Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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3.2 Lerntherapie – Arbeitsweise und Persönlichkeit des Lernenden

Die Fähigkeit zu lernen ist eine Grundvoraussetzung dafür, sich besser in den Gegebenheiten des Lebens und der Umwelt zurechtfinden zu können, darin sinnvoll zu agieren und sie konstruktiv nach eigenen Vorstellungen und Interessen zu verändern. Traditionell werden verschiedene Lernarten unterschieden, so zum Beispiel spielerisches Lernen, Erfahrungslernen, Imitationslernen, intentionales, selbst- oder fremdmotiviertes Lernen sowie Verständnislernen. Im Mittelpunkt aller Arten und Varianten des Lernens steht dabei die Persönlichkeit des oder der Lernenden. «Lernen ist immer subjektiv, ist Ausdruck der Persönlichkeit, ihres jeweiligen Befindens, Fühlens und Denkens» (Metzger, 2001, S. 33). Lernen geschieht in der und «durch die Persönlichkeit des Lernenden» (Metzger, 2008, S. 24f., 47f., 67ff.; 2014, S. 154), das heisst, der individuelle Lernprozess konstruiert sich auf der Basis der Lerntherapie weiter. Sowohl emotionale als auch kognitive Prozesse spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Massgebend neben den emotionalen und kognitiven Voraussetzungen wie zum Beispiel Aufmerksamkeit, Konzentrationsfähigkeit, Wachheit, Interesse, Engagement, (emotionale und kognitive) Verständnis- und Denkfähigkeit ist als entscheidende und steuernde Instanz die Persönlichkeit (vgl. Metzger, 2008, S. 15–22). Diese wiederum wird getragen durch ihre Identität. Die Identität ihrerseits bezieht ihre Energie und ihre Ressourcen aus dem Selbstwertgefühl, aus Selbstvertrauen, Selbstsicherheit, Selbstbild, Selbstverständnis, Selbstbewusstsein und Selbstverhältnis. Sie ist es, die letztlich über Erfolg oder Misserfolg entscheidet. Die Lerntherapie arbeitet bei Lernschwierigkeiten deshalb primär mit und durch die lernende Persönlichkeit und stärkt gleichzeitig ihre Identität.

Bei Langzeitschwierigkeiten ist diese dialogische Vorgehensweise sowohl im Zusammenhang mit dem aktuellen Lernen als auch bei der Entwicklung des Selbstverhältnisses Grundvoraussetzung. Bei passageren Lernschwierigkeiten wird mit Wertschätzung und unter Beachtung der aktuellen Situation und Befindlichkeit der Persönlichkeit vor allem die jeweils aktuelle Lernproblematik in den Vordergrund der lerntherapeutischen Arbeit gestellt.

Der Erfolg der Lerntherapie ist dank des zentralen Einbezugs der Lernpersönlichkeit anderen Ansätzen gegenüber überlegen und nachhaltiger. Lernen wird im Rahmen der Lerntherapie interdisziplinär gesehen und im Zusammenhang mit dem entsprechenden Studium auch interdisziplinär vermittelt. So spielen Psychologie (Entwicklungs- und Lernpsychologie, Pädagogische Psychologie, Förderdiagnostik, Sozialpsychologie und Therapieformen), Pädagogische Anthropologie, Heilpädagogik sowie die lerntherapeutische Praxis eine zentrale Rolle.

Der Einbezug der Bereiche Psychotherapie, Psychologie, Anthropologie, Heilpädagogik wird von Dozenten aus dem In- und Ausland wissenschaftlich und praxisbezogen begleitet, so dass auch gewährleistet ist, dass die Studieninhalte entsprechend den komplexen Herausforderungen in den Erziehungsfeldern der neueren Zeit systematisch und dynamisch weiterentwickelt werden.

3.3 Lernen, behindernde Bedingungen und das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung

Lernen bedeutet, das eigene Verhalten zu aktualisieren und zu verändern, damit das Ziel, das zukünftige Leben selbstständig zu gestalten und zu bewältigen, erreicht wird.

Lernen erfolgt mittels bewusster und unbewusster Verarbeitung von Umwelteinflüssen und -reizen und führt somit zur Veränderung individuellen Denkens, Fühlens und Handelns. Im allgemeinen Sinne handelt es sich dabei um Vorgänge im Organismus, die zu Veränderungen des Verhaltens führen. Dabei bestimmen emotionale Prozesse Lernvorgänge wesentlich (vgl. Bundschuh, 2003, S. 111–130).

Ängste hemmen und behindern schon sehr frühzeitig Lernprozesse im Zusammenhang mit rigiden, vielleicht Angst auslösenden Erziehungspraktiken und Überforderungssituationen. Es spricht vieles dafür, dass manche Lernstörungen und Lernbehinderungen bereits frühzeitig auf dem Weg negativer emotionaler Prozesse erworben wurden, die sich neurophysiologisch betrachtet als «Synapsenhemmer» und damit als Lernhemmung im gegenwärtigen und zukünftigen Leben auswirken. Hier kann Lerntherapie Positives bewirken und neue Entwicklungen initiieren.

Emotionalität, Motivation und Lernen bilden eine Einheit. Die neurophysiologische und neuropsychologische Forschung weist auf den Zusammenhang zwischen emotionaler Befindlichkeit, Hormonen und Wahrnehmungs-, Gedächtnis-, Denk- sowie Lernprozessen im Allgemeinen hin. Eine positive emotionale Befindlichkeit stellt somit die Basis für Lernen bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen dar. Das Nervensystem als Netzwerk, die Gedächtnisprozesse, die Vorgänge im Bereich der Synapsen (Transmitter), der Nervenzellen, Prozesse der Wahrnehmung und der kognitiven Verarbeitung schlechthin markieren, dass die emotionale Befindlichkeit, das Emotionale schlechthin, den Weg zum Bewusstsein zu öffnen oder zu blockieren vermag. Emotionalität kann Zuwendung fördern oder hemmen, geistige Tätigkeit intensivieren oder abschwächen.

Das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung auch durch Lernen und damit nach Entfaltung beziehungsweise Aktualisierung der Persönlichkeit kann nur entstehen, wenn die genannten Bedürfnisse nach Sicherheit, Angstfreiheit, Ordnung, Liebe, Wertschätzung, Achtung und Anerkennung in der (frühen) Kindheit adäquat befriedigt wurden. Hier setzt Lerntherapie an. Erkenntnisse sowohl naturwissenschaftlich als auch geisteswissenschaftlich orientierter Disziplinen sprechen dafür, dass die emotionalen Bedingungen im Kind und die sozialen Prozesse (Lernklima) sowie der Lerngegenstand für Lernvorgänge wichtig sind.

Lernvorgänge beeinflussen entscheidend die Entwicklung eines Kindes. Lerntherapeutische Kenntnisse erweisen sich im Hinblick auf die Problem- und Notsituation der betroffenen Kinder, Jugendlichen und auch Erwachsenen für Lehrerinnen und Lehrer, Psychologinnen und Psychologen, Allgemein- und Heilpädagoginnen und -pädagogen, Sozialpädagoginnen und -pädagogen, Erzieherinnen und Erzieher als dringend notwendig, denn es geht auch um die Neuwahrnehmung einer Problemsituation. Lerntherapie leistet einen wesentlichen Beitrag zur Neureflexion von Schule und Lernen in Richtung gesunde Schule und steht damit im Dienste einer positiven Persönlichkeitsentfaltung.

3.4 Grundlagen von Lerntherapie

Die Lerntherapie basiert auf einem entwicklungstherapeutischen Verständnis. Die zentralen Annahmen und Grundlagen der Lerntherapie sind:

Jeder Mensch entwickelt sich. Die Entwicklung erfolgt in allen existenziellen Bereichen: biologisch, emotional, kognitiv und sozial.

Der jeweilige Akt der Veränderung und Entwicklung beruht auf einem komplexen Prozess, der als «Lernen» bezeichnet wird. Das menschliche Lernen geschieht nicht losgelöst, sondern steht in engster Verbindung und geht einher mit der Persönlichkeitsentwicklung, die sich ihrerseits in Beziehungen aktualisiert.

Die Persönlichkeits- und Lernentwicklung geschehen wechselseitig. Sie befruchten, hemmen oder stören einander gegenseitig (vgl. Metzger, 2002; 2014, S. 153f.).

Persönlichkeitsentwicklung ist zugleich Aufbau und Prozess:

Das zum besseren Verständnis entwickelte Persönlichkeitsmodell der Lerntherapie ergibt sich aus dem Blickwinkel der Lernprozesse. Zur Vereinfachung der Persönlichkeitsstruktur unterteilt die Lerntherapie den Persönlichkeitsaufbau in drei das Lernen unterschiedlich beeinflussende und vom Lernen beeinflusste Ebenen:

Realisierungs-, Präsenzdynamik- und Vorgabenebene. Die verschiedenen Prozesse der Persönlichkeit münden letztlich in ihrer Identität. Gleichzeitig ist die Identität ihrerseits darauf ausgerichtet, sich selbst zu erhalten. Entsprechend bedient sich die Persönlichkeit eines Präferenzverhaltens, welches die Identität stärkt, stützt und schützt. Die Identität, bestehend im Wesentlichen aus Selbstwertgefühl, Selbstwahrnehmung, Selbstbewusstsein und Selbstkonzept, ist innerhalb der «Realisierungsebene» für die Bedürfnisse und Aktivitäten prioritär und dadurch in der Folge prägend für Lernen und Entwicklung (Metzger, 2014, S. 153).

Persönlichkeits- und Lernentwicklung: Da die Persönlichkeits- und die Lernentwicklung einen wechselseitigen Prozess darstellen, wirken sowohl Störungen wie auch Förderungen der einen wie der andern, das heisst der Persönlichkeit wie des Lernens, auf das eine wie auf das andere, also von der Persönlichkeit auf das Lernen wie umgekehrt vom Lernen auf die Persönlichkeit.

3.5 Lernschwierigkeiten und Handlungskonzept

Ansatzpunkt der Lerntherapie sind Probleme im oder mit dem Lernen. Die Lerntherapie unterscheidet je nach deren Ursachen primär drei Kategorien von Lernschwierigkeiten: funktionale, aktionale und personale. Entsprechend diesen verschiedenen Ursachenkategorien arbeitet sie gemäss ihrem Handlungskonzept auf vier Stufen (vgl. Metzger, 2014, S. 153f.):

 Bei funktionalen Lernschwierigkeiten steht entsprechend der Lerntherapiestufe I die operative Aktivität der Lernenden im Zentrum.

 Bei aktionalen Lernschwierigkeiten (Schwierigkeiten mit dem zu Lernenden wie mit sich selbst und in ihrer Wechselwirkung) konzentriert sich die Lerntherapiestufe II auf die Persönlichkeit in ihrer operativen Aktivität mit dem jeweils aktuellen Lerngeschehen und dessen individueller Bewältigung, den Emotionen, dem Denken und dem Verhalten der Lernenden (Lerndynamik).

 Bei personalen Lernschwierigkeiten aus der intrapsychischen Dynamik wendet sich die Lerntherapiestufe III therapeutisch nahezu ausschliesslich der Persönlichkeit und ihren Problemen zu.

 

 Bei personalen Lernschwierigkeiten, ausgelöst in der interpsychischen Dynamik, zentriert sich die Achtsamkeit der Lerntherapiestufe IV auf die Beziehungen, ihre Dynamik und ihre Auswirkungen (Schule, Familie, Peergruppen).

Da auf der Basis von Untersuchungen und Erfahrungen von Metzger (2008, S. 22) die grosse Mehrzahl der Lernschwierigkeiten die Persönlichkeitsentwicklung stark beeinflusst, wird in der Lerntherapie entsprechend am häufigsten auf den Lerntherapiestufen II und III gearbeitet.

3.6 Menschenbilder aus heilpädagogischer und lerntherapeutischer Sicht

Im Mittelpunkt der Geschichte der Heilpädagogik stehen Scheitern und Neuanfang in der Erziehung. Heilpädagogik begibt sich auf die Suche nach neuen Wegen in der Erziehung, wenn Erziehungs- und Lernprozesse nicht in Gang kommen, ins Stocken geraten oder vorzeitig abbrechen (vgl. Bundschuh, 2010, S. 19–32).

Es geht primär um eine – neue – heilpädagogische Sinnorientierung (Palfi-Springer, 2019) von Kindern und Jugendlichen, die in vor-, ausser- und nachschulischen Handlungsfeldern aufgrund von Erziehungsfehlern sowie institutionellem Zwang und Druck in Not geraten sind.

Unter Berücksichtigung der Bedeutung und der Geschichte des Begriffs Heilpädagogik geht es um ein behutsames erzieherisches Beeinflussen des Kindes in seiner somatopsychischen Ganzheit mit all seinen Schwierigkeiten auf der Basis guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Anbahnen, Entwickeln und Vertiefen des erzieherischen Verhältnisses und seine Realisierung in der dialogisch-helfenden Beziehungsgestaltung wird bedeutsam (vgl. Kobi, 2010). Im Kontext Lerntherapie handelt es sich um eine Erziehung, die auf der Basis von Fachkompetenz etwas Zusätzliches in quantitativer und qualitativer Hinsicht bedeutet. Darüber hinaus zeichnet lerntherapeutisch Tätige eine innere Haltung aus, die ihr Tun und Denken trägt, gerade dann, wenn sich nicht gleich Lösungen finden oder Erfolge einstellen. Der Begriff «Heilpädagogik» wird hier verwendet im Sinne von «kinderorientierter Pädagogik». Dazu gehört ein Menschenbild, das jedes Kind in seiner Eigenart und Einzigartigkeit akzeptiert, achtet und ernst nimmt, eine pädagogisch-philosophische Orientierung, die ausgehend von den jeweils individuellen Möglichkeiten sowie konkreten Lebensbedingungen des Kindes auch die ureigenen Möglichkeiten wie Emotionen, Ressourcen und Kompetenzen unterstützt sowie fördert – und nicht primär das Anpassungsverhalten (vgl. Bundschuh, 2008, S. 49–55; Bundschuh, 2019a, S. 81–86). Es geht dabei keinesfalls um die Erziehung nach einem Menschenbild, wie es zum Beispiel Religionen, staatliche Systeme, vielleicht auch manche Lehrerinnen und Lehrer an Gymnasien vermitteln. Es gibt für die Einzigartigkeit eines Kindes kein Vorbild oder gar Muster. Eine Erzieherin oder ein Erzieher, die oder der ein Kind nach einem bestimmten Menschenbild erzieht, missbraucht an sich ihre oder seine «Vollmacht» zu erziehen (vgl. Möckel, 2019, S. 101). Urs Haeberlin hebt die «Gefahren von nicht-bewussten Menschenbildern» (1994, S. 18ff.) hervor und skizziert diese anhand von Beispielen im Kontext «Alltagstheorien».

Kein Zweifel, wir machen uns ein Bild von Menschen und von Menschengruppen, aber wir müssen uns immer wieder die Frage stellen, welches allgemeine Menschenbild wir haben, und welches Bild von diesem oder jenem Kind mit Lern- und Verhaltensproblemen. Ein Menschenbild bildet auch die Grundlage unseres Tuns und Erkennens, aber wir müssen sehen, dass im Alltag ein Bild von einem Kind mit einer Behinderung, einer Lernproblematik, einem Kind, das vielleicht unter behindernden sozialen und materiellen Bedingungen aufgewachsen ist und von seinen Lehrerinnen und Lehrern als «lerngestört» oder «verhaltensgestört» bezeichnet wird, viele Aspekte von Vorurteilen aufweisen kann. Ein Menschenbild kann auch relativ leicht zur «Schuldigsprechung» führen in dem Sinne: «Wenn ein Kind eben nicht richtig – lernen – will, dann ist es selbst schuld.» Auch der oder die im Arbeitsfeld Lerntherapie Arbeitende unterliegt der Gefahr, dass er oder sie durch Theorien oder durch Meinungen anderer Personen, etwa eine rein traditionell medizinische Sichtweise (vgl. Bundschuh, 2019a, S. 47–51) auch durch Geschriebenes wie zum Beispiel Schülerakte und Gutachten zu Meinungen kommt, die anthropologisch betrachtet nicht haltbar sind. Ein kritisches und gut reflektiertes, gleichzeitig für zukünftige Entwicklungen offenes Menschenbild ist notwendig.

3.7 Wahrnehmen, Verstehen und Handeln

Heilpädagogik und Lerntherapie stehen gleichermassen im Dienste der Kinder und Eltern, die im Rahmen von Erziehung und Unterricht traditioneller Art in eine Problemsituation geraten sind. Es geht der Lerntherapie vor allem um ein Wahrnehmen und Verstehen dieser Problemsituation und um adäquates Handeln. Reichtum einerseits und alarmierende Zahlen über die Zunahme realer Armutserfahrungen von Kindern, Jugendlichen, alleinerziehenden Müttern und ausländischen Familien andererseits – gesellschaftliche Ausgrenzungen, der Kampf um elementare Menschenrechte und Kontroversen hinsichtlich der Würde des Menschen – diese beispielhaften Veränderungen und Differenzen bilden einen wichtigen Ausgangspunkt des Nachdenkens über Lebensbedingungen von Kindern und Jugendlichen mit Lernstörungen und Verhaltensproblemen, die häufig unter behindernden Bedingungen leben. Diese komplexen Herausforderungen generieren die Impulse zukünftiger lerntherapeutischer Theorie und Praxisentwicklungen.

Einerseits bedeutet Wahrnehmen, die Aufmerksamkeit auf das Sosein eines Menschen zu richten, ihn zu beachten, sein Leben in seiner speziellen Situation zu betrachten und zu analysieren, seine Lebenssituation mit Blick auf Verstehen und Unterstützen zu reflektieren. Andererseits steht der Begriff «Wahrnehmung» für die Aktivitäten des Gehirns. Wahrnehmen ist ein Prozess, durch den sich der Mensch in Form von Informationsaufnahme über die Sinnesorgane und Reizverarbeitung im Gehirn Welt konstruiert und aneignet, wobei die eigene Aktivität der wahrnehmenden Person im Vordergrund dieses Vorganges steht (Bundschuh, 2019b, S. 308–313). Das Informationsmaterial wird dabei so verarbeitet, dass für das Individuum auf der Basis emotionaler Prozesse immer wieder neu Bedeutung entsteht (ebd. 2003, S. 111ff., S. 147–152). Wahrnehmung bildet somit die Grundlage für die Begegnung mit der Person- und Sachumwelt sowie dem eigenen Selbst auf der Basis ständiger Bewertungen. Neuwahrnehmung heisst hier Möglichkeiten, Fähigkeiten und Kompetenzen kognitiver, sozialer, emotionaler und motorischer Art – trotz möglicher behindernder Bedingungen – in den Vordergrund der Wahrnehmung eines Klienten oder einer Klientin zu stellen.

Welche Assoziationen sind mit dem Begriff «Verstehen» verbunden? Die moderne, rational orientierte Wissenschaft lehnt häufig mit scheinbar einsichtigem Begründen unsichere Begriffe wie beispielsweise «pädagogischer Bezug», «heilpädagogische Beziehung» und auch «Verstehen» ab. Mit Wahrnehmen und dem Versuch, zu verstehen, entwickelt sich allmählich ein Bild vom Gegenüber, vom Du (Buber, 2006). Einen Menschen verstehen heisst, seinen bisherigen Weg gedanklich und empathisch nachvollziehen und ihn in seinem Sosein annehmen – ihn also in seinem Werden und in den Bedingungen des Werdens verstehen (vgl. Bundschuh 2008, S. 71ff.; 2010, S. 126–130). Es geht dabei auch um eine Einstellung, die das Verhalten des Anderen und sein Sosein achtet und akzeptiert, die unter Beachtung seiner Subjektivität versucht, ihn immer besser und vertiefter zu verstehen. Die sich dabei aufbauende Intersubjektivität impliziert, dass die lerntherapeutische Fachperson die Welt des Anderen in seiner individuellen Lebenssituation begreift oder zumindest bereit ist, in einen Prozess des Verstehenwollens und -lernens einzutreten. Vom Anderen her gesehen erweist sich jede Handlung, jede Art von Verhalten, als sinnvoll. Insofern heisst Verstehen auch Achtung vor der Unerschliessbarkeit und Unverfügbarkeit des Anderen (vgl. Bundschuh, 2019a, S. 91–96). Lerntherapeutisches und heilpädagogisches Denken erfordert Flexibilität, Offenheit und Offensein für alle Möglichkeiten einer Lebensgeschichte, bereit sein, den von uns persönlich bevorzugten Standpunkt in Frage zu stellen. Für Lerntherapeutinnen und -Therapeuten ist dieses «Auf-dem-Wege-Sein» (Moor, 1974, S. 260f.) wichtiger als das Wissen um das Ziel. Es lässt sich fast ein triviales, allgemeines Ziel ableiten: Die besondere Situation einer Klientin oder eines Klienten in einer Problemsituation fordert immer wieder aufs Neue zum Handeln auf.

Eine Handlung ist eine Einheit, bestehend aus einer äusseren manifesten Aktivität und einem inneren kognitiv-emotionalen Anteil. Handeln ist oft soziales Handeln, insofern spielt der soziokulturelle Kontext eine wichtige Rolle. Der Lerntherapie geht es um Handeln und um die Handlungsfähigkeit in den emotionalen, sozialen und geistigen Entwicklungen und ganzheitlichen Prozessen des Kindes und Jugendlichen, vor allem um Erweiterung der Handlungsfähigkeit und Autonomie. Der Mensch entwickelt und gestaltet seine Persönlichkeit in der erlebenden und handelnden Begegnung mit der konkreten, in bestimmter Weise strukturierten und sich dynamisch verändernden Welt, die wir als Alltagswirklichkeit bezeichnen. In diesem prozesshaften Geschehen liegt die Herausforderung der Lerntherapie. Sie trägt eine grosse Verantwortung und spielt eine wichtige Rolle im Rahmen der Bildung, Ausbildung sowie Sinnfindung von Kindern und Jugendlichen. Die sozialen und anregenden, aber auch die objektiven und physikalischen Gegebenheiten besitzen vor allem in ihrer subjektiven Bedeutung für die handelnde Person hohe Relevanz. Es ist eine grosse Herausforderung für die Lerntherapie, die häufig bestehende Kluft zwischen Wahrnehmen, Verstehen und Handeln im Sinne der Klienten zu schliessen oder zumindest zu verringern.

3.8 Lerntherapie im Dienste von Kindern und Eltern – Systeme und zukünftige Handlungsmöglichkeiten

Gerade Heilpädagogik und Lerntherapie müssen Unwohlsein, insbesondere Ängste und Probleme von Kindern und Jugendlichen in der heutigen Zeit wahrnehmen und sehr ernst nehmen. Die entscheidenden Erkenntnisse der Pädagogik, der Heilpädagogik und Lerntherapie sind aus Krisen der Systeme, speziell des Schulsystems im Hinblick auf Nichtbeachtung und Vernachlässigung der Probleme betroffener Kinder und ihrer Eltern hervorgegangen. Krisen können zu entscheidenden Neuorientierungen führen. Frühe Hilfen, das heisst Erkennen und Diagnose von – häufig system- und umfeldbedingten – Problemen und die prophylaktische Aufarbeitung durch Gespräche und Lerntherapie im eigentlichen Sinne erweisen sich, gerade in der Gegenwart, als dringend notwendig.

Die einst so gepriesene pluralistische Gesellschaft mit den Erscheinungen Hedonismus, Werteverfall und Bindungslosigkeit birgt für die soziale und emotionale sowie für die geistige Entwicklung von Kindern und Jugendlichen leider auch Bedrohungen und Verletzungen unbekannten Ausmasses. Insofern müssen pädagogische Grundfragen im Hinblick auf diese Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft neu aufgegriffen, reflektiert und beantwortet werden. Das geschieht auch durch Umorientierung von der traditionellen Diagnostik hin zu einer verstehenden mehrdimensionalen Förderdiagnostik (Bundschuh, 2019a, S. 75–135). Heilpädagogik und Lerntherapie bemühen sich prinzipiell um eine solide verstehende pädagogische Basis, die vor allem auch erfüllte Lebensbewältigung ermöglichen soll. Die pädagogische Aufgabe der Zukunft liegt auch darin, die Komplexität und Vielfalt der Möglichkeiten unserer Zeit auf ein für Kinder verträgliches und erträgliches Mass zu reduzieren. Die Ergebnisse der PISA-Studien lehren uns, dass manchmal weniger mehr sein kann, indem sie für eine Reduktion von starren, abstrakten Lehrplänen im Sinne konkreter Handlungsorientierung und damit auch Orientierung am Schüler und an der Schülerin sprechen. Diese Implikationen gelten prinzipiell für alle Schultypen. Das Kernproblem im allgemeinpädagogischen, speziell im lerntherapeutischen Arbeitsfeld liegt in der Frage der weiteren Erziehung angesichts ins Stocken geratener Prozesse in den Bereichen Lernen, Kommunikation im weiten Sinne und Sozialverhalten beziehungsweise emotionales Erleben. Frustrationen, zusammenbrechende und zusammengebrochene Erziehungsfelder, schlichtweg Notsituationen begleitet von Zweifeln, Konflikten, Demütigungen der Eltern und Kinder und der ständigen Suche nach Hilfe, Unterstützung und neuen Möglichkeiten, sind Ausdrucksformen solcher Probleme. Prozesse, die Familien bedrücken, angesichts übermächtiger Institutionen, die zwar das Angebot der Schulen bereitstellen, es bisher jedoch nicht erreicht haben, die mit dem Besuch dieser Schulen immer noch bedrückende, Ängste sowie Minderwertigkeitsgefühle erzeugenden und auch diskriminierenden Begleiterscheinungen in Institutionen, Gesellschaft, Nachbarschaft und Freundeskreis zu neutralisieren (vgl. Bundschuh, 2008, S. 43–49). Meist bedeutet es für die Betroffenen Leid, zusätzliche Erschwernis menschlicher Alltagsbewältigung und Problemhaftigkeit, mit den Phänomenen und Begleiterscheinungen einer Behinderung und behindernden Bedingungen unmittelbar, hautnah im wahrsten Sinne des Wortes, konfrontiert zu werden.

 

Ähnlich, wenn auch etwas distanzierter betroffen, sind Lehrerinnen und Lehrer, Erzieherinnen, Erzieher und Therapeutinnen und Therapeuten, die sich ständig bemühen, trotz auftretender Widerstände und häufigen Scheiterns bei Grenzproblemen, pädagogisierbare Möglichkeiten zu erkennen. Mit Diagnostik traditioneller Art kann hier nicht weitergeholfen werden. Es setzt im lerntherapeutischen Bereich die differenzierte Suche nach neuen Möglichkeiten für Erziehung und Förderung und damit nach erweiterter Handlungsfähigkeit des betroffenen Kindes, der Eltern, der Lehrerinnen und Lehrer ein. Förderdiagnostik (Bundschuh, 2019a) übernimmt hier die wichtige Aufgabe der Problemanalyse sowie Vermittlung zwischen Kindern und Jugendlichen mit ihren Nöten sowie Problemen und der Lerntherapie. Was heisst Förderung und Therapie angesichts solcher Not- und Problemsituationen? Was bedeutet das für die Frage der Erziehung? Welche Rolle spielen Förderung und Therapie im Rahmen der Entfaltung der Persönlichkeit von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen? Können Förderung und Therapie auch mit Problemen und Gefahren verbunden sein? Inwiefern bedeuten Förderung und Therapie Entdeckung und Wahrnehmung neuer Möglichkeiten? Solche Fragen müssen gestellt werden, können jedoch im Rahmen dieses kurzen Beitrages nicht systematisch beantwortet werden.

Grundlegende Überlegungen zu Fragen des Verstehens, der Erziehung und der Förderung sind notwendig, Fragen nach der Orientierung am Kind und nach dem Kindgemässen (Bundschuh, 2019a, S. 249f.). Lerntherapie bedeutet Neuanfang, Neuorientierung, Aufbruch, und den Gedanken der Erziehung und des Verstehens in die Frage nach der Diagnose und Förderung beziehungsweise in den lerntherapeutischen Prozess unmittelbar zu integrieren, das heisst:

 Individuell gesehen Weiterführung, Dynamisierung ins Stocken geratener Lernprozesse, Nöte von Kindern und Jugendlichen angesichts übermächtiger institutioneller Mächte wahr- und ernst nehmen, die Entwicklung hemmender – negativer – Kreisprozesse aufbrechen, behindernde Bedingungen in der Umwelt mit aller Entschiedenheit diagnostizieren, in Wort und Schrift benennen und nach Möglichkeit durch Handeln beseitigen. Das betroffene Kind selbst durch Aufzeigen und Bewusstmachung eigener Handlungsfähigkeit sowie positiver Erweiterung des Selbstbildes und der Selbstkompetenz ermutigen, eigene Kompetenzen und Ressourcen zu erkennen und zu nutzen;

 Belebung sozialer Prozesse – Interaktionen und Begegnungen – durch Förderdiagnostik und Analyse separierender sowie behindernder Bedingungen sowie Anschluss an neue soziale Gemeinschaften im Sinne von Integration und Inklusion (Bundschuh, 2010, S. 93–99);

 im Bereich der Eltern durch Vermittlung von Hoffnung, Mut und Stärkung des Willens zu Erziehung und Förderung, Öffnung von besseren Perspektiven für die Zukunft angesichts deprimierender Erfahrungen – «Unser Kind leistet zu wenig oder nichts, passt sich nicht dem Unterricht an», «stört ständig im Unterricht», «erreicht die nächste Klasse nicht» – im Kontext Schule und Lernen sowie Verhalten.

Insgesamt gesehen meint «Aufbruch» das Aufbrechen und Zerbrechen hemmender Erfahrungen und Strukturen im Bereich Familie, Alleinerziehender, im System Schule, insbesondere aber auch im Bereich des Kindes selbst, das geprägt ist von einer Fülle negativer, hemmender und behindernder Erfahrungen, die auch als «Teufelskreis Lern- und Verhaltensstörungen» bezeichnet werden können.

Therapie und Unterricht gehen von zwei unterschiedlichen Konzepten aus. Unterricht vermittelt aktiv Inhalte und Techniken. Bei der Therapie stehen Prozesse wie Selbstbestimmung und Entwicklung sowie die Beziehung zwischen Lernendem oder Lernender und Therapeut oder Therapeutin im Zentrum des Interesses. Auch wenn die Lerntherapiestufe I der «Vermittlung» sehr nahekommt, versteht sich diese wie die «Lerntherapie» als Ganzes sowohl von der «Verknüpfung» von Persönlichkeit und Lernen als auch von ihrem therapeutischen Handlungsansatz her als Therapie. Dies nicht zuletzt auch deshalb, weil ihr die Persönlichkeit der Lernenden letztlich immer wichtiger ist als ihr Lernen: «Das Wichtigste ist immer der Lernende» (Metzger, 2008, S. 235). Man kann in Erweiterung auch sagen, dass Lerntherapie quasi ein «Learning-System» in sich darstellt. Es spricht vieles dafür, dass Lerntherapeuten mit jedem Klienten neue Erfahrungen machen und auch dabei lernen, dass sich die Lerntherapie entsprechend den Herausforderungen von Gegenwart und Zukunft verändern, neu orientieren und sich auch weiterentwickeln muss, ohne dabei die Grundprinzipien aus dem Auge zu verlieren. Da Persönlichkeitsentwicklung und Lernen miteinander einhergehen, ist das eine nicht ohne das andere zu betrachten. Lernen geschieht durch die Persönlichkeit. Die Persönlichkeit ihrerseits entwickelt sich in und durch Beziehung. Um diese Prozesse zu fördern, verhalten sich die Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten nicht als «Lehrmeisterin» oder «Trainer», sondern begeben sich in eine sensible therapeutische Haltung und Beziehung. Diese fördern und erleichtern Veränderungen und damit Entwicklungs- und Lernprozesse.