben, dass sogar Pläne zu einer gemeinsamen Zukunft geschmiedet wurden. Aber Casanova wäre nicht Casanova, wenn dann nicht doch alles ganz anders gekommen wäre. Er verliess die Schweiz nach zahlreichen Abenteuern und war wieder auf den Strassen Europas unterwegs, frei und ungebunden (pikanterweise erblickte möglicherweise ein Sprössling Casanovas einige Monate später das Licht der Welt – als Schweizer Bürger oder Bürgerin. Die Dubois gibt ihrem Casanova beim Abschied zu verstehen, dass sie im zweiten Monat schwanger sei, für sein Kind aber gut sorgen wolle …). In Dux notierte er Jahrzehnte später: «Ich verliess Bern in einer sehr natürlichen Trauer. Ich war in dieser Stadt glücklich gewesen und denke noch jetzt niemals ohne Vergnügen an sie.»

Auszüge aus Casanovas «Geschichte meines Lebens», 1785–1798

Drei Stunden nach Leducs Ankunft nahm ich die Post und fuhr nach Schaffhausen und von dort mit einem Mietfuhrwerk nach Zürich, weil es in der Schweiz keine Poststationen gibt. Ich stieg in dem ausgezeichneten Gasthof «Zum Schwert» ab.

Als ich nach dem Abendessen allein in dem Speisesaal der reichsten Stadt der Schweiz sass, wohin ich gleichsam wie aus den Wolken gefallen war – denn ich hatte vorher nicht die geringste Absicht gehabt, nach Zürich zu gehen – überliess ich mich tausend Betrachtungen über meine augenblickliche Lage und mein vergangenes Leben. Ich rief mir meine Unglücksfälle ins Gedächtnis zurück und prüfte mein Verhalten. Ich erkannte gar bald, dass alle Unannehmlichkeiten mir durch meine eigene Schuld zugestossen waren und dass ich fast immer mit meinem Glück Scherz getrieben hatte, wenn es mich mit seinen Gaben überschüttete. Ich hatte mich soeben aus einer Schlinge gezogen, in der ich trotz meiner Unschuld Tod und Schande finden konnte, und ich erzitterte bei diesem Gedanken. Ich fasste den Entschluss, in Zukunft nicht mehr ein Spielball des Glücks zu sein und mich vom Zufall gänzlich unabhängig zu machen. Ich stellte ein Verzeichnis meines Vermögens auf und fand, dass ich hunderttausend Taler besass. Dies genügt, sagte ich zu mir selber, um, vor allen Wechselfällen geschützt, eine sichere Existenz zu führen, und ich werde in einem vollkommenen Frieden das wahre Glück finden! Voll von diesen Gedanken ging ich zu Bett und verbrachte eine köstliche Nacht in wundervollen Träumen. Ich sah mich in einer friedlichen Einsamkeit in Überfluss und Ruhe; mir war’s, als wenn ich mich inmitten einer schönen Landschaft befände, deren Herr ich wäre und wo ich eine Freiheit genösse, die der Mensch vergeblich in der Welt sucht. Natürlich träumte ich; aber in meinem Traum kam es mir vor, als ob ich nicht träumte. Es war für mich eine schmerzliche Enttäuschung, als ich bei Tagesanbruch plötzlich erwachte. Ich war von meinem eingebildeten Glück zu angenehm geweckt, als dass ich nicht hätte suchen sollen, es zu verwirklichen. Ich stand auf, zog mich in aller Eile an und ging ohne Frühstück aus dem Hause, ohne zu wissen wohin.

Eine Stunde nachdem ich die Stadt verlassen hatte, fand ich mich inmitten vieler Berge wieder, so dass ich hätte glauben können, mich verlaufen zu haben, wenn ich nicht überall Wagenspuren erspäht hätte, die mir verhiessen, dass mich jener Weg an einen gastlichen Ort bringen müsste. Alle Viertelstunden lang begegnete ich Bauern, aber ich gefiel mir darin, von ihnen keinerlei Auskunft zu erfragen. Nachdem ich sechs Stunden lang langsamen Schrittes gelaufen war, fand ich mich plötzlich auf einer grossen Ebene zwischen vier Bergen wieder. Ich hatte auf der linken Seite die schöne Aussicht auf eine grosse Kirche, die an ein Gebäude mit gleichförmiger Fassade angrenzte, welche die Wanderer einlud, sie aus der Nähe zu betrachten. Ich sah, als ich dichter herankam, dass es nur ein Kloster sein konnte, und war froh darüber, in einem katholischen Kanton zu sein.

Ich fand die Kirchentüre offen, trat ein und war verwundert über den reichen Marmorschmuck und die Schönheit der Altäre. Nachdem ich die letzte Messe gehört hatte, ging ich in die Sakristei, wo ich eine Menge Benediktiner fand.

Der Abt, den ich inmitten dieser Mönche an dem um seinen Hals hängenden Kreuz erkannte, trat auf mich zu und fragte, ob ich die Sehenswürdigkeiten des Klosters und der Kirche in Augenschein zu nehmen wünsche. Ich antwortete ihm, dies werde mir viel Vergnügen machen, und er erbot sich, nebst zwei anderen Brüdern selber mein Führer zu sein. Ich sah sehr reiche Gewänder, die mit Gold und echten Perlen überladen, Monstranzen, die mit Diamanten und anderen Edelsteinen geschmückt waren, eine reiche Balustrade und anderes mehr.

Ich verstand sehr wenig Deutsch und kein Wort von der Schweizer Mundart, die mir sehr schwer verständlich zu sein scheint und in der deutschen Sprache etwa die Stellung einnehmen dürfte wie die genuesische Mundart in der italienischen. Ich begann daher Lateinisch zu sprechen und fragte den Abt, ob die Kirche schon vor langer Zeit erbaut worden sei. Hierauf begann der Hochwürdigste eine lange Geschichte, die mich beinahe dahin gebracht hätte, meine Neugierde zu bereuen, wenn er mir nicht zum Schluss gesagt hätte, es sei die einzige Kirche auf der ganzen Welt, die Jesus Christus in eigener Person geweiht habe. Demnach musste die Gründung schon recht weit zurückliegen, und ohne Zweifel machte ich ein etwas überraschtes Gesicht dazu; denn der Abt lud mich ein, ihm in die Kirche zu folgen, um mich von der Wahrheit jener Worte zu überzeugen. Dort zeigte er mir auf dem glatten Marmor fünf Eindrücke, die von den Fingern Jesu Christi im Augenblick der Einweihung stammten, um die Zweifler zu überzeugen und dem Superior die Mühe zu ersparen, den Diözesebischof zur Weihe der Kirche herbeirufen zu lassen. Der Superior hatte dieses Wunder durch eine göttliche Offenbarung im Traum erfahren, die ihm in verständlichen Worten befahl, nicht mehr an eine Weihe zu denken, denn die Kirche sei «divinitus consecrata» [von Gott geweiht], das sei so wahr, dass man die Eindrücke an der bestimmten Stelle sehen könnte. Er ging in die Kirche, sah sie und dankte dem Herrn. […]

Die überzeugungsvolle Miene, womit der Abt mir diese Ammenmärchen vortrug, erregte in mir eine Lachlust. Ich hörte jedoch in so ehrfurchtsvollem Schweigen zu, dass der Hochwürdige Herr ganz entzückt war und mich fragte, in welchem Gasthof ich wohnte. Ich antwortete ihm: «Nirgends; denn ich bin von Zürich zu Fuss gekommen, und mein erster Besuch hat Ihrer Kirche gegolten.»

Ich weiss nicht, ob ich vielleicht diese Worte mit einem Ausdruck von Zerknirschung vorbrachte, aber der Abt faltete seine Hände und hob sie zum Himmel empor, als wenn er Gott dafür danken wollte, dass er mein Herz gerührt und mich auf meiner Pilgerschaft geleitet hätte, um in diesem Heiligtum die Last meiner Sünden abzuwerfen.

Dies erschien mir natürlich; denn ich weiss, dass ich stets wie ein grosser Sünder ausgesehen habe.

Der Abt sagte mir, es sei bald Mittag und er hoffe, ich werde ihm die Ehre antun, mit ihm zu speisen; ich nahm dies mit verbindlichem Dank an. Ich wusste nicht, wo ich war, und wollte ihn nicht fragen; denn es war mir erwünscht, ihn bei dem Glauben zu belassen, dass ich zur Abbüssung meiner Sünden eine Pilgerfahrt machte.

Unterwegs sagte der Abt mir, seine Ordensbrüder ässen an diesem Tage Fastenspeisen, wir aber würden Fleisch essen, da er von Benedikt XIV. einen Dispens erhalten hätte, der ihm erlaubte, das ganze Jahr hindurch mit drei Tischgenossen Fleisch zu essen. Ich antwortete ihm, ich würde gerne an seinem Vorrecht teilnehmen. Als wir in seinem Zimmer waren, das durchaus nicht einer Büsserzelle glich, zeigte er mir sofort den Dispensbrief, der unter Glas in einem schönen Rahmen dem Esstisch gegenüber an der Wand hing, damit die Neugierigen und Gewissenhaften Kenntnis davon nehmen könnten.

Da auf der Tafel nur für zwei Personen angerichtet war, legte ein Bedienter in reicher Livree noch ein Gedeck auf, was dem bescheidenen Abt Gelegenheit gab, mir zu sagen: «Ich speise für gewöhnlich mit meinem Kanzler; ich muss nämlich eine Staatskanzlei halten, weil ich in meiner Eigenschaft als Abt von Einsiedeln auch Fürst des Heiligen Römischen Reiches bin.»

Ich atmete auf; denn nun wusste ich endlich, wo ich mich befand, und dies war mir sehr angenehm. Von «Unserer Lieben Frau zu den Einsiedeln» hatte ich sprechen hören, dem Loreto1 nördlich der Alpen.

Bei Tisch fragte der Fürstabt mich, aus welchem Lande ich wäre, ob ich verheiratet wäre und ob ich die schönen Gegenden der Schweiz zu besuchen gedächte; zugleich bot er mir Empfehlungsbriefe an für alle Orte, die ich aufzusuchen wünschte.

 

Ich sagte ihm, ich wäre Venezianer, Junggeselle, und würde die mir angebotenen Briefe dankbar annehmen, nachdem ich ihm in einer Unterredung gesagt haben würde, wer ich wäre. Ich hoffte, er würde mir diese bewilligen, da ich den Wunsch hätte, ihm alles anzuvertrauen, was ich auf dem Gewissen hätte. So ging ich, ohne jeden Vorbedacht und ohne eigentlich zu wissen, was ich sagte, die Verpflichtung ein, diesem Abt zu beichten. Diese Plötzlichkeit der Entschlüsse war meine besondere Liebhaberei. Wenn ich einem plötzlichen Einfall folgte, wenn ich etwas tat, was ich vorher nicht überlegt hatte, so kam es mir vor, als wenn ich die Gesetze meines Schicksals befolgte und einem höchsten Willen nachgebe. […]

Als das Mahl beendet war, machte der Kanzler eine ehrfurchtsvolle Verbeugung und entfernte sich. Gleich darauf führte der Abt mich im ganzen Kloster herum und zuletzt auch in die Bibliothek. […]

Über den Anblick der Bibliothek würde ich laut aufgeschrien haben, wenn ich allein gewesen wäre. Sie enthielt nur Folianten, und die neuesten waren ein Jahrhundert alt. Alle diese dicken Bücher handelten nur von Theologie und religiösen Streitfragen: Bibeln, Kommentare, Kirchenväter, mehrere Legisten2 in deutscher Sprache, Annalen und das grosse Lexikon von Hoffmann.

«Ohne Zweifel, hochwürdigster Herr», fragte ich ihn, «haben Ihre Mönche ihre Privatbüchereien, worin sich naturwissenschaftliche, geschichtliche Werke und Reisebeschreibungen befinden?» – «Nein; meine Mönche sind brave Leute, die sich nur um ihre Andachtspflichten kümmern und in süsser Unwissenheit friedlich dahinleben.»

Ich weiss nicht, was mir in diesem Augenblick durch den Kopf fuhr, aber genug, mich wandelte eine unbegreifliche Laune an – nämlich Mönch zu werden. Ich sagte dem Abt zuerst nichts davon, aber ich bat ihn, mich in sein Kabinett zu führen, indem ich ihm sagte: «Ich wünsche, hochwürdigster Herr, Ihnen eine Generalbeichte aller meiner Sünden abzulegen, damit ich morgen, rein von allen Verbrechen, das heilige Abendmahl empfangen kann.»

Ohne mir zu antworten, führte er mich in ein hübsches Gartenhaus, wo er mir sagte, er sei bereit, mich anzuhören; doch litt er nicht, dass ich niederkniete.

Ihm gegenübersitzend, erzählte ich ihm drei Stunden hintereinander eine Menge anstössiger Geschichten; aber ich erzählte sie ohne Salz, denn ich war in einer asketischen Stimmung und musste in einem Stil der Zerknirschung reden, die ich in Wirklichkeit nicht empfand; denn wenn ich meine tollen Streiche wieder durchging, fand ich die Erinnerung daran durchaus nicht unangenehm. […]

Um glücklich zu sein, brauchte ich, so schien es mir, nur eine Bibliothek nach meinem Geschmack, und ich bezweifelte durchaus nicht, dass der Abt mir erlauben würde, mir nach meinem Belieben alle Bücher anzuschaffen, wenn ich ihm verspräche, sie nach meinem Tode dem Kloster zu schenken, vorausgesetzt, dass mir bei Lebzeiten die freie Benutzung zustände.

Was die Gesellschaft der Mönche anbelangte, Zwietracht, Neid und alle gegenseitigen Quälereien, die von solchen Vereinigungen unzertrennlich sind, so fühlte ich mich sicher, dass ich sie nicht zu fürchten haben würde, da ich nichts wollte und keinen Ehrgeiz hatte, der ihre Eifersucht hätte erregen können. Obgleich ich mich in einer Art von Verzauberung befand, sah ich aber doch die Möglichkeit der Reue voraus, und mir schauderte davor; aber ich hoffte dagegen ein Mittel finden zu können. Indem ich um das Kleid des heiligen Benedikt bitte, sagte ich zu mir, werde ich ein zehnjähriges Noviziat verlangen; kommt die Reue nicht während dieser zehn Jahre, so kann sie unmöglich später kommen. Übrigens wollte ich in aller Form erklären, dass ich nach keinem Amte, nach keiner geistlichen Würde strebte. Ich wollte nur Frieden mit hinlänglicher Freiheit, um nach meinen neuen Neigungen leben zu können, ohne zu irgendeinem Skandal Anlass zu geben. Die Schwierigkeit, die die erbetene lange Dauer meines Noviziats vielleicht verursachen könnte, gedachte ich dadurch zu heben, dass ich im Falle einer Sinnesänderung die vorausbezahlten zehntausend Taler preisgäbe.

Ich schrieb vor dem Schlafengehen diesen ganzen schönen Plan nieder, und da ich am nächsten Tage mich noch ebenso fest entschlossen fand, so übergab ich nach dem Abendmahl meine Schrift dem Abt, der mich in seinem Zimmer erwartete, um mit mir die Morgenschokolade zu trinken.

Er las sofort meine Eingabe und legte sie, ohne ein Wort zu sagen, auf den Tisch; nach dem Frühstück las er sie noch einmal, wobei er im Zimmer auf und ab ging, und sagte mir dann, er werde mir nach dem Mittagessen eine Antwort geben.

Nach dem Mittagessen sagte der liebenswürdige Abt zu mir: «Mein Wagen erwartet Sie vor der Tür, um Sie nach Zürich zurückzubringen. Reisen Sie ab, und gönnen Sie mir vierzehn Tage Zeit zur Antwort. Ich werde sie Ihnen persönlich überbringen. Einstweilen bitte ich Sie, diese beiden versiegelten Briefe selber abzugeben.»

Ich antwortete ihm, er habe zu befehlen; ich würde seinen Auftrag pünktlich ausführen und ihn im Gasthof «Zum Schwert» erwarten, in der Hoffnung, dass er meine Wünsche erfüllen würde. Ich ergriff seine Hand, die er sich küssen liess, und fuhr ab. […]

Am Tage vor dem angekündigten Besuch des Abtes stand ich gegen sechs Uhr abends an meinem Fenster, das nach der Brücke hinausging, und unterhielt mich damit, die Vorübergehenden zu betrachten, als ich plötzlich in scharfem Trabe einen vierspännigen Wagen daherkommen sah, der vor der Tür des Gasthofes hielt. Es sass kein Bedienter darauf; infolgedessen öffnete der Kellner den Schlag, und ich sah vier gutgekleidete Damen aussteigen. An den drei ersten bemerkte ich nichts Besonderes, aber die vierte, die als Amazone gekleidet war, fiel mir durch ihre Eleganz und ihre Schönheit auf. Es war eine junge Brünette mit schön geschnittenen, grossen Augen, über denen sich kühn geschwungene Brauen wölbten; sie hatte eine Haut wie Lilien und Wangen wie Rosen, trug eine Kappe aus blauem Satin mit einer Troddel, die ihr auf das Ohr herabfiel und ihr ein sieghaftes Aussehen gab, dem ich nicht zu widerstehen vermochte. Ich beugte mich soweit wie möglich mit dem Oberkörper aus dem Fenster vor, um zehn Zoll höher zu sein, da hob sie den Kopf und sah mich an, als wenn ich sie gerufen hätte. Meine gezwungene Stellung nötigte sie, mich eine halbe Minute lang anzusehen; das war länger, als sich für eine Dame schickte, und mehr als genug, um mich zu entflammen.

Ich eilte an das Fenster meines Vorzimmers, das auf die Treppe ging, und bald sah ich sie vorüberlaufen, um ihre Begleiterinnen einzuholen. Als sie mir gegenüber war, drehte sie sich zufällig um und stiess bei meinem Anblick einen Schreckensschrei aus, als wenn sie ein Gespenst gesehen hätte; sie erholte sich jedoch sofort wieder, lief mit ausgelassenem Lachen weiter und begab sich zu den drei Damen, die schon in ihrem Zimmer waren.

Sterbliche, versetzt euch an meine Stelle und widersteht, wenn ihr könnt, einer so unerwarteten Begegnung, und ihr Fanatiker beharrt, wenn ihr den Mut habt, bei dem lächerlichen Plan, euch in einem Kloster zu begraben, wenn ihr gesehen habt, was ich am 23. April in Zürich sah!

Ich war so aufgeregt, dass ich mich auf mein Bett werfen musste, um wieder ruhig zu werden. Nach einigen Minuten stand ich wieder auf, ging halb willenlos an das Flurfenster und sah den Kellner aus dem Zimmer der Damen kommen.

«Kellner, ich werde im Speisesaal essen.» – «Wenn Sie dies tun, um die Damen zu sehen, so ist es zwecklos, denn diese lassen sich das Abendessen im Zimmer auftragen. Sie wollen früh zu Bett gehen, weil sie in aller Frühe abreisen.» – «Wohin reisen sie?» – «Nach Einsiedeln, wo sie ihre Andacht verrichten wollen.» – «Woher kommen sie?» – «Aus Solothurn.» – «Wie heissen sie?» – «Das weiss ich nicht.»