Die Wachtturm-Wahrheit

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[…] „Über andere Entscheidungen muß man länger nachdenken, weil in der Bibel darüber nicht direkt etwas gesagt wird. Trotzdem wird durch biblische Grundsätze in der Regel deutlicher, welche Entscheidung die beste ist. Beispielsweise waren viele heutige Formen der Unterhaltung in den Tagen Jesu unbekannt, aber es gibt eindeutige biblische Aussagen darüber, was Jehova gefällt und was ihm mißfällt. Demnach hat jeder Christ, der eine Unterhaltung wählt, die Gewalt, Unmoral oder rebellisches Handeln verherrlicht, eine schlechte Entscheidung getroffen (Psalm 97 : 10; Johannes 3 : 19 - 21; Galater 5 : 19 - 23; Epheser 5 : 3 - 5).“

Es gibt keinen Zweifel, eine private Entscheidung zu treffen über Unterhaltung, Musik, Freundeskreis und vieles mehr, ist nicht erwünscht. Da die Bezeichnung „Christ“ nur in dem Sinne zu verstehen ist, dass es sich um die eigene Gruppen-Gemeinschaft handelt, ist jede Abweichung riskant. Obwohl die Formulierung „in der Regel“ eine Möglichkeitsform ist und somit nicht als Tatsachenbehauptung angesehen werden kann.

Die Behauptung, dass die Aussagen in der Bibel „eindeutig“ seien, ist nicht redlich. Niemand kann von sich sagen, er hätte von Jehova persönlich erfahren, was ihm missfällt. Die als Beweise angeführten Bibeltexte veranschaulichen sehr gut die Rösselsprungmethode. Sie sind aus allen Bereichen der Bibel zusammengefügt. Die Psalmen sind der lyrische Teil der Schrift, Johannes ist ein Evangelium, während Galater und Epheser Lehrbriefe sind. Jeder Teil müsste unter ganz unterschiedlichen Aspekten verwendet und zitiert werden. In der Wachtturmlehre wird darauf keine Rücksicht genommen. Der Baustein passt normgerecht, da er durch ein Wort, einen Satz mit der Aussage übereinstimmt.

Wie viele Tränen wurden wegen dem angeblich biblischen Gebot vergossen, eine Beziehung zu beenden! Durch das Bibelzitat Freundschaft mit der Welt sei Feindschaft mit Gott war jeder Einwand zwecklos. Nur die Interpretation der Wachtturm-Gesellschaft, wie dieses Wort heute zu verstehen sei, zählte.

Dazu könnte ich ungezählte Beispiele nennen. Wie das meiner Schwester. Sie verliebte sich in einen sehr netten Arbeitskollegen. Nicht nur meine Eltern setzten sie unter Druck. Leider habe auch ich sie gefragt, ob sie denn wirklich eine Hochzeit feiern möchte, bei der ihre eigene Familie nicht dabei sein kann. Wie erpresserisch das war!

Eine andere Frau aus unserem Verwandtenkreis lernte die Zeugen als junge, ledige Mutter kennen. Sie lebte in einem streng katholischen Dorf und fühlte sich wegen ihrer „Schande“ ausgegrenzt und isoliert. Obwohl sie den Vater ihres Kindes sehr liebte, glaubte sie schließlich den Zeugen Jehovas, dass sie die Beziehung beenden müsste, um sich taufen lassen zu können. Sie ist wahrlich nicht die Einzige in den Reihen der Zeugen Jehovas, die ihr Leben lang eine unglückliche Liebe in ihrem Herzen tragen musste. In diesem Fall endete das ganz besonders tragisch, weil sich ihr Sohn mit 20 Jahren das Leben nahm.

Wie werden junge Menschen dazu gebracht, solche Vorschriften zu befolgen? Es gibt Anleitungen speziell für junge Leute. In dem Buch „Fragen junger Leute – praktische Antworten“, Band 228 wird Heranwachsenden empfohlen, sich „Leitbilder“ zum Vorbild zu nehmen. An erster Stelle von neun „Vorbildern“ steht „Sulamith“. Sie ist die Hauptperson in der lyrischen Erzählung im sogenannten „Hohen Lied“. Es wird dem weisen König Salomo als Autor zugeschrieben. Ein junges Mädchen, eine Sulamitin ist in einen Hirtenjungen verliebt. Sie ist so schön, dass der König auf sie aufmerksam wird und sie zu sich in seinen Palast bringen lässt. Aber die Liebe der Sulamith zu ihrem Hirten ist stärker als der Tod. Der König kann sie mit all seinen Reichtümern nicht umstimmen.

Dieses „Leitbild“ wird auf den Seiten 33 bis 41 in dem Buch besprochen. Eine sehr schöne Liebesgeschichte – wie man meinen könnte. Doch auf Seite 34 wird eine Warnung eingeschoben mit dem Unterthema:

kein „ungleiches Joch“.

Durch verwirrende Zusammenhänge oder weggelassene Informationen wird das Unterbewusstsein gezwungen, Dissonanzen durch eigene Schlussfolgerungen aufzulösen. Lob und Zustimmung erhält, wer die erwartete, gruppenkonforme Entscheidung trifft.

Das ist der Wermutstropfen in dieser schönen Liebesgeschichte. Es sind Sätze wie diese zu lesen:

„Dann ist dir klar, was du zu tun hast. Ist der andere auch noch so attraktiv und charmant und wirkt er noch so anständig, er wird deine Freundschaft zu Gott nicht positiv beeinflussen (Jakobus 4,4).“

Wie grausam ausgerechnet dieser Bibeltext in diesem Zusammenhang!

„Ihr Ehebrecherinnen, wißt ihr nicht, daß die Freundschaft mit der Welt Feindschaft mit Gott ist? Wer immer daher ein Freund der Welt sein will, stellt sich als ein Feind Gottes dar.“

Doch wie passt diese Ermahnung nun zu der Liebesgeschichte der Sulamith? Sie hatte sich doch überhaupt nicht in den König verliebt. Sie hat doch überhaupt nicht mit dem Hirten, ihrem Geliebten, Schluss gemacht. Außerdem hatte der König doch keinen anderen Glauben als sie selbst. Die herzzerreißende Erfahrung von Sindy, die in diesem Zusammenhang erzählt wird, impliziert zwar sublim, was ein junger Zeuge Jehovas tun sollte – daran kann kein Zweifel sein.

Jedoch ist die Botschaft verwirrend und paradox. Die unsterbliche Liebe einer jungen Frau soll als Leitbild dafür dienen, die Liebe zu einem Menschen zu beenden?!

Paradoxe Aussagen verwirren. Sie können nicht durch Logik aufgelöst werden. Es gibt keine plausible Erklärung. Es bleibt nur die Alternative zu glauben und zu gehorchen. Mit dieser antrainierten Hilflosigkeit wird man abhängig von der Leitung.

Im Falle der Sulamith und in ungezählten anderen konstruierten Zusammenhängen passt zwar der Wortlaut des Textes, jedoch ergibt eine fachliche Prüfung, dass die Konstruktion große Mängel aufweist und absolut nicht brauchbar oder belastbar ist, weil sich die Situation aus einer Zeit vor tausenden von Jahren nicht auf unser heutiges Leben übertragen lässt.

Das ist ein wichtiges Merkmal für religiösen Fundamentalismus. Am Wort hängen. Das Wort nicht im richtigen Kontext werten.

[…] „Gelegentlich mögen wir vor einer Entscheidung stehen, durch die wir zeigen können, wie ergeben wir Jehova sind oder was das Wichtigste in unserem Leben ist. Auf diese Weise gewährt uns Jehova, unsere Willensfreiheit zu nutzen, um zu zeigen, wie es in unserem Herzen wirklich aussieht.“

Das wirkt auf mich wie Erpressung. Denn die Ableitung, ich sei Jehova nicht ergeben, wenn ich nicht die Interessen des Königreiches als das Wichtigste in meinem Leben sehe (das ist die sublime Botschaft die mich mit diesem Satz erreicht), erzeugt Druck und eine kognitive Dissonanz, also ein ungutes Gefühl. Das lege ich häufig als schlechtes Gewissen aus, ohne mir darüber im Klaren zu sein, dass es das geschulte Gewissen ist, ein mir eingeredetes Gewissen, das von meinem inneren Sektenklon gebraucht wird um mich unter Druck zu setzen29. Damit habe ich mein eigentliches Gewissen ausgelagert, bei der Wachtturmführung abgegeben.

„Häufig wirken sich unsere Entscheidungen auch auf andere aus. […] Was Paulus dazu sagte, läßt sich auf viele Entscheidungen, die wir treffen, anwenden: ‚Bewahrt euch beständig davor, … Anlaß zum Straucheln zu geben’. (1. Korinther 10 : 32). Der Wunsch, andere nicht zum Straucheln zu bringen, kann uns bei vielen Entscheidungen helfen. Schließlich ist die Liebe zum Nächsten das zweitgrößte Gebot (Matthäus 22 : 36, 39).“

Andere nicht zum Straucheln bringen potenziert den Druck. Selbst wenn ich mit meinem Verständnis und nach meinen vernünftigen Schlussfolgerungen eine bestimmte Entscheidung getroffen hatte, konnte ich nicht danach handeln, falls es in der Versammlung jemanden gegeben hätte, der sagte, so etwas ginge nicht, das würde sein Gewissen belasten. Das verstärkte die Kontrolle. Jeder hat jeden beobachtet und bewertet, ob sein Handeln richtig oder falsch war. Dabei steht die Anweisung in der Möglichkeitsform. Ich muss nicht, es „kann“ mir helfen. Ich bin überzeugt, dass ich mich „freiwillig“30 entscheide, tue es aber in Wirklichkeit nicht. Was eben unüberwindlich wirkt ist der Gruppendruck.

Wer die Zusammenarbeit freiwillig macht, lässt sich leicht überwachen.

[…] „Entscheidungen, die man nach bestem Wissen und Gewissen getroffen hat und die sich auf biblische Grundsätze stützen, werden sich auf lange Sicht immer positiv auswirken. Sie können uns natürlich kurzfristig Opfer abverlangen. […] Wenn wir nach einer gut überlegten Entscheidung auf Schwierigkeiten stoßen, brauchen wir nicht anzunehmen, die Entscheidung sei falsch gewesen. ‚Zeit und unvorhergesehenes Geschehen’ kann sich selbst auf eine Entscheidung nachteilig auswirken, die mit den allerbesten Absichten getroffen wurde (Prediger 9 : 11).“

Diesen Hinweis habe ich mir oft zu Herzen genommen. Ich habe viele Opfer gebracht, um für die wichtigeren Dinge Zeit und Raum zu schaffen selbst dann, wenn meine Familie am Rand des Existenzminimums war. Der unerschütterliche Glaube daran, dass es sich „auf lange Sicht positiv auswirkt“ war die Motivation, die unseren Motor am Laufen hielt. Dabei hat der angeführte Bibeltext in Prediger mit dem eigentlichen Thema nichts zu tun. Er enthält lediglich eine Aussage über Zeit und unvorhergesehenes Geschehen. Dieser Aussage stimme ich zu. Jeden kann etwas Unvorhergesehenes treffen. Wieder erkenne ich jetzt, dass ich mit einer Gedankenstopp-Methode darauf verzichtet habe zu fragen: Wie genau wird damit auch die Behauptung wahr, dass Opfer abverlangt werden und dass man auf lange Sicht mit positiven Ergebnissen rechnen kann?

 

Die Gedankenstopp-Methode immunisiert gegen kritische Fragen. Da Kritik per se angeblich immer von Satan stammt, wird sie automatisch ausgeblendet.

Früher habe ich mir solche Fragen einfach nicht gestellt.

„Außerdem läßt Jehova manchmal Widrigkeiten zu, um zu prüfen, ob wir wirklich bei unserer Entscheidung bleiben. Jakob mußte die ganze Nacht mit einem Engel ringen, bevor er einen Segen erhielt (1. Mose 32 : 24 - 26). Auch wir haben vielleicht mit widrigen Umständen zu kämpfen, selbst wenn wir das Richtige tun. Wenn unsere Entscheidungen dem Willen Gottes entsprechen, können wir dennoch sicher sein, daß Gott uns helfen wird auszuharren und uns schließlich auch segnen wird (2. Korinther 4 : 7).“

Na prima, damit ist ja alles klar. Genau wie mit der Bauernregel: Wenn der Hahn kräht auf dem Mist, dann ändert sich das Wetter oder es bleibt wie es ist. Entweder Jehova segnet dich oder er lässt Widrigkeiten zu. Weil Jakob vor ein paar tausend Jahren mit einem Engel kämpfen musste, wird das auch von uns verlangt. Nur, wo steht das denn geschrieben? Sollte es „widrige Umstände“ geben – und die hatten wir ja zuhauf – dann will Jehova mal wieder prüfen, ob wir stur genug an einer einmal getroffenen Entscheidung festhalten? In unserem Fall hat er sich wohl einen besonderen Spaß daraus gemacht uns immer wieder zu prüfen.

Das war jetzt ein bitterer Satz. Ich fühle Bitterkeit in der Rückschau. Es ist erschreckend, zu welchen persönlichen Opfern Menschen bereit sind, wenn sie jemandem oder einer Sache vertrauen oder etwas glauben. Es erschreckt mich zutiefst, dass ich mein Leben für diese Sache geopfert hätte. Ja, ich habe doch wirklich das Leben meiner Kinder aufs Spiel gesetzt, als ich mit den Ärzten darum gerungen habe, ihnen keine Bluttransfusion geben zu lassen.

„Vertrauen wir daher bei wichtigen Entscheidungen nicht auf unsere eigene Weisheit. Forschen wir nach, welche biblischen Grundsätze gelten. Sprechen wir mit Jehova über die Angelegenheit. Ziehen wir, soweit möglich, reife Mitchristen zu Rate. Dann gilt es, mutig zu sein. Nutzen wir unsere Willensfreiheit, die wir von Gott erhalten haben, auf verantwortungsvolle Weise. Treffen wir eine gute Entscheidung, und zeigen wir Jehova, daß unser Herz ihm gegenüber redlich ist.“

Die paradoxe Aussage ist offensichtlich: Wir haben einen freien Willen als kostbare Gabe, aber wir sind nicht dafür geschaffen, unseren eigenen Weg zu gehen. Wir dürfen unserem gesunden Menschenverstand nicht vertrauen. Bei unseren Entscheidungen müssen wir uns darauf verlassen, was uns als biblische Grundsätze eingetrichtert wurde und was die selbsternannten Glaubenswächter an sogenanntem Rat austeilen.31 Leider habe ich das wirklich geglaubt, und viele ehrliche Menschen in destruktiven Kulten glauben das ebenso unerschütterlich.

Die ganzen Anweisungen des abschließenden Resümees sind in der WIR und UNS Formulierung. Wir haben unser individuelles ICH dem WIR untergeordnet. Offenbar ist es nicht mehr schwer, die zweite Fessel anzubringen, da es gelungen ist, uns zu solchen „freiwilligen“ Entscheidungen zu bringen. Wir gerieten auch unter die Verhaltenskontrolle.

Mit der Verhaltenskontrolle wird weniger Zeit für eigene Wünsche zur Verfügung stehen, denn der Alltag wird Regeln und Vorschriften unterworfen. Das wird durch eine hierarchische Struktur kontrolliert. StH, S 102 ff

Völlig unbemerkt entwickelte sich für uns eine neue Lebensstruktur. Die Samstagnachmittage gehörten nicht mehr unserem gemütlichen Beisammensein mit Papa, dem Singen und Spielen. Regelmäßig jeden Samstag erschien jemand, der mit meinen Eltern ein Bibelstudium abhielt. Dabei hat er Seite für Seite in dem Buch, das die Wachtturm-Gesellschaft zu diesem Zweck herausgegeben hat, gemeinsam mit ihnen gelesen. Zu jedem Abschnitt gab es am Fuß der Seite jeweils Fragen. Der Absatz wurde so lange durchgesprochen, die Fragen so lange wiederholt, bis meine Eltern begriffen hatten, was sie lernen sollten und die richtigen Antworten aus dem Absatz gegeben haben. Das wurde zwar Heimbibelstudium genannt. Aber es war nichts anderes, als das Einpauken der Wachtturmdoktrin. Ich war jeweils sehr gespannt auf diese Nachmittage. Alles was ich hörte, habe ich aufgesaugt wie ein trockener Schwamm. Mein Geist war hungrig. Studium klang elitär und sehr verführerisch.

Ganz eindeutig kann ich heute die Manipulation mit dem Prinzip Belohnung – Bestrafung erkennen. Denn jede richtige Antwort wurde mit einem großen Lob beantwortet. Das Erfolgserlebnis fühlte sich sehr gut an und spornte an, sich noch mehr anzustrengen.

Es gab viele neuen Pflichten, die mit dem Glauben begründet wurden. Ich musste nun regelmäßig die Bibel lesen, mich auf alle Versammlungen vorbereiten, die Zusammenkünfte besuchen und mich aktiv daran beteiligen, indem ich zu dem vorbereiteten Stoff Kommentare gab oder die Fragebögen für die schriftlichen Wiederholungen ausfüllte. Ich beteiligte mich an den Werbefeldzügen für die neue Religion, was Predigtdienst genannt wurde. Dazu war ich mindestens 5 bis 6 Stunden pro Woche von Haus zu Haus oder auf der Straße im Dienst. Wenn ich zurückschaue und die Zeit addiere, dann komme ich auf mindesten 15 bis 20 Stunden wöchentlichen Einsatz für die Gruppenaktivitäten. Diese vielen Stunden gingen von meiner Zeit ab, in der ich hätte Kind sein können. Ich konnte nicht mehr mit einer Schulfreundin spielen oder sie zu mir einladen. Neben meinen Pflichten für die Schule und der Hilfe im Haushalt war Freizeit ein Luxus, den es wirklich nur noch hin und wieder gab.

Die Verhaltenskontrolle regelt den Alltag, schränkt die Freizeit ein und hält das Gruppenmitglied so sehr beschäftigt, dass für Aktivitäten außerhalb der Gruppe und frühere Kontakte immer weniger Zeit bleibt. Siehe Anhang Parameter Sekte, Frage 5

Ein sogenannter biblischer Grundsatz lautete:

Trachtet zuerst nach dem Königreich, und alle anderen Dinge werden Euch hinzugefügt werden.32„

Daran änderte sich in den 60 Jahren meiner Zugehörigkeit zu dieser Gemeinschaft nichts. Diese mindestens 15 bis 20 Wochenstunden waren fix eingeplant. Alles andere wurde darum herum organisiert. Ein Vortragsredner hat es einmal mit der Radnabe veranschaulicht. Er sagte, je dicker die Radnabe sei, desto mehr Platz hätten die Speichen darum herum. Wenn man also mehr für das Königreich täte, würde man automatisch auch mehr Zeit für das andere Leben haben. Ich habe das immer wieder mal versucht mit dem empfohlenen vermehrten Dienst, aber es ist mir irgendwie nicht richtig gelungen, dadurch auch mehr Zeit für mich zu finden.

Wieder versuche ich, mir mittels der Veröffentlichungen ein Bild davon zu machen, wie es funktionieren konnte. Während ich einen Artikel aus dem Wachtturm vom 15. November 2006 genauer unter die Lupe nehme, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Hier wird das Schuldgefühl angesprochen, das Prinzip Belohnung und Bestrafung, Angst, die Warnung vor kritischer Information.33 Ich fass es nicht! Das war also immer so und ich habe es nicht bemerkt.

„JEHOVA liebt die Menschenwelt sehr. Er gab sogar seinen einziggezeugten Sohn, damit jeder, der Glauben an ihn ausübt, ewiges Leben habe34 (Johannes 3 : 16).“

In diesem häufig verwendeter Bibelvers heißt es in der Neuen Welt Übersetzung der Wachtturm Bibel und Traktat Gesellschaft, dass jeder, der „Glauben ausübt“, gerettet wird. Als Zeugen Jehovas hielten wir nur diese Bibelübersetzung für zuverlässig und wahr. Natürlich, zu glauben, nur die Gruppe hat die Wahrheit, gehört zur Gedankenkontrolle. Wie hätten wir auch auf die Idee kommen können, dass dieses Wörtchen „ausübt“ so eine tückische Einfügung in den Text ist. Heute vergleiche ich diesen Text mit anderen anerkannten und zuverlässigen Bibelübersetzungen und finde nirgends das Wort „ausübt“35. Es ist nirgends auf die Notwendigkeit einer permanenten Tätigkeit verwiesen. Es genügt schlicht zu glauben, dass Christus der Retter der Menschen ist.

„Ist es nicht etwas Wunderbares, so geliebt zu werden? Bestimmt möchte jeder Diener Jehovas diese Liebe für immer verspüren.

[…] Wir können uns am ‚allerheiligsten Glauben’ — an der christlichen Lehre

— erbauen, wenn wir Gottes Wort studieren und die gute Botschaft predigen. Damit wir in Gottes Liebe bleiben, müssen wir ‚mit heiligem Geist’, das heißt unter dem Einfluss des Geistes, beten. Um den Lohn des ewigen Lebens zu empfangen, müssen wir auch Glauben an das Loskaufsopfer Jesu Christi ausüben (1. Johannes 4 : 10).“

Wie paradox das alles ist! Einmal liebt Jehova die „Menschenwelt“. Dann verspürt „jeder Diener Jehovas“ diese Liebe, was den Kreis der Betroffenen sehr einschränkt. Aber dann kommt noch dazu, dass man sich diese Liebe mit Studieren und Predigen verdienen muss. Es heißt zwar „Gottes Wort“, aber es meint die Wachtturm-Bibelübersetzung zusammen mit den Schriften, die genau erklären, was wir zu glauben haben. Unsere Gebete sind einem Prüfkriterium unterworfen. Wir müssen unter dem Einfluss des Geistes beten und den Lohn, das ewige Leben eben durch „Ausüben“ verdienen.

Das alles ist so verwirrend, dass man es wohl einfach damit bewenden lässt, dem ersten Satz zuzustimmen um dann davon auszugehen, dass auch der Rest schon stimmen wird, denn der treue und verständige Sklave teilt ja die geistige Speise zur rechten Zeit unter der Leitung des Heiligen Geistes aus.

Wie schrecklich dieser Merksatz heute in meinen Ohren klingt. Diese Behauptung von der Leitung durch den Geist Gottes, die ich tausende Male gehört und gelesen habe, ist in meinem Kopf eingebrannt und ich kann nicht verhindern, dass mich die Erinnerung daran immer wieder in heftige Abscheu versetzt. Ich fühle mich getäuscht durch diese Behauptung. Sie lässt sich nicht mit der Bibel beweisen. Der Heilige Geist veranlasst Menschen nicht, falsche Vorhersagen zu treffen. Es ist auch vermessen, zu behaupten, Menschen könnten wissen, was Gottes Wille und Gedanken sind. Aber durch diesen Merksatz funktionierte die Gedankenkontrolle. Einer der Fäden in dieser Fessel lautete ja, dass nur die Gruppe Die Wahrheit hat. Damit in direktem Zusammenhang steht auch der Anspruch, dass nur die Gruppe gut ist. Es zählen nicht der Einzelne und seine Gefühle. Diese werden mit Schuldzuweisungen, Angst und Bedrohungen kontrolliert. Geschützt wird das Ansehen der Gruppe, nicht das des Mitgliedes.

Heute sehe ich so einige Episoden in meinem Leben in einem anderen Licht. Wie war das damals 1953? Ich war im ersten Lehrjahr und hatte einen Abendkurs in Schreibmaschine und Stenographie belegt.

Gefühlskontrolle: Schuld und Angst. Oft wird mit der Rache Gottes gedroht. Wenn Du die Gruppe verlässt passiert ein Unglück. Du wirst krank. Ein Angehöriger wird sterben. Du wirst bald mit dem Teufel in den Feuersee geworfen. StH, S 107

Eines Abends erwartete mich ein angesehener Vorsteher unserer Versammlung. Er war verheiratet. Ein treusorgender Familienvater aus Hohenpeißenberg, dem ich vertraute. Ich war etliche Male mit ihm sonntags im Predigtdienst gewesen. Ich durfte als Sozius auf seinem Motorrad mitfahren. Es war aufregend für eine Fünfzehnjährige. Nun wartete er mit seinem Motorrad auf mich, um mich nach Hause zu fahren. Es sei sicherer für mich bei der Dunkelheit. In der Au hielt er an. „Wir können doch noch einen Moment auf der Bank dort den romantischen Abend genießen.“ Na ja, warum nicht, dachte ich. Vater wird es nicht merken, denn mit dem Motorrad sind wir ja schneller als zu Fuß. Nach einer Weile rückt er näher an mich und legt seine Arme um mich. Natürlich sollte er das nicht tun. Vor allem sollte er mich nicht so anfassen. „Pst“, flüstert er. „Hab keine Angst, es ist schon gut so. Das wird unser kleines Geheimnis bleiben, nicht wahr?“ In meinem Kopf begannen das Chaos der Verwirrung und das Gezerre zwischen Zulassen oder Verweigern. Schließlich siegte die Vernunft. „Ich darf nicht zu spät kommen. Mein Vater wird sehr wütend, wenn ich nicht pünktlich bin.“ Das war wohl eher die Angst vor der Rute der Zucht, die mich zu dieser Entscheidung gedrängt hat.

 

Wenn mein Vater dieses biblische Gebot anwandte, dann hat er von uns Kindern verlangt, dass wir uns vor ihm niederbeugen, damit er uns mit dem Lederriemen den Hintern versohlen konnte. Der Befehl: „Mach Kopfstand!“ war ein gefürchteter Satz für uns Kinder. Mir haben nicht so sehr die Schläge wehgetan, als vielmehr diese Demütigung, wenn er verlangte, dass wir uns für die Schläge auf diese Weise präsentieren.

An diesem Abend kam ich einige Minuten später als er erwartet hatte. „Wieso kommst Du erst jetzt?“ Diese lauernde Strenge in seiner Stimme ließ mir schon das Blut in den Adern gefrieren. „Wir haben noch etwas länger auf der Schreibmaschine üben dürfen“, log ich.

Das ging noch einmal gut.

Eine Woche später war aber jener brave Familienvater wieder mit seinem Motorrad vor dem Schulhaus. Wieder dieses Gefühlschaos. Was sollte ich tun? Während ich noch mit ihm darüber verhandelte, ob ich aufsteigen sollte oder nicht, stand plötzlich mein Vater neben uns. Er war misstrauisch und wollte überprüfen, ob ich wirklich länger übte. Er musste nicht erst raten, weshalb ein Mann 20 Kilometer mit seinem Motorrad fährt, um eine Minderjährige am Abend zu treffen. Es gab eine sehr heftige Auseinandersetzung, die alle weiteren Annäherungsversuche dieses Mannes verhindert hat.

Aber es gab keine weiteren Konsequenzen. Er blieb die angesehene Vertrauensperson in der Versammlung. Wie vielen weiteren Minderjährigen hat er sich wohl genähert?

War es nur ein Einzelfall? War ich wirklich selbst schuld, weil ich es zugelassen habe, dass er meine Seele verletzt? Dass er mich zur Komplizin seiner schändlichen Gesinnung gemacht hat?

Ich war später mit einem Ältesten der Versammlung verheiratet.

Mein Mann wurde gründlich geschult, um allen Anforderungen genügen zu können, die den reibungslosen Ablauf der Versammlungsangelegenheiten garantierten. Mit einer der vielen Änderungen in der Lehrmeinung wurde den ernannten Ältesten der Versammlung erklärt, sie würden durch die Schulungen befähigt, als Fürsten in der neuen Ordnung nach Harmagedon, diesem schrecklichen Krieg Gottes, zu amten. Sie sollten den reibungslosen Übergang zur theokratischen neuen Ordnung unter der Leitung des treuen und verständigen Sklaven garantieren. Alle mussten darum schon jetzt lernen, wie man sich gehorsam unterordnet.

Mussten? Wir haben das doch freiwillig getan. Diese spezielle Sprache! Welch ein Graus sie jetzt für mich ist. Die Worte wecken so bittere Erinnerungen. Trotzdem ich will mich nicht davon abhalten lassen, der Sache auf den Grund zu gehen. Wie hätte mein Mann gehandelt, wenn eines unserer Kinder in eine ähnliche Situation geraten wäre, wie ich damals?

Auch er hätte sich genau an die Organisationsanweisungen gehalten. Das steht fest. Einen kleinen Einblick davon, wie sie lauten, gibt der Wachtturm vom 1. November 1995, ab Seite 25:

„Zu den abscheulichsten Perversionen gehört der sexuelle Mißbrauch unschuldiger Kinder. Wie die Weisheit der Welt Satans ist auch der sexuelle Mißbrauch von Kindern ‚animalisch, dämonisch’. (Jakobus 3 : 15).“ Der manipulative Gebrauch der Sprache ist hier perfekt umgesetzt. Zu der ersten Aussage wird jeder uneingeschränkt ja sagen können.

Wer einer anfänglichen Äußerung zustimmen kann, lässt nachfolgende Behauptungen leicht ungeprüft, weil er der Quelle vertraut.

Darum erübrigt es sich, den zweiten Satz näher unter die Lupe zu nehmen. Zumal der angeführte Bibeltext unterstellt, die Autorisierung durch Gott persönlich zu haben. Wer ihn aber überprüft, wird feststellen, dass der Bibeltext nicht von sexueller Perversion spricht, sondern von Eifersucht, Streit und Lüge. Aber Kindesmissbrauch bei den Dämonen und der Welt Satans einzuordnen, macht die eigenen Mitglieder unverdächtig, ja generell unschuldig. So etwas kann es bei den wahren Christen nicht geben.

[…] „Wenn diese Mißbrauchsopfer erwachsen sind, haben viele von ihnen immer noch schmerzhafte Wunden, und diese Wunden sind echt! In der Bibel heißt es: ‚Der Geist [die geistige Neigung, die inneren Empfindungen und Gedanken] eines Mannes kann seine langwierige Krankheit ertragen; was aber einen niedergeschlagenen [verletzten, leidenden] Geist betrifft, wer kann ihn tragen?’. (Sprüche 18 : 14).“

[…] „Die Christenversammlung kann für die Betreffenden ein Ort des Trostes sein. Zu ihrer Freude erfahren sie, daß Leiden bald der Vergangenheit angehören werden (Jesaja 65 : 17). Doch bis dahin müssen sie möglicherweise ‚getröstet’ werden, und ihre Wunden müssen ‚verbunden’ werden. Passenderweise gab Paulus Christen den Rat: ‚Redet bekümmerten Seelen tröstend zu, steht den Schwachen bei, seid langmütig gegen alle.’. (1. Thessalonicher 5 : 14).“

Hier finden sich die typischen Formulierungen in der Möglichkeitsform. Das Verständnis ist im Prinzip nur vorgetäuscht. Es wird durch die nachfolgenden Aussagen relativiert. Die Behauptung, dass es „bald“ eine Befreiung von allen Schmerzen gibt, ist ein Stereotyp, das immer unerfüllbare Hoffnungen weckt. Es handelt sich bei den Leidenden um solche, die in der bösen Welt Satans Schlimmes erlebt haben und nun in der „Christenversammlung“ getröstet werden.

[…] „In jüngster Zeit sind einige ‚gebrochenen Herzens’ aus Gründen, die andere nur schwer verstehen können. Es handelt sich um Erwachsene, die auf Grund von ‚verdrängten Erinnerungen’, wie man es bezeichnet, sagen, sie seien als Kinder sexuell mißbraucht worden. Einige hätten niemals gedacht, belästigt worden zu sein, bis sie sich plötzlich zurückerinnerten oder ‚Erinnerungen’ in ihnen wach wurden, daß sie als Kind von einem (oder mehreren) Erwachsenen mißbraucht wurden. Gibt es auch in der Christenversammlung Personen mit solchen beunruhigenden Gedanken? In einigen Ländern ist das der Fall, und diese Gott hingegebenen Christen verspüren womöglich großen Schmerz, Zorn, Schuld, Scham oder Einsamkeit.“ […]

Auch hier die Möglichkeitsform „sie seien“ oder „womöglich“. Doch lassen die Fälle, die „in einigen Ländern“ in die Öffentlichkeit drangen, nicht mehr zu, alles zu leugnen.

„In der Welt gibt es sehr kontroverse Ansichten darüber, worum es sich bei diesen ‚Erinnerungen’ handelt und in welchem Umfang sie tatsächlich Geschehenes beinhalten. Da Jehovas Zeugen ‚kein Teil der Welt’ sind, mischen sie sich nicht in diese Kontroverse ein (Johannes 17 : 16). Wie veröffentlichte Berichte zeigen, haben sich solche ‚Erinnerungen’ manchmal als zutreffend erwiesen. Ein Beispiel: Nachdem sich der Versicherungsgutachter Frank Fitzpatrick daran ‚erinnerte’, daß ihn ein bestimmter Priester sexuell mißbraucht hatte, traten fast einhundert Personen an die Öffentlichkeit und behaupteten, ebenfalls von diesem Priester mißbraucht worden zu sein. Wie es hieß, soll der Geistliche den Mißbrauch zugegeben haben.“

Dieser Abschnitt macht mich geradezu wütend. Der Verweis auf „die Welt“ zeigt mit einem Finger auf andere und möchte vertuschen, dass dabei drei Finger auf sich selbst deuten. Was heißt „manchmal“ im Umkehrschluss? Soll man denken, meistens haben die Personen nur Spaß daran, sich mit peinlichen Details an die Öffentlichkeit zerren zu lassen? Es ist so scheinheilig zu sagen: Wir mischen uns nicht ein. Aber dann den Fall des „Priesters“ zu zitieren, der „den Missbrauch zugegeben haben soll“, – damit nicht nur sein Amt diskreditieren, sondern auch die ganze Geschichte durch die Aussage in der Möglichkeitsform so schwammig auszudrücken, dass man sie auch bezweifeln könnte.

Warum schreibt ein „treuer Sklave“, der nichts als die Wahrheit zu verkünden behauptet so schwammig, dass es nicht Fisch und nicht Fleisch ist?

„Allerdings gilt es zu beachten, daß manche ihre ‚Erinnerungen’ nicht durch Beweise erhärten konnten. Einige der Betroffenen hatten lebhafte ‚Erinnerungen’ daran, von einer bestimmten Person oder an einem bestimmten Ort mißbraucht worden zu sein. Doch später ließen zuverlässige Gegenbeweise erkennen, daß die Einzelheiten dieser ‚Erinnerungen’ nicht stimmen konnten.“

Ich kann mir sehr lebhaft vorstellen, wie dankbar Älteste für diesen Hinweis waren. „Manche“ Erinnerung konnten nicht bewiesen werden. „Einzelheiten“ stimmten nicht ganz. Wie toll! Die Opfer lügen wahrscheinlich. Das ist die Rettung. Man muss den Opfern nicht glauben!

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