Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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2.7 Praktische Implikationen für die Lerntherapie

Welche Implikationen hat die Bindungstheorie für die Lerntherapie? Lernen setzt Beziehung voraus – von Beginn des menschlichen Lebens an und über die gesamte Lebensspanne. Das in Abbildung 1 dargestellte Gleichgewicht zwischen dem Grundbedürfnis nach emotionaler Sicherheit und dem Lern- und Leistungsbedürfnis von Individuen kann in der Lerntherapie eine zentrale Rolle spielen oder nur latent im Hintergrund wirken. Veranschaulicht wird dies durch die Resultate einer Experimentalstudie mit Kindern im Alter zwischen 11 und 13 Jahren (Zemp, Bodenmann & Beach, 2014). Die Kinder sahen durch zufällige Zuteilung eine von drei kurzen Filmszenen im Forschungslabor: (1) einen Konflikt eines Ehepaars, (2) eine Sequenz aus einem Actionfilm für Kinder oder (3) eine ruhige Tierszene aus einem Naturdokumentarfilm. Unmittelbar vor und nach der Videodarbietung wurden die Aufmerksamkeitsleistung mittels eines Aufmerksamkeitstests sowie das emotionale Befinden der Kinder erfasst. Zusätzlich wurde während der Filmexposition die kindliche Hautleitfähigkeit als physiologischer Stressmarker gemessen. Die Resultate zeigten, dass der Paarkonflikt die Kinder emotional am stärksten aufwühlte, jedoch löste der Actionfilm höhere physiologische Erregung aus als der Paarkonflikt und der Naturfilm. Bemerkenswert war der Befund, dass die Konfliktszene die Aufmerksamkeitsleistung der Kinder stärker beeinträchtigte als der Actionfilm. Darüber hinaus zeigte sich, dass Kinder aus konfliktreichen Familien (d.h. Kinder, die zu Hause häufig ungelöste Konflikte zwischen den Eltern erlebten), die zudem physiologisch stark auf den Paarkonflikt reagierten, besonders starke Aufmerksamkeitsprobleme nach dem Konfliktvideo aufwiesen (Zemp, Bodenmann & Cummings, 2014). Beachtenswert ist, dass es sich bei diesen Ergebnissen um die Effekte einer einmütigen Filmszene mit einem Schauspielerpaar handelte. Es ist anzunehmen, dass reale Paarkonflikte im Familienalltag stärkere Auswirkungen haben, weil sie in der Regel länger dauern, häufig thematisch das Kind betreffen und beängstigender sind, weil es sich um dessen eigene Eltern handelt.

Die Studienresultate weisen darauf hin, dass das Erleben von häufigen Paarkonflikten zu Hause das elementare Bedürfnis von Kindern nach emotionaler Sicherheit in der Familie bedrohen kann. Sie sorgen sich um ihr eigenes und das Wohl der Eltern und sind verunsichert über die zukünftige Stabilität der Familie. Diese Bedrohung und Besorgnis können das Kind so nachhaltig beschäftigen, dass sie auf Kosten seiner Aufmerksamkeits- und Konzentrationsleistung gehen. Das Verarbeiten dessen, was zu Hause vor sich geht, hat Priorität gegenüber dem Lernen und den Schulaufgaben und braucht mentale Kapazität, was den gesunden neuropsychologischen Funktionen abträglich sein kann. Die Relevanz dieser Befunde dürfte auch im Erwachsenenalter noch gegeben sein, da beispielsweise gut bekannt ist, dass Partnerschaftskonflikte häufig in den beruflichen Kontext überschwappen und das Leistungsverhalten der Partner im Job beeinträchtigen. Vice versa zählt beruflicher Alltagsstress zu den wichtigsten Ursachen für Partnerschaftskonflikte und Trennungen/Scheidungen (Bodenmann, 2000, 2016b).

Aus dieser Forschung lässt sich eine wichtige praktische Implikation für die Lerntherapie ableiten: Konflikte in sozialen Beziehungen (familiäre, partnerschaftliche, freundschaftliche, berufskollegiale etc.) verdienen bei der Diagnostik und Therapie von Lernschwierigkeiten besondere Beachtung durch die Fachperson. Es erscheint notwendig, dass in der Praxis insbesondere bei Kindern gründlich erfragt und berücksichtigt wird, ob familiäre Spannungen (bspw. elterliche Partnerschaftskonflikte oder Eltern-Kind-Konflikte) bestehen, unter denen das Kind nicht zur Ruhe kommen kann oder von denen es kognitiv und emotional in Anspruch genommen wird (Zemp & Bodenmann, 2015).

Gelingendes Lernen findet sowohl für Kinder und Jugendliche als auch für Erwachsene in tragfähigen sozialen Beziehungskontexten statt. Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten gehen auch eine Form von Beziehung zu ihrer Klientel ein. Diese Beziehung kann zwar nicht als Bindungsbeziehung verstanden werden, dennoch stellen die Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten innerhalb des professionellen Rahmens verlässliche, unterstützende und wertschätzende Bezugspersonen dar. Die Qualität dieser therapeutischen Beziehung wird von multiplen Faktoren beeinflusst: Alter, Geschlecht, Bedürfnisse und Ziele der Klientin oder des Klienten, Mandat der Lerntherapie, Persönlichkeitseigenschaften der Klientin oder des Klienten und der Lerntherapeutin oder des Lerntherapeuten sowie deren gegenseitige Passung, Dauer der lerntherapeutischen Begleitung, Frequenz der Sitzungen et cetera. Basierend auf der Grundannahme der Bindungstheorie, dass das menschliche Bindungsverhalten durch die inneren Arbeitsmodelle gesteuert wird, kann davon ausgegangen werden, dass Kinder und Erwachsene, die eine unsichere Bindung entwickelt haben, die gleichen Erfahrungen in neuen Beziehungen (persönliche sowie therapeutische) erwarten. Aus diesem Grund setzen Individuen selbst in diesen Beziehungen die gleichen, aufgrund ihrer Lebenserfahrung bewährten und über die Jahre tief verfestigten Bindungsstrategien ein. Jede neue Bezugsperson wird an diese bestehenden Schemata angepasst, wodurch die Wahrscheinlichkeit steigt, dass diese wiederum die erwarteten Reaktionen zeigt. Zum Beispiel löst das vermeidende Bindungsverhalten eines Kindes (Typ A) häufig eher abweisende oder distanzierende Reaktionen durch die Umwelt (Gleichaltrige, Lehrkräfte, Eltern, Therapeutinnen und Therapeuten) aus, da kein Zugang zum Kind möglich erscheint. Dies verstärkt erneut die Erwartung des Kindes, dass es Zurückweisung erfährt und es bei Bedarf keine Unterstützung erhält. Es ist eine Form der «selbsterfüllenden Prophezeiung», da häufig unbewusst in neuen Beziehungen gleiche Erfahrungen provoziert werden, mit der Folge eines ungünstigen, sich aufrechterhaltenden Kreislaufs (Stabilität der unsicheren Bindungsmuster nimmt zu).

Das Durchbrechen dieses Kreislaufs erfordert neue Beziehungserfahrungen. In der Psychotherapie setzt man diese Möglichkeit der Veränderung aktiv ein, indem gegenüber der Patientin oder dem Patienten komplementäres, grundbedürfnisorientiertes Therapeutenverhalten gezeigt wird. Dieses soll die individuellen (Bindungs-)Bedürfnisse und Ziele der Patientinnen und Patienten (z.B. Anerkennung, Unterstützung, Zuwendung) erfüllen, um ihnen neue, korrektive Erfahrungen zu ermöglichen (Grawe, 2000). An dieser Stelle ist die Abgrenzung der Lerntherapie von der Psychotherapie hervorzuheben: Nie ist es das Ziel der Lerntherapie, unsichere Bindungserfahrungen oder Bindungsstörungen zu behandeln, wozu in der Regel eine langjährige Psychotherapie indiziert ist. Sehr wohl können die bindungstheoretischen Kenntnisse aber das Verständnis von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten für die individuellen Lernschwierigkeiten und Schulleistungsprobleme ihrer Klientel erhöhen und ihre therapeutische Haltung und methodischen Zugänge beeinflussen. Die Qualität der therapeutischen Beziehung gehört zu den stärksten allgemeinen Wirkfaktoren der Psychotherapie (Grawe, 2000). Analog dürfte die Qualität der Beziehung zwischen Klientin oder Klient und Lerntherapeutin oder Lerntherapeut massgeblich zum nachhaltigen Erfolg der Lerntherapie beitragen.

2.8 Herausforderungen für Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten

Probleme beim Lernen in der Schule, in der Weiterbildung oder im Berufsalltag können viele Ursachen haben und erzeugen in der Regel erheblichen Leidensdruck, der das Kind, die Jugendliche oder den Erwachsenen und ihr soziales Umfeld belastet. Durch den wachsenden Druck verstärken sich üblicherweise die ursächlichen Schwierigkeiten mit der Zeit zusehends. Es entsteht ein ungünstiger Kreislauf, der meist nur durch das Eingehen auf die individuelle Problematik modifiziert werden kann. Langfristig wirksam ist die Lerntherapie dann, wenn es ihr gelingt, dem oder der Lernenden massgeschneiderte Unterstützung an die Seite zu stellen, die an seine beziehungsweise ihre Bedürfnisse angepasst ist. Zu den grossen Herausforderungen für Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten gehört somit das sensitive Einfühlen und Eingehen auf die Klientin oder den Klienten. Im Zentrum steht die lernende Person mit ihrer je eigenen biografischen Lern-, Leistungs- und Beziehungsgeschichte. In vielen Fällen sind nicht das didaktisch-methodische Aufbereiten des Lernstoffs, der Lerninhalt oder das Lernverhalten an sich prioritär. Die Lerntherapie kann darüber hinausgehen, indem sie die verschiedenen Einflussfaktoren der Lernschwierigkeiten in den Lernenden selbst und/oder in seinen oder ihren unmittelbaren Beziehungskonstellationen zu erkennen und dort wirksam anzusetzen versucht. Aufseiten der Lerntherapeutin oder des Lerntherapeuten setzt dies hohe professionelle Feinfühligkeit voraus und das achtsame Wahrnehmen von Grenzen des eigenen Handlungsradius.

Diese Herausforderungen machen den Berufsalltag von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten gelegentlich zu einem komplexen und anspruchsvollen Wirkungsfeld. Es wird deutlich, wie vielseitig die pädagogischen und psychologischen Anforderungen an diesen Beruf sind. Ein integratives und ganzheitliches Problemverständnis der Lerntherapie, das Geist und Psyche des oder der Lernenden gleichsam im Blick hat, erfordert viel Feingespür für den Einzelfall. Es gilt sowohl das Vordergründige als auch die individuellen Hintergründe einer Lernproblematik gemeinsam mit den Klientinnen und Klienten aufzugreifen und Mittel und Wege zu finden, Stressoren (Lernprobleme) zu reduzieren sowie Ressourcen (gelingendes, selbstwirksames Lernen) zu stärken. Insofern sind häufig die individuellen Lösungen die effektivsten. Aus diesem Bewusstsein heraus sind Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten in der Lage, die Lern- und Handlungskompetenzen ihrer Klientinnen und Klienten nachhaltig zu fördern.

 

2.9 Zusammenfassung und Schlusswort

Unter Berücksichtigung des gut gesicherten Kenntnisstands der Bindungsforschung wird die substanzielle Bedeutung von Bindung für die gesamte menschliche Entwicklung deutlich. Obgleich sich erste Bindungsmuster bereits im Kleinkindesalter beobachten lassen, zeigt die Bindungsforschung, dass Bindungserfahrungen mit den primären Bezugspersonen bis in die Adoleszenz und darüber hinaus eminent wichtig bleiben. Hinzu kommen ab dem Jugendalter neue enge Beziehungen, die die menschliche Bindungsqualität weiterhin beeinflussen. Typische, wiederholt erfahrene Bindungserfahrungen sind damit lebenslang bedeutsam und spielen bei der Entwicklung des Lernverhaltens eine zentrale Rolle. Unsichere Bindungserfahrungen beeinflussen über psychologische Risikofaktoren wie ein niedriger Selbstwert, geringe Selbstwirksamkeit, ungünstige Emotionsregulation oder geringe Sozialkompetenzen die Entstehung und Aufrechterhaltung von Lernschwierigkeiten sowie deren Bewältigung. Dahingegen gelangt ein Kind durch sichere Bindungserfahrungen zur Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist, und es kann sich als ausreichend wichtig und wertvoll erfahren, da auf seine Bedürfnisse verlässlich reagiert wird. Die feinfühlige Bezugsperson fungiert als sichere Basis, von der aus das Kind die Welt erkundet. Dieses verinnerlichte Vertrauen bildet einen Grundpfeiler für das psychische Wohlbefinden sowie das optimale Lernverhalten von Individuen.

Im lerntherapeutischen Kontext erhöhen die Erkenntnisse der Bindungstheorie und Bindungsforschung das Verständnis für Lernschwierigkeiten und Schulleistungsprobleme bei Kindern und Erwachsenen. Ein Bewusstsein dieser Hintergründe kann die professionelle Haltung und die therapeutischen Zugänge zu den Klientinnen und Klienten erleichtern, um eine nachhaltig wirksame Unterstützung zu bieten. Das Wissen um die elementare Bedeutung der Bindung als menschliches Grundbedürfnis kann in der Lerntherapie bewusst Eingang finden, indem die jeweiligen Beziehungskonstellationen der oder des Lernenden sowohl als mögliche Hintergründe oder Einflussfaktoren der Lernproblematik als auch direkt in der therapeutischen Beziehung achtsam und adäquat berücksichtigt werden.

Literatur

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Braun, Katharina & Helmke, Carina: Neurobiologie des Bindungsverhaltens: Befunde aus der tierexperimentellen Forschung. In: Ahnert, Lieselotte (Hrsg.), Frühe Bindung. München: Ernst Reinhardt Verlag, 2008, 281–296.

Brisch, Karl Heinz & Hellbrügge, Theodor: Kinder ohne Bindung. Deprivation, Adoption und Psychotherapie. Stuttgart: Klett-Cotta, 2009.

Grawe, Klaus: Psychologische Therapie. 2., korrigierte Auflage. Göttingen: Hogrefe, 2000.

Grossmann, Karin & Grossmann, Klaus E.: Bindungen – das Gefüge psychischer Sicherheit. Stuttgart: Klett-Cotta, 2012.

Grossmann, Klaus E. & Grossmann, Karin: Bindung und menschliche Entwicklung. John Bowlby, Mary Ainsworth und die Grundlagen der Bindungstheorie. 6. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta, 2003.

Jäncke, Lutz: Lehrbuch Kognitive Neurowissenschaften. 2., überarbeitete Auflage. Bern: Hogrefe, 2017.

Moss, Ellen & St-Laurent, Diane: Attachment at school age and academic performance. In: Developmental Psychology, 37(6), 2001, S. 863–874.

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Spangler, Gottfried & Zimmermann, Peter: Die Bindungstheorie: Grundlagen, Forschung und Anwendung. 8. Auflage. Stuttgart: Klett-Cotta, 2019.

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Zemp, Martina & Bodenmann, Guy: Partnerschaftsqualität und kindliche Entwicklung. Ein Überblick für Therapeuten, Pädagogen und Pädiater. Berlin/Heidelberg: Springer, 2015.

Zemp, Martina & Bodenmann, Guy: Die Bedeutung der Bindung für die psychische Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen. In: Akut – Informationsmagazin des Vereins für umfassende Suchttherapie, 31, 2017, S. 12–17.

Zemp, Martina; Bodenmann, Guy & Beach, Steven R.H.: Interparental conflict impairs children’s short-termed attention performance. In: Family Science, 5(1), 2014, S. 43–51.

Zemp, Martina; Bodenmann, Guy & Cummings, E. Mark: The role of skin conductance level reactivity in the impact of children’s exposure to interparental conflict on their attention performance. In: Journal of Experimental Child Psychology, 118, 2014, S. 1–12.

Zemp, Martina; Bodenmann, Guy & Zimmermann, Peter: Außerfamiliäre Betreuung von Kleinkindern – Bindungstheoretische Hinweise für Therapeuten, Pädagogen und Pädiater. Heidelberg: Springer, 2019.

Zimmermann, Peter & Iwanski, Alexandra: Entwicklungsstörungen: Bindungsstörungen im Kindes- und Jugendalter. In: Kohlmann, Carl-Walter; Salewski, Christel & Wirtz, Markus Antonius (Hrsg.): Psychologie in der Gesundheitsförderung. Göttingen: Hogrefe, 2018, S. 667–670.

Zimmermann, Peter; Mohr, Cornelia & Spangler, Gottfried: Genetic and attachment influences on adolescents’ regulation of autonomy and aggressiveness. In: Journal of Child Psychology and Psychiatry, 50, 2009, S. 1339–1347.

3 Lerntherapie, Persönlichkeitsentfaltung, Beziehungsgestaltung und Menschenbild

Konrad Bundschuh

Lernen begegnet der Pädagogik, der Psychologie und speziell der Lerntherapie als ständige Herausforderung in elementarer Weise. Häufig gibt es im Kontext Lernen und Lernprozess behindernde Bedingungen, die der förderdiagnostischen Analyse bedürfen, um Lernprozesse zu ermöglichen beziehungsweise neue zu generieren. Behindernde Bedingungen zu analysieren ist deshalb wichtig, weil sich dadurch die Alltagswirklichkeit der Kinder verbessern lässt, speziell in Schulen und auch in Familien beziehungsweise bei den Erziehungsberechtigten.

3.1 Lerntherapie – aktuelle Herausforderungen und Notwendigkeit

Wissenschaftliche Publikationen über Störungen und Behinderungen sowie die tagtäglichen negativen Erfahrungen in der Praxis zeigen die Nöte und Probleme von circa 25 Prozent aller Schüler und die Hilferufe von Eltern. Bezeichnet werden diese Lernerschwernisse häufig mit Begriffen wie «Wahrnehmungsstörungen», «Teilleistungsstörungen», «Legasthenie», «Dyskalkulie», «Hyperaktivität», soziale und emotionale Störungen. Störungen und behindernde Bedingungen fordern Lerntherapie geradezu heraus. Von Schülern empfundene gravierende Lernprobleme, überfordernde schulische Wirklichkeit eines lern-, leistungs- und/oder erziehungsschwierigen Kindes im Vergleich zur übrigen Klasse implizieren, dass die Gefahr besteht, sich von Lehrern, Mitschülern und Eltern zu entfremden.

Diese Problematik hat der Schweizer Psychotherapeut Armin Metzger (1945–2019) erkannt. Er hat sein eigenes Konzept der Lerntherapie 1990 begründet; es hebt sich von anderen Therapieformen – deutlich – ab. Metzger geht im Rahmen seiner Therapieform von Erfahrungen während seiner Tätigkeit als Lehrer und Psychotherapeut von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen in Problemsituationen und von seinen Kenntnissen verschiedener Therapieformen, speziell der Psychoanalyse, aus. Er erkannte die Problemsituationen in seiner therapeutischen Praxis im Zusammenhang mit Lern-, Schul- und auch Ausbildungsproblemen in der Lehre. Vor allem wurde ihm bewusst, dass die Analyse und damit auch die Prävention zahlreicher Probleme bei Kindern und Jugendlichen im Kontext Schule und Verhalten allgemein durch Lerntherapie wesentlich früher als bisher beginnen sollte. Metzger beschreibt die Situation und seine Erfahrungen in den siebziger und achtziger Jahren wie folgt:

Die psychotherapeutische Praxis war überfüllt mit Klientinnen und Klienten mit Lern-, Schul- und Ausbildungsproblemen. Die Diagnostik leistete qualifizierte Arbeit. Therapeutisch dagegen war niemand wirklich für diese Problematik professionell qualifiziert und spezialisiert. Die Ausbildung der Lehrerinnen und Lehrer war lehr- und klassenorientiert und kaum lern- und individuumorientiert aufgebaut. Die Angebote der Hilfe für Jugendliche mit Lern-, Ausbildungs- und Beziehungsschwierigkeiten setzten häufig erst ein, wenn Schule und Ausbildung abgebrochen waren und die Jugendlichen sich in den Gassen, in Arbeitslosigkeit, in der Drogenszene und manchmal bereits in der Kriminalität befanden – im Hinblick auf eine schadlose Rehabilitation und Resozialisierung meist zu späte Einsätze (Metzger, 2008, S. 9).

Metzgers Lerntherapie basiert auf einem entwicklungstherapeutischen Verständnis. Sie geht von einer impliziten Dynamik des Werdens der Persönlichkeit aus. «Die Entwicklung erfolgt in allen existentiellen Bereichen: biologisch, emotional, kognitiv und sozial» (2014, S. 153). Veränderungen im Rahmen der Entwicklung beruhen auf einem multidimensionalen und komplexen Lernprozess. Menschliches Lernen geschieht in engster Verbindung mit der Persönlichkeitsentwicklung, die sich ihrerseits in sozialen Beziehungen und Netzwerken aktualisiert. Persönlichkeits- und Lernentwicklung geschehen wechselseitig, sie können sich gegenseitig befruchten, aber auch hemmen oder stören, wie Metzger in seinen Publikationen «Lerntherapie. Wege aus der Lernblockade – Ein Konzept» (2000, 2. Aufl. 2002) und «Lerntherapie in Theorie und Praxis» (2008) schreibt. An der theoretischen und praktischen Weiterentwicklung der Lerntherapie war massgeblich auch der wissenschaftlich bedeutende und international bekannte und geachtete Schweizer Heilpädagoge Emil E. Kobi (1935–2011) beteiligt. Die Lerntherapie hat sich im Lauf der Zeit auch auf der Basis neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse weiterentwickelt. Das Institut für Lerntherapie – ursprünglich in Schaffhausen, jetzt in der Forch bei Zürich – stellt die Problematik Lernstörungen, Lernhemmungen und -blockaden sowie behindernde Bedingungen des Lernens in den Mittelpunkt seiner lerntherapeutischen Ausbildung. Ausgegangen wird dabei nicht primär von Lerntechniken, sondern von den emotionalen und sozialen Bedingungen menschlichen Seins und Lernens sowie Verhaltens allgemein. Diese Sichtweise führt zu einem neuen Verständnis von Lernblockaden, Konzentrationsschwierigkeiten, Motivationsmängeln, Schul- und Prüfungsängsten sowie Frustrationspotenzial. Lerntherapie trägt dazu bei, diese Probleme von Kindern, Jugendlichen und auch Erwachsenen zu erkennen, zu verstehen, zu analysieren und auf der Basis kompetenz- und ressourcenorientierten Denkens neue Lernprozesse zu initiieren. Im Vordergrund stehen nicht die Lernprobleme im Kontext einseitigen Leistungsdenkens, wie sie zum Beispiel von Schulen immer wieder gesehen und moniert werden, sondern die Lernmöglichkeiten, die durch die lerntherapeutische Begleitung neu wahrgenommen werden. Es werden dabei Potenziale der betroffenen Person erkannt, die bisher durch negative Einflüsse von aussen (wie zum Beispiel Ängste auslösende, überfordernde Schule, krank machende Erziehungseinflüsse von Familie und sozialem Umfeld, Probleme im Kontext Berufslehre) blockiert wurden. Die Möglichkeiten eines Kindes sollen gleichsam «zum Sprechen» gebracht werden, Potenziale, die in der betroffenen Person bereits vorhanden sind und durch Unterstützung der Lerntherapie aktualisiert werden. Hier wirkt das pädagogisch Richtige therapeutisch und das Therapeutische pädagogisch, das heisst durch die enge Verbindung zwischen therapeutischen und pädagogischen Aspekten beginnt – in unmittelbarer Orientierung an den Bedürfnissen der betroffenen Person nach Achtung, Wertschätzung und Anerkennung – der therapeutische Prozess.