Russische Freunde

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6

Direkt hinter einer Metalltür mit Glasfenster führte eine enge Treppe über ein paar Stufen hinunter ins Wasser der Dampfgrotte. Das Wasser war beinahe unerträglich heiss, und ich tapste in einen dicken Nebel hinein. Ich war nicht allein im Raum, irgendwo aus dem Dampf heraus flüsterten Stimmen. Mitten im heissen Nebel wurde mir bewusst, dass vor kurzem Juris Leiche in diesem Wasser gelegen hatte. Ich krallte mich an die Felswand, der Tuffstein bröselte unter meinen Fingern. In einem Fluchtreflex schob ich mich zurück zur Stiege und zur Eingangstür. Sie liess sich natürlich problemlos öffnen, und kalte Luft strömte mir entgegen. Allmählich konnte ich schemenhaft erkennen, wo ich mich befand. Ich war in einem kleinen Raum, der knietief mit Wasser gefüllt war. In der Mitte befand sich eine Erhebung aus Metall, auf der jetzt zwei Kurgäste lagen und vor sich hin schwitzten. Auf der gegenüberliegenden Seite sass ein Mann mit dem Rücken an der Wand im heissen Wasser und sah mich an. Ich schloss die Tür wieder, lehnte mich stehend gegen die Felswand und hörte zu, wie Wasser von der Decke tropfte.

Nach einigen Minuten wurde mir die Hitze unerträglich. Was war bloss mit Juri geschehen? Was hatte er hier gemacht?

Mir war schlecht.

Ich duschte mich eiskalt ab und setzte mich auf eine Holzbank. Am Morgen, als ich durchfroren in meinem Kleidchen auf dem fremden Bett aufgewacht war, hatte ich gewusst, dass ich so nicht abreisen konnte. Ich musste in Erfahrung bringen, wie Juri gestorben war. Ich wollte das Bad sehen. Ich hatte vor Kälte gezittert in meinem dünnen Sommerkleid und musste mir wärmere Sachen kaufen. In einem der Touristengeschäfte hatte ich eine heruntergeschriebene erdfarbene Cordhose und eine dunkle Regenjacke erstanden. Einen Pullover aus Faserpelz und sogar einen sehr billigen Badeanzug fand ich in der Migros. Damit waren meine Geldmittel dann aber erschöpft, alles, was ich bei Esther verdient hatte. In einer klugen Anwandlung investierte ich mein restliches Geld in Proviant, in etwas Käse und Brot. Die Kasse im Kurbad umging ich, indem ich mich in der Toilette umzog. Niemand sprach mich an, als ich mich im Badeanzug durch das Drehkreuz drückte.

Die Vorstellung von Juris Tod in der Dampfgrotte verfolgte mich. Ich legte mich in eines der grossen Aussenbecken ins lauwarme Wasser. Ein schneller Herztod hoffentlich. Was, wenn Juri noch lebend entdeckt hatte, dass er nicht rauskonnte? In der Hitze, die ich nur wenige Minuten ertragen hatte? Juri, mein kleiner Bruder, Juri, den ich, wie schon Freddie, immer irgendwie beschützen wollte. Ich suchte nach Zusammenhängen, ich suchte nach einem Grund, was war passiert, die Einbrüche und die Postkarte, was hatte Juri in Leukerbad gemacht, warum war er gestorben? Ich hatte keine Erklärung. Ich hatte keine Ahnung.

Irgendwann merkte ich, dass mir vor Hunger schlecht war, ich hatte seit gestern Morgen nichts mehr gegessen. Ich holte den Käse und das Brot und folgte einem Schild mit dem Hinweis Picknickraum. Die beiden kühlen, gekachelten Zimmer mit langen Holztischen wurden vermutlich meistens von Schulklassen benützt. Ich fand sympathisch, dass es sie überhaupt gab. An einem der Tische sass eine weiss gekleidete Angestellte mittleren Alters und öffnete gerade einen grossen Tupperwarebehälter, der ihr Mittagessen enthielt. Mein Käse lag in Plastik eingeschweisst vor mir, daneben der Laib Brot. Ich überlegte, wie ich den Käse aus der Plastikhülle kriegen konnte. Da reichte mir die Frau vom Nebentisch unaufgefordert ihr Messer.

«Arbeiten Sie hier?», fragte ich, als ich das Messer zurückgab.

«Ja. Ich habe heute Morgen ganz früh begonnen, schon bevor das Bad offen war. Deshalb habe ich jetzt Hunger.»

Zufrieden sah sie auf ihr Mittagessen. Ihr Akzent verriet die Herkunft aus einem südlichen Land. Dann blickte sie beinahe ertappt auf meinen Käse und das Brot.

«Sie haben nur Käse und Brot?»

Die Frau stand auf, brachte ein Glas und bot mir von ihrem Orangensaft an. Anschliessend erzählte sie mir, wie sie am Abend für ihren Mann und die Kinder vorkochte, die Kinder wärmten sich das Mittagessen dann selber. Das Gespräch über alltägliche Banalitäten tat mir gut und holte mich in die normale Welt zurück. Nur waren meine Beiträge mehr theoretisch, ich koche fast nie und schon gar nicht im Voraus. Die Frau kam aus Portugal und arbeitete seit zwei Jahren im Bad.

Ohne mein Zutun kam das Gespräch auf den Badeunfall. Die Frau erzählte mir, was vorgefallen war, natürlich beschäftigte der Vorfall die Angestellten.

«Sie sagen jetzt, Alexandre Pereira sei schuld. Er ist hier Bademeister, ein Kollege von mir, auch Portugiese, ich kenne ihn gut. Alexandre würde niemals mitten in der Nacht jemanden baden lassen. Er will doch seinen Job nicht verlieren, das weiss ich.»

«Wo ist er denn jetzt?»

Vielleicht konnte ich mit ihm sprechen.

«Er ist in Brig oder Visp. Gestern kam Polizei zu ihm nach Hause.» Sie begann mit ein paar groben Bewegungen ihre Sachen zusammen zu räumen. «Was weiss ich, wie dieser Russe ins Bad gekommen ist. Was hatte er hier zu suchen, mitten in der Nacht. Das Bad war geschlossen, aber die Leute werden immer frecher. Man muss aufpassen. Und jetzt hat Alexandre Probleme.»

Sie stand und wollte sich verabschieden.

«Ich kenne den Toten, Juri Salnikow und ich, wir waren Freunde. Ich wusste, dass er in Leukerbad ist, und ich wollte ihn hier besuchen.»

Die Frau stoppte und starrte mich betreten an.

«Das tut mir leid. Mein Beileid. Das ist schlimm, dass dein Freund so gestorben ist», meinte sie. Warum es den Leuten leid tut, wenn jemand gestorben ist, habe ich noch nie verstanden, sie können ja nichts dafür. Jedenfalls in den meisten Fällen. Aber so wird kondoliert. Ich fand es vor allem komisch, dass mir überhaupt zu Juris Tod kondoliert wurde.

Sie setzte sich noch einmal hin und erzählte, was unter den Angestellten über die Todesnacht bekannt war. Alexandre Pereira hatte den letzten Dienst gehabt. Zu seinen Aufgaben zählte es, alle Räume zu kontrollieren und abzusperren. Am Morgen nach der betreffenden Nacht war ein Kollege zum Frühdienst erschienen und hatte Alexandre Pereira in der Eingangshalle angetroffen. Pereira sagte, er habe seine Schlüssel verloren und deshalb nicht absperren können. Aus dem Grund habe er die ganze Nacht im Bad verbracht. So ein Vorfall musste zwar der Geschäftsleitung gemeldet werden, war aber nicht wirklich schlimm, vorausgesetzt, dass nichts gestohlen worden war. Etwas eigenartig war höchstens, dass Pereira es vorgezogen hatte, im Bad zu wachen statt jemanden mit Schlüssel zu organisieren.

Der Kollege und Alexandre Pereira machten sich gemeinsam auf einen Kontrollgang. Alexandre hatte gemäss seinen Angaben den grössten Teil der Nacht bei der Haupttüre, im Eingangsbereich, verbracht. Aber es gab weitere Eingänge ins Bad, durch die jemand eingedrungen sein konnte, und auch der Haupteingang war zeitweise unbewacht gewesen. Deshalb kontrollierten die beiden alle Bereiche des Bades, einschliesslich der Nebenräume. Soweit sie es beurteilen konnten, war nichts gestohlen worden. Dann fanden sie den Toten. Und die Dampfgrotte, in der der Tote schwamm, war eigenartigerweise abgeschlossen.

Am Tag nach der Todesnacht blieb die Anlage zu, das Personal wurde nach Hause geschickt. Kollegen erzählten, Alexandre Pereira sei noch vor Ort befragt worden, nicht nur von der Geschäftsleitung, sondern auch von der Polizei. Nun gab er zu, was er bisher unerwähnt gelassen hatte. Er hatte seine Abschlussrunde später als üblich begonnen, und zwar erst einige Zeit, nachdem die letzten Gäste und Angestellten das Bad verlassen hatten. Weil er, wie er erzählte, nach Badeschluss ungefähr eine Stunde lang von einem Besucher aufgehalten worden war. Von einem jungen Mann, den er selbst nicht kannte, und bei dem es sich nicht um den Toten handelte. Die beiden Männer hatten sich während einer Stunde in einem der Massageräume unterhalten, und sie hatten einen Tee getrunken. Als Pereira schliesslich abschliessen wollte, stellte er fest, dass er seinen Schlüsselbund nicht hatte. Er suchte ihn an allen möglichen Orten, im Bad, in den Massageräumen und in seinem persönlichen Schrank. Schliesslich hatte er resigniert und die restliche Nacht beim Eingang auf den Morgendienst gewartet. Er sagte, er habe den Verstorbenen weder tot noch lebendig gesehen noch überhaupt bemerkt, dass jemand im Bad war.

Die Portugiesin hatte die erlaubte Mittagszeit längst überschritten und wollte nun gehen. Sie stand bereits, als ihr etwas einzufallen schien und sie sich wieder hinsetzte. Sie sah mich an.

«Der Verstorbene, dein Freund, hat vor ein paar Tagen einen Garderobekasten gemietet. Ganz hinten gibt es ein paar Kästen für Kurgäste, die mehrere Tage bleiben. Ich kann mich daran erinnern, weil er Probleme hatte, den Schrank zu finden. Ich musste ihm helfen. Als ich heute in der Zeitung das Foto sah, habe ich gedacht, das ist dieser Mann, den kenne ich. Ich kann dir den Kasten zeigen, vielleicht willst du seine persönlichen Sachen mitnehmen. Ich weiss nicht, wer sie sonst will. Bisher hat sich niemand gemeldet.»

Offensichtlich kam sie nicht auf die Idee, dass sich die Polizei für den Schrank interessieren könnte. Sie ging, um einen Ersatzschlüssel zu holen. Ich versprach, ihn ihr anschliessend zu bringen, denn sie musste dringend zur Arbeit.

Die Garderoben im Kurbad sind gemischt. Ich wartete, während ich an meinen Haaren herumrubbelte, bis sich die Garderobe geleert hatte. Die Portugiesin hatte mir den Schlüssel in bester Absicht gegeben, ich aber war mir sicher, dass es sich um eine Angelegenheit der Polizei handelte. Nicht nötig also, dass andere beobachteten, wie ich mich an dem Kasten zu schaffen machte. Obschon die Familie, die sich umständlich darum bemühte, alle ihre Kleinkinder wieder in Kleider und Schuhe zu stecken, ganz offensichtlich mit anderem beschäftigt war.

 

Sobald ich allein war, öffnete ich Juris Schrank. Duschmittel, Badeschlappen, ein russischer Roman. Zwei Toilettentaschen im oberen Fach, in der ersten befanden sich wie erwartet Badeartikel. Im zweiten Beutel fand ich nichts ausser einem robusten braunen Briefumschlag. Ich warf einen Blick hinein und hielt die Luft an. Das Couvert war mit Geld gefüllt. Prall gefüllt. Mit Tausendfrankenscheinen.

Die Garderobe war immer noch leer. Reflexartig schob ich das Couvert in mein feuchtes Handtuch. Kaum hatte ich den Schrank wieder geschlossen, wurde plötzlich die Tür aufgestossen, und zwei jüngere Männer kamen herein. Ich sah sie nur aus den Augenwinkeln, als ich den Raum verliess, das feuchte Handtuch mit dem Couvert gegen die Brust gedrückt.

Ich suchte die Portugiesin und fand sie in der Damensauna, wo sie mit einem Gummischrubber Wasserpfützen Richtung Ausguss beförderte. Ich gab ihr den Schlüssel zurück und sagte, dass sich nur Toilettenartikel im Schrank befänden, nichts wirklich Persönliches. Dann erklärte ich ihr, dass wir besser abwarten sollten, ob die Polizei den Schrank sehen wollte. Sie nickte mir zu, und ich ging. Um das Bad zu verlassen, schloss ich mich einer grösseren Gruppe an. Die Dame an der Kasse war zu beschäftigt, um zu sehen, wie ich mich durch die Absperrung drückte. Zwei Männer, vielleicht die beiden aus der Garderobe, beobachteten mich bei meinem Manöver, sagten aber nichts.

Es war etwas wärmer geworden, und die Sonne schien blass durch die Wolken, als ich ins Freie trat. Ich brachte das alles nicht auf die Reihe. Das Geld befand sich jetzt in meiner Plastiktasche, neben dem feuchten Handtuch und dem nassen Badeanzug. Ich hatte instinktiv gehandelt und einen Blödsinn gemacht, das wusste ich. Es war beunruhigend, aber es fühlte sich auch gut an, das Geld. Trotzdem musste ich mir überlegen, was ich nun unternehmen wollte.

Manchmal hilft es, wenn ich mich bewege. Ausserdem wollte ich alleine sein und das Couvert untersuchen. Ich studierte die gelben Wanderschilder in der Dorfmitte und lief dann los in Richtung Thermalquellenweg. Auf wackeligen Metallbrücken und über Holzstege führte er in eine Schlucht. Ich begann zu rennen, plötzlich süchtig nach Bewegung, es tat so gut. So stürmte ich in die Schlucht, unter mir toste ein Bach. Bis ich ausser Atem stehen bleiben musste. Ich stützte mich auf das Geländer und starrte auf die Wassermassen unter mir. Der Lärm des stürzenden Wassers schluckte alle Geräusche, das Rauschen tat mir wohl. Was blieb, war eine diffuse Angst. Ich hatte Angst. Etwas mir völlig Unverständliches spielte sich ab.

Hinter dem Wasserfall am Ende der Schlucht weitete sich das Bergtal. Die Bewegung hatte meine Anspannung ein wenig gelöst, die Wildheit der Umgebung hatte mich beruhigt. Ich suchte mir abseits des Weges einen einsamen Platz. Ein paar Meter oberhalb des ausgeschilderten Wanderpfads fand ich, umgeben von Tannen und Gestrüpp, eine flache Mulde. Dort wickelte ich den etwas feucht gewordenen braunen Umschlag aus dem Badetuch.

Es war viel Geld. Ich hatte ungefähr die Hälfte gezählt und war schon bei fünfzigtausend Schweizer Franken angelangt. Woher hatte Juri bloss das Geld? Da sind hunderttausend drin, dachte ich gerade, als ich unter mir auf dem Weg eine leise Stimme hörte. Auf dem Wanderweg unter mir standen die beiden Männer, die mich beim Badausgang beobachtet hatten. Ich hatte sie nicht kommen hören, und auch jetzt bewegten sie sich leise und vorsichtig wie Tiere und beobachteten die Gegend. Sie gingen ein paar Schritte weiter, dann trennten sie sich, einer blieb circa zehn Meter von mir entfernt stehen, der andere ging den Weg entlang weiter. Ich blieb erstarrt sitzen.

«Die sind hinter mir her.»

Mein Hirn war über diesem Satz eingerastet, ich atmete flach, kämpfte gegen eine unerträgliche Nervosität in meinen Handflächen und Beinen, fast schon ein ziehender Schmerz. Falls sie mich hier fanden, brauchte ich gar nicht erst davonzulaufen. Weil ich nicht in die Schlucht zurückwollte. Und am Berghang würden sie mich früher oder später einholen. Ich bewegte mich nicht, atmete kaum. Eine Ameise hatte sich an meinem Hals verirrt, sie krabbelte verzweifelt an meinem Schlüsselbein entlang und suchte einen Ausgang. Ich empfand eine tiefe Sympathie für sie, ich hoffte für sie, dass sie ihn fand.

Irgendwann kam der zweite Typ zurück, breitete ratlos die Arme aus und deutete gestikulierend in ein paar Richtungen. Die Männer blieben noch einen Moment lang stehen und kontrollierten wachsam die Gegend. Ich duckte mich noch tiefer, das Gesicht nach unten gesenkt, wie wenn mein Blick den ihren anziehen könnte, dann entfernten sie sich. Ich dankte nachträglich der Verkäuferin im Sportgeschäft, die mir die erdfarbene, hässliche Wanderkleidung verkauft hatte.

Viel später sah ich die beiden Männer auf der gegenüberliegenden Talseite, sie beobachteten immer noch die Gegend, waren nun aber zügiger unterwegs. Der Rundweg führte von dort aus wieder hinunter ins Dorf. Ich wartete, bis sie verschwunden waren. Dann versteckte ich meine Tasche unter ein paar Tannenzweigen, entnahm ihr nur das Geldcouvert und mein persönliches Portemonnaie mit Ausweisen. Ich beschloss, die Dämmerung abzuwarten. Erst als das Licht schwächer wurde, ging ich auf dem gleichen Weg, den die Männer gewählt hatten und der nicht durch die Schlucht führte, zurück ins Dorf. Am Anfang schlich ich noch stückchenweise vor und hielt mich möglichst abseits vom Spazierweg. Aber je näher ich dem Dorf kam, desto sicherer fühlte ich mich. Ich bezweifelte inzwischen, dass die Männer hinter mir her gewesen waren. Als ich mich der Pension Cordula näherte, war ich sicher, dass mir niemand folgte. Ich war meiner eigenen Panik erlegen. Vielleicht eine Form von schlechtem Gewissen. Wegen des Geldes.

Ich wollte die Pension am Abend trotzdem nicht mehr verlassen. Ich blieb in meinem Zimmer. Auf dem Boden und auf allen verfügbaren Flächen breitete ich Geldscheine zum Trocknen aus. Sie gemeinsam mit dem Badeanzug in ein feuchtes Tuch zu wickeln, war nicht schlau gewesen. Es handelte sich um hunderttausend Franken, das wusste ich jetzt. Die Summe war so abstrakt, dass sie mich kalt liess, und überraschenderweise schlief ich tief und traumlos. Als ich am Morgen aufstand, um den Vorhang aufzuziehen, musste ich über das Geld laufen, die Scheine blieben an meinen Fusssohlen kleben.

7

Beim Frühstück in der düsteren Gaststube, wiederum als einziger Gast, traf ich den Entschluss, zur Polizei zu gehen. Ich hatte mich noch einmal mit der Serviceangestellten von vorgestern unterhalten. Juri hatte weder Besuche gehabt, noch war er angerufen worden. Er hatte ein paar Nächte in der Pension geschlafen und war tagsüber unterwegs gewesen. Mehr wusste man nicht über ihn. Ich würde mich bei der Polizei als Juris Freundin vorstellen. Vielleicht konnte ich mit Alexandre Pereira sprechen. Und ich würde das Geld abgeben. Ich hatte die getrockneten Scheine in einen festen, dunklen Plastiksack gefüllt, den mir die Wirtin, diesmal fast freundlich, gegeben hatte. Ich trug ihn in meine Hose gestopft vorne am Bauch.

Beim Polizeiposten in Leukerbad handelte es sich genaugenommen um zwei Räume im Gemeindehaus. Durch eine Glastür betrat ich den Posten, die beiden Schreibtische hinter der Schranke waren verwaist, und der Raum war leer. Auf der Besucherseite stand ein kleiner runder Tisch mit zwei Korbstühlen, ich setze mich, bereit zu warten. Zwei Männer sprachen im Nebenraum.

«Vorläufig haben wir ja nicht viel gegen Pereira in der Hand. Er behauptet steif und fest, Salnikow nicht gekannt zu haben. Das heisst, gekannt schon, ein einziges Mal seien sie sich in einer Bar begegnet. Aber er habe nie etwas mit ihm zu tun gehabt. Vielleicht können wir ihm das Gegenteil nachweisen. Vielleicht melden sich ja noch Zeugen, die die beiden zusammen gesehen haben.»

«Er lügt natürlich. Aber was hat er denn genau ausgesagt? Immerhin hat er doch zugegeben, dass er sich nach Badeschluss mit einem Besucher herumgetrieben hat?»

Beide Männer sprachen in breitem Walliser Dialekt, ein älterer und ein jüngerer Mann, der jüngere sprach viel schneller und selbstbewusster.

«Ich kann dir schon sagen, was in seiner Aussage steht.»

Ich hörte wie eine Schublade aufgezogen und wieder zugestossen wurde, dann das Rascheln von Papier.

«Bei Badeschluss, das Putzpersonal war schon weg, wollte er die vorgeschriebene Kontrollrunde machen, sagt er.»

Es war wieder die ältere Stimme, die sprach, und ich stellte mir einen behäbigen, lokalen Polizeibeamten vor, der sonst mit Diebstählen beschäftigt war.

«Ein junger Bursche sei vor dem Eingang gestanden und habe dort gegen die Scheibe geklopft. Weil er ganz durchnässt und verfroren ausgesehen habe, habe er ihn hereingelassen, sagt Pereira. Ein knapp zwanzigjähriger junger Bursche, etwas ungepflegt, nur in einem T-Shirt, ohne Jacke, so beschreibt ihn Pereira. Er habe ihm ein Handtuch gebracht und ihm angeboten, sich drinnen aufzuwärmen. Später hat er ihm einen heissen Tee gemacht, den sie zusammen im Massageraum getrunken haben. Das alles soll eine Stunde gedauert haben, höchstens.»

«Und was wollte dieser unbekannte Bursche in Leukerbad?»

«Er habe zu Pereira gesagt, er sei im Regen zu Fuss von Leuk heraufgelaufen, weil seine Tante hier eine Ferienwohnung habe. Er sei ein Schweizer, der aber in Frankreich lebe. Er habe kein Geld und sei per Autostopp unterwegs. Die Wohnung der Tante sei verschlossen gewesen, niemand da. Als er gesehen habe, dass im Bad noch Licht sei, habe er sich gedacht, mindestens ein Handtuch würde man ihm dort vielleicht geben. Das soll er so dem Pereira erzählt haben.»

«Und dann?»

«Pereira ging raus, um – verspätet – seine Kontrollrunde zu machen und um das Bad abzuschliessen. Da habe er dann gemerkt, dass seine Schlüssel weg waren. Er ging zurück ins Massagezimmer, und der junge Bursche war verschwunden.»

«So ein Quatsch. Gibt es irgendwelche Zeugen, dass es den Jungen überhaupt gibt? Ist er gesehen worden?»

«Nein, gesehen hat ihn niemand. Wer die Tante mit Ferienwohnung sein könnte, haben wir auch nicht herausgefunden. Aber Pereira behauptet steif und fest, er sei mit diesem Tramper zusammen gewesen. Und er sagt, es sei gut möglich, dass ihm der Kerl die Schlüssel gestohlen habe, zum Beispiel, als er zum Automaten ging, um Tee zu holen.»

«Du glaubst dem Pereira doch nicht, oder? Das klingt alles sehr an den Haaren herbeigezogen», die jüngere Stimme war befehlsgewohnt, «ich bin überzeugt, Pereira hat Salnikow ins Bad geholt. Ein schwules Paar, das sich nachts ein Rendezvous gab. So war das doch. Was dann passiert ist, ob es ein Unfall war oder mit Absicht geschah, das werdet ihr schon noch herausfinden. Eifersucht, ein Liebesspiel, was weiss ich, vielleicht ja auch ein Missverständnis.»

Es klang fast nach einer Anweisung, wie der Fall zu lösen sei.

«Wir können nicht einmal beweisen, dass Pereira von Salnikows Anwesenheit im Bad wusste. Er wird heute Nachmittag freigelassen, vorläufig jedenfalls.»

«Was habt ihr denn übrigens bei Juri Salnikow gefunden, in seinem Zimmer? In der Pension Cordula war das, nicht wahr? War da nichts Auffälliges? Ihr habt doch das Zimmer durchsucht. Habt ihr etwas gefunden, Geld zum Beispiel?»

Welches Geld? Was weisst du vom Geld? Bei den letzten Sätzen sass ich kerzengerade. Der Mann hatte die Frage nicht zufällig gestellt. Sein Tonfall, irgendetwas verriet es mir. Ich war alarmiert.

«Bist ja gut informiert, Lothar, es stimmt, er hat in der Pension Cordula gewohnt», antwortete der ältere Polizist. «Aber in seinem Hotelzimmer war nichts, was uns weiterbringen würde, kein Geld, nur eine Kreditkarte. Ein paar Kleider, dann noch Prospekte, die er sich hier im Reisebüro besorgt hat. Nichts Auffälliges. Im Bad haben wir übrigens seine Kleidung im Gang gefunden, an einer Garderobe. Normalerweise hängen die Leute dort nur ihre Badetücher auf. Er muss sich also direkt im Gang umgezogen haben, aber das Bad war ja vermutlich auch schon lange leer zu dem Zeitpunkt», der ältere Mann stockte, «trotzdem, vielleicht hatte er ja auch noch einen Garderobekasten. Das werden wir prüfen.» Seine Stimme verriet, dass er sich bewusst war, etwas versäumt zu haben.

«Das mache ich», die Reaktion des jüngeren Mannes kam schnell, zu schnell. «Das kann ich für dich erledigen. Wenn ich im Bad bin, frage ich Frau Walser wegen dem Garderobekasten. Ich informiere dich dann», schob er, wie wenn er sich mässigen wollte, betont ruhig nach. «Und passt auf, dass der Pereira nicht verschwindet, wenn ihr ihn jetzt freilasst. Ich muss zurück ins Büro. Du hältst mich aber auf dem Laufenden, Karl? Rufst mich an, wenn du etwas Neues hast. Wir wollen den Ruf unserer Bäder und unserer Gemeinde nicht aufs Spiel setzen. Der hat in der Vergangenheit schon genug gelitten. Wir müssen sorgfältig überlegen, was an die Öffentlichkeit geht.»

 

Erst jetzt wurde mir klar, dass der jüngere Mann gar kein Polizist war. Im gleichen Moment trat er aus dem Nebenzimmer. Ein einflussreicher, lokaler Geschäftsmann, vermutete ich, vielleicht der Bürgermeister, vielleicht der Geschäftsleiter des Bades. Sehr gepflegt, wellig geföhnte graumelierte Haare. Nervös. Mit einem misstrauisch abschätzenden Blick musterte er mich: «Warten Sie schon lange?»

«Nein, nein, kein Problem. Noch keine Minute, ich bin grad hereingekommen und sowieso, ich bin nicht pressiert. Mindestens in den Ferien sollte man doch Zeit haben», ich lächelte ihm vertrauensvoll in die Augen. Inzwischen war auch der ältere Polizist aufgetaucht und sah mich an.

«Ich wollte bloss schauen, aber vielleicht bin ich gar nicht richtig hier», ich stockte, immer noch auf der Suche nach einer Ausrede, «verkauft die Polizei nicht manchmal auch Fahrräder, solche, die gefunden wurden und nie abgeholt worden sind? Wir wollten mal schauen, ob wir nicht ein paar alte, gebrauchte Fahrräder finden könnten für unser Ferienhaus.»

Ich hatte kein Vertrauen in den Polizisten, nein, besser gesagt, ich traute seinem Besucher nicht. Da ging ich lieber zu Ricklin. Nachdem der Polizist meine Frage bedauernd verneint hatte, verliess ich den Posten. Das Geld knisterte in meiner Hose.

Immerhin hatte ich erfahren, dass Alexandre Pereira am Nachmittag freikommen würde. Ich ging auf die Suche nach der Portugiesin, und sie verriet mir seine Adresse. Direkt neben Pereiras Wohnblock fand ich ein Restaurant mit Terrasse. Jetzt, am späten Vormittag, erlaubte es die Sonne sogar, draussen zu sitzen. Das einzige, was den unerwarteten Sonnentag trübte, war ein Anruf von Petar, Juris russischem Freund aus Bern. Ich brachte es nicht über mich, ihm von Juris Tod zu berichten, nicht hier, nicht jetzt. Ich sagte ihm nur, dass ich gerade keine Zeit hätte zum Sprechen.

Insgesamt wartete ich beinahe vier Stunden auf Pereira. Deshalb bestellte ich mir, nach mehr als zwei Stunden Warten, ein Mittagessen. Wohl wissend, dass ich nur mit Juris Geld bezahlen konnte. Aber auf das musste ich sowieso zurückgreifen, auch für die Nächte in der Pension. Später nahm ich ein üppiges Dessert, zwei Cafés und wieder Wein. Womit ich auch den Kellner besänftigte, bevor ich ihm zum Zahlen einen Tausendfrankenschein entgegenhielt. Es war ja nicht viel, was ich mir vorübergehend ausborgte, höchstens dreihundert Franken, beruhigte ich mich, als mir der Kellner das Wechselgeld in die Hand drückte.

Gegen vier brachte ein Polizeiauto Alexandre Pereira. Fünf Minuten später läutete ich bei ihm, ich stellte mich als eine Freundin von Juri vor, und er bat mich herein. Noch bevor ich eine Frage stellen konnte, begann sich Pereira zu rechtfertigen. Er sass im Trainingsanzug am Küchentisch und triefte vor Selbstmitleid und Groll. Ich konnte die Sympathie der netten Portugiesin für Alexandre Pereira nicht verstehen, was aber vielleicht an der im Gefängnis verbrachten Nacht lag. Pereira war zu dick, ein Kranz von dunkeln Haaren umrundete seine Glatze. Den Schnauz trug er sicher, um männlicher zu wirken. Jedenfalls konnte ich mir eine Liebesgeschichte zwischen ihm und Juri nicht vorstellen. Schon deshalb nicht, weil Juri mit Balthasar Zeiler in Bern eine viel bessere Alternative hatte.

Aber seine Geschichte hatte glaubwürdig gewirkt, dachte ich, als ich zurück zur Pension Cordula ging. Pereira schien wirklich nichts über Juri zu wissen. Er hatte bestätigt, dass sie sich ein paar Tage vor dem Unglück abends in einer Bar begegnet waren. Die beiden hatten sich gut verstanden, vermutlich gab es nicht allzu viele Schwule in Leukerbad, also hatten sie zusammen ein Bier getrunken. Pereiras Erzählung stimmte mit dem überein, was ich auf dem Polizeiposten gehört hatte. Er hatte keinen Grund, Juri umzubringen. Was blieb, war die Möglichkeit, dass er Juri irrtümlich eingeschlossen hatte. Vielleicht hatte er ihm sehr wohl den Zugang ins Bad ermöglicht, zum Beispiel weil er Juri ganz gerne näher kennenlernen wollte. Und dann ein Missverständnis, vielleicht ein Unfall, und Pereira schloss ihn ein, ohne es zu wollen. Was aber noch keine Erklärung lieferte für die Einbrüche und das Geld.

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