Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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2 Warum Lernen Beziehung voraussetzt. Die Bedeutung der Bindung für das menschliche Lernverhalten und ihre Implikationen für die Lerntherapie

Martina Zemp

Die Bindungstheorie und die Befunde der Bindungsforschung haben das Wissen über die gesunde psychische Entwicklung von Kindern und Jugendlichen grundlegend geprägt. Die aufmerksame Wahrnehmung und feinfühlige Beantwortung von kindlichen Bindungsbedürfnissen durch die primären Bezugspersonen bilden das Fundament für die Entwicklung von zentralen Resilienzfaktoren des Kindes. Dazu gehören ein positives Selbstkonzept, Vertrauen in die Umwelt und die Überzeugung, selbst liebenswert zu sein. Darüber hinaus haben Bindungserfahrungen bedeutende Auswirkungen auf das kindliche Explorations-, Lern- und Leistungsverhalten. Kinder entdecken die Welt, geleitet von ihrer Neugier und achtsam begleitet von Erwachsenen. Sie lernen hauptsächlich im Umgang und im Zusammensein mit Menschen, durch stabile emotionale Beziehungen zu ihnen und in verlässlichen sozialen Interaktionen. Deshalb hängt der Ertrag von Lernangeboten immer auch von Beziehungs- und Bindungsprozessen ab, in die sie eingebettet sind.

Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die historischen Ursprünge der Bindungstheorie, aktuelle Neuentwicklungen und zentrale Befunde der Bindungsforschung. Es diskutiert die Rolle der Feinfühligkeit von Bezugspersonen für die Entwicklung von Bindungssicherheit und ihre Relevanz für die Lerntherapie. Im lerntherapeutischen Kontext können diese Kenntnisse das Verständnis für Lernschwierigkeiten und Schulleistungsproblemen bei Kindern und Jugendlichen erhöhen und sie erleichtern den Zugang von Lerntherapeutinnen und Lerntherapeuten zu ihrer Klientel, um eine wirksame Unterstützung zu ermöglichen.

2.1 Historische Ursprünge der Bindungsforschung

Anregende Impulse erhielt die Bindungsforschung in ihren historischen Anfängen durch die Hospitalismus-Forschung, die sich mit den Beobachtungen von Säuglingen und Kleinkindern in Hospitälern und Waisenhäusern in der Nachkriegszeit befasste. Die Ergebnisse zeigten, dass viele der Säuglinge trotz guter hygienischer und körperlicher Betreuung schwere Verzögerungen oder Auffälligkeiten in der Entwicklung aufwiesen (z.B. emotionale oder kognitive Beeinträchtigungen, Kontakt- und Wahrnehmungsstörungen, erhöhte Krankheitsanfälligkeit und eine hohe Sterberate). Der Kinderpsychiater John Bowlby untersuchte das Phänomen im Auftrag der Weltgesundheitsorganisation (WHO) systematisch über Jahre und er war neben anderen Pionieren (u.a. Meinhard von Pfaundler, René Spitz) einer der ersten, der die hohe Kindersterblichkeit bindungstheoretisch diskutierte. Er ging davon aus, dass die schädlichen Auswirkungen auf die Säuglinge vor allem eine Folge von emotionaler Deprivation (Entzug von emotionaler Wärme und Zuneigung der primären Bezugsperson) waren (Bowlby, 1969). Die hohe Kindersterblichkeit in den Heimen sei folglich damit zu erklären, dass das Erreichen von Nähe und Geborgenheit zu einer Bindungsperson ein primäres, angeborenes Bedürfnis von Säuglingen ist. Wenn dieses Grundbedürfnis nicht gestillt wird, können Kinder massive seelische Störungen entwickeln, die in schweren Fällen tödlich sind. Neuartig war zu dieser Zeit die Auffassung, dass neben der intakten körperlichen Versorgung die liebevolle Fürsorge und Zuwendung von mindestens einer konstanten Bezugsperson für die Entwicklung von Kindern elementar und sogar überlebenswichtig sei. Diese Erkenntnisse führten in der damaligen Zeit zu erheblichen Qualitätsverbesserungen in der institutionellen Kinderbetreuung, um Deprivationserfahrungen fortan zu verhindern (Brisch & Hellbrügge, 2009). Gleichzeitig gelten sie bis heute als Geburtsstunde der Bindungsforschung, indem sie das Bewusstsein für die Relevanz menschlicher Bindungen schufen.

2.2 Bindung als angeborenes Grundbedürfnis

Der menschliche Fetus wird in einer sehr viel früheren Phase der individuellen Entwicklung geboren als der Nachwuchs jeder anderen Art von Säugetieren. Die Entwicklung findet deshalb über einen wesentlichen Zeitraum ausserhalb des Mutterleibs statt. Infolgedessen sind der Aufwand in der Kinderbetreuung und das Investment in die Bindung deutlich ausgeprägter verglichen mit den meisten anderen Tierarten (Bowlby, 2006). Für das Neugeborene hat die Aufrechterhaltung der Nähe zu den primären Bezugspersonen eine existentielle, überlebensnotwendige Funktion. Säuglinge verfügen ab Geburt über ein Verhaltensrepertoire von Bewegungen und Kommunikationsfertigkeiten (Laute, Gestik und Mimik), um Bedürfnisse zu signalisieren (z.B. durch Weinen, Wimmern und Schreien, später auch durch Rufen, Nachlaufen oder Anklammern). Dieses Bindungsverhalten zeigt der Säugling bei Irritation, Angst, Missempfindung, Unbehagen, Erkrankung und bei jedem anderen Versorgungsbedürfnis oder Stresserleben. Ziel des aktivierten Bindungssystems ist es, eine versorgende Bezugsperson zu erreichen, die dem Kind Schutz bietet, seinen Stress reduziert und so zur Wiedererlangung von Sicherheit und Geborgenheit beiträgt (Grossmann & Grossmann, 2012).

Idealerweise binden sich Säuglinge an zuverlässige, fürsorgliche, stärkere und weisere Erwachsene, die sie schützen und versorgen und ihr Aufwachsen und Lernen aufmerksam begleiten. Die feinfühlige Fürsorge der primären Bezugspersonen stillt die kindlichen Versorgungs- und Zuwendungsbedürfnisse durch emotionale Wärme, Nähe, Trost und Sicherheit (in den Arm nehmen, streicheln, liebevoll zureden, füttern, wickeln etc.). Kleinkind und Bezugsperson werden hier als aktiv Interagierende betrachtet; Bindungs- und Fürsorgesystem beeinflussen sich zirkulär und wechselseitig. Durch konstant verlässliche und sichere Bindungserfahrungen gelangen Kinder zu der grundlegenden Überzeugung, dass die Welt ein sicherer Ort ist, an dem sie geliebt werden, und sich jemand um sie sorgt, wenn sie belastet sind.

2.3 Die Bedeutung der elterlichen Feinfühligkeit

Die Feinfühligkeit (resp. Sensitivität[18]) der primären Bezugspersonen ist eine Schlüsselvariable im Verständnis von Bindungserfahrungen und ihren Folgen für die Kindesentwicklung. Das Feinfühligkeitskonzept gründet hauptsächlich auf den frühen Untersuchungen von Mary Ainsworth (1977), die Feinfühligkeit als die Fähigkeit von Betreuungspersonen definierte, die Bedürfnislage des Kindes einfühlsam zu lesen und adäquat zu beantworten. Hierbei sind 4 Merkmale von besonderer Bedeutung:

Wahrnehmung: Die Bezugsperson ist hinreichend zugänglich und aufmerksam gegenüber den kindlichen Signalen und nimmt auch subtile und nonverbale Äusserungen wahr.

Interpretation: Die Bezugsperson erkennt, was der Säugling braucht. Die adäquate Interpretation bedingt eine störungsfreie Wahrnehmung und Einfühlungsvermögen.

Promptheit: Die Bezugsperson reagiert unverzüglich innerhalb eines Zeitfensters, in welchem für das Kind ein Zusammenhang mit seiner Regung wahrnehmbar ist. Gemäss Experimentalstudien mit wenige Monate alten Säuglingen sollte das Reiz-Reaktions-Intervall innerhalb von etwa 5 bis 8 Sekunden liegen, damit es vom Säugling als kontingent wahrgenommen wird. Aber je älter das Kind wird, umso länger kann das Intervall dauern.

Angemessenheit: Die Bezugsperson stillt die kindlichen Bedürfnisse adäquat, je nach Zuwendungsbedürfnis des Kindes (z.B. Schutz und Trost bei Angst und Erschrecken, Anregung bei Langeweile etc.). Die angemessene Reaktion kann das Kind effektiv beruhigen oder regulieren, sie ist strukturiert und vollständig (Bindungsverhalten des Kindes ist wirksam).

Die Qualität der elterlichen Feinfühligkeit gilt wissenschaftlich als stärkster bekannter Vorhersagefaktor für die Entwicklung eines sicheren Bindungsmusters beim Kind (vgl. Tab. 1; Grossmann & Grossmann, 2003). Feinfühlige Bezugspersonen haben Kleinkinder, welche ihre Bedürfnisse häufiger durch ruhiges Wimmern signalisieren als mit lautem Schreien und Weinen. Indem sich diese Kinder leichter beruhigen lassen, sind auch meist die Eltern-Kind-Interaktionen stressfreier. Im Kindergarten und in der Schule sind Kinder von feinfühligen Eltern weniger aggressiv, bei den Gleichaltrigen beliebter, weisen bessere sozial-emotionale Kompetenzen (z.B. Kommunikationsfähigkeiten, Emotionsregulation) sowie einen höheren Selbstwert auf. In der Adoleszenz verfügen sie über ein positiveres Selbstkonzept, bessere Emotionsregulationsstrategien und stabilere Freundschaftsbeziehungen. Im Erwachsenenalter ist ihre eigene Feinfühligkeit gegenüber ihren Kindern ausgeprägter, was sich wiederum positiv auf die Bindungsqualität der nächsten Generation auswirkt (Bodenmann, 2016a).

Neben der elterlichen Feinfühligkeit spielen jedoch auch andere Einflussfaktoren eine Rolle in der Bindungsentwicklung. Seitens des Kindes hat sich das kindliche Temperament im Säuglingsalter als besonders relevant herausgestellt. Mehrere Studien fanden, dass Neugeborene mit ungünstigem Temperament (hohe Irritier- und Reizbarkeit, geringe Anpassungsfähigkeit in neuartigen Situationen) mit höherer Wahrscheinlichkeit später eine unsichere Bindung ausbilden (vgl. Spangler & Zimmermann, 2019). Neuere Erkenntnisse aus Studien, die die elterliche Feinfühligkeit zusammen mit der genetischen Disposition für psychische Störungen bei Kleinkindern untersuchten, deuten darauf hin, dass die feinfühlige Fürsorge das genetische Risiko puffern kann (vgl. Zimmermann, Mohr & Spangler, 2009). Dies bedeutet, dass Kinder mit einer angeborenen Risikokonstellation für kindliche Störungen (z.B. Vorliegen einer genetischen Vulnerabilität für Depressionen oder ADHS) nicht häufiger emotionale oder Verhaltensprobleme entwickeln, wenn sie im frühen Kindesalter konsistent sensitives Fürsorgeverhalten erfahren.

 

Zusammengefasst werden in einer modernen, integrativen Sichtweise individuelle Eigenschaften der Bezugsperson und des Kindes, deren Passung sowie Sozialisationsfaktoren in einem wechselseitigen Verständnis berücksichtigt. Die Kombination und Interaktion dieser Faktoren bestimmen, wie günstig typische Alltagsinteraktionen zwischen Kind und Bezugsperson ablaufen und wie sich infolge die Eltern-Kind-Bindung über die Zeit formiert.

2.4 Ausbildung von kindlichen Bindungsmustern und inneren Arbeitsmodellen

Empirische Befunde zeigen, dass Bezugspersonen von sicher gebundenen Kleinkindern (Typ B) hohe Feinfühligkeit aufweisen, Bezugspersonen von Kindern des unsicher-vermeidenden Bindungsmusters (Typ A) weniger einfühlsam auf das Kind reagieren oder ihm weniger Sicherheit vermitteln und Bezugspersonen von Kindern mit unsicher-ambivalenter Bindung (Typ C) in ihrer Feinfühligkeit von der Passung her inkonsistent und vigilant für Probleme des Kindes sind. Tabelle 1 veranschaulicht die spezifischen Charakteristika der verschiedenen Bindungsmuster im Kleinkindesalter sowie das zugehörige typische Fürsorgeverhalten der primären Bezugsperson.

Individuen entwickeln auf der Grundlage von wiederholt erfahrenen, typischen Interaktionsmustern mit ihren primären Bezugspersonen in der frühen Kindheit später innere Arbeitsmodelle. Darin werden frühe Bindungserfahrungen gespeichert, verinnerlicht und in ein Gesamtbild integriert (Bowlby, 2006). Es handelt sich um die interne Repräsentation von Bindung, die Menschen in Abhängigkeit ihrer Lern- und Beziehungsgeschichte und auf der Basis gleichförmiger Bindungserfahrungen entwickeln. Innere Arbeitsmodelle bilden gleichsam das Entwicklungsfundament für Urteile und Erwartungen bezüglich der eigenen Wichtigkeit für andere (Selbstwert), der eigenen Kontrollierbarkeit der Umwelt (Selbstwirksamkeit) sowie bezüglich der Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit von künftigen sozialen Interaktionspartnern. Die inneren Arbeitsmodelle enthalten sowohl kognitive Komponenten (Erfahrung der eigenen Einflussnahme auf die Umwelt) als auch emotionale Aspekte (Erfahrung von Geborgenheit, Sicherheit und Geliebtsein) und steuern das menschliche Verhalten auf der Basis dieser internen Konzepte.


Typisches Fürsorgeverhalten der primären Bezugsperson Typisches Bindungsverhalten des Kleinkindes in Stresssituationen Innere Arbeitsmodelle
Sicheres Bindungsmuster (Typ B) Die Bezugsperson nimmt die kindlichen Bindungsbedürfnisse einfühlsam wahr, interpretiert sie adäquat und reagiert angemessen und prompt. Das Kind zeigt durch die Belastung kurzfristige Irritation, kann jedoch seine Bindungsbedürfnisse gezielt an die soziale Umwelt richten und ist leicht zu beruhigen. Das Kind besitzt die Zuversicht, dass seine Bezugsperson in stressreichen oder bedrohlichen Situationen verfügbar und verlässlich ist. Es lernt, dass auf seine Bedürfnisse konsistent reagiert wird.
Unsicher-vermeidendes Bindungsmuster (Typ A) Die Bezugsperson zeigt konstant unzureichende emotionale Verfügbarkeit und Zuverlässigkeit gegenüber dem emotional belasteten Kind. Das Kind lernt, in Stresssituationen nicht die Nähe der Bezugsperson aufzusuchen, ist abweisend und distanziert. Das Kind erwartet Zurückweisung; Vertrauen auf Unterstützung in Stresssituationen fehlt.
Unsicher-ambivalentes Bindungsmuster (Typ C) Die Bezugsperson zeigt konstant unzureichende Konsistenz im Fürsorgeverhalten und hohe Aufmerksamkeit für negative Äusserungen des Kindes. Weil das Kind verinnerlicht, dass Bezugspersonen manchmal verfügbar sind und manchmal nicht, zeigt es anklammerndes und gleichzeitig abweisendes (ambivalentes) Verhalten gegenüber der Bezugsperson. Das Bindungsverhalten ist maximiert. Das Kind ist unsicher, ob die Bezugsperson in Stresssituationen verfügbar ist.
Desorganisiert-desorientiertes Bindungsmuster (Typ D) Kinder mit diesem Bindungsmuster stammen oft aus Risikofamilien, etwa von Hochkonflikteltern oder mit Erfahrung von frühkindlicher Misshandlung oder Missbrauch durch relevante Bezugspersonen. Das aktivierte Bindungssystem des Kindes zeigt sich häufig in bizarren und unerwarteten Verhaltensweisen (z.B. Verhaltensstereotypien, widersprüchliche Bewegungsmuster, dissoziationsähnliches Erstarren, Zusammenbruch der normalen Verhaltens- und Aufmerksamkeitsstrategien). Das Kind wird von der Bezugsperson stark verunsichert und ist nicht in der Lage, eine klare (organisierte) Bindungsstrategie zu entwickeln.

Tabelle 1: Klassifikation der kindlichen Bindungsmuster und inneren Arbeitsmodelle (in Anlehnung an Zemp & Bodenmann, 2017)

Die unsicheren Bindungsmuster A und C zählen mit dem sicheren Bindungsmuster (Typ B) zu den organisierten Bindungsmustern, gehören demzufolge ins adaptive Spektrum von Bindungsqualitäten und sind keine Störungen. Klinisch betrachtet sind die unsicheren Bindungsmuster aber prognostisch relevant, weil sie über die Lebensspanne (bei ähnlichen Milieubedingungen) mittelfristig relativ stabil sind und daher auch das Risiko für eine spätere Störungsentwicklung erhöhen können. Die Bindungsdesorganisation (Typ D) gehört ebenfalls nicht zu den Bindungsstörungen im engeren Sinne, wird aber entwicklungspsychopathologisch als sehr prädiktiv für die Entwicklung von psychischen Störungen angesehen. Jedoch zeigt der aktuelle Kenntnisstand, dass der Bindungstyp respektive die inneren Arbeitsmodelle nicht unveränderbar sind über die Lebensspanne. Es gibt zunehmend wissenschaftliche Befunde, dass sich Bindungsmuster durch die Internalisierung gesunder, «korrektiver» Beziehungserfahrungen mit alternativen Bezugspersonen (z.B. Partnerinnen und Partnern in Liebesbeziehungen, Therapeutinnen und Therapeuten, Lehrpersonen) über eine längere Zeit neu gestalten können.

2.5 Hinreichend gute Eltern

Die Feinfühligkeit von Betreuungspersonen gegenüber ihren Kindern ist zwar relativ stabil, kann aber durch zahlreiche Faktoren im Familienalltag beeinträchtigt werden. Hierzu zählen insbesondere Schlafmangel und Müdigkeit, geringe Zeitressourcen, hohes Stressempfinden oder die Notwendigkeit, auf mehrere Kinder gleichzeitig einzugehen (Zemp, Bodenmann & Zimmermann, 2019). Ebenfalls hängt die elterliche Feinfühligkeit von längerfristigen sozialen Gegebenheiten ab (allgemeine Lebenszufriedenheit und psychische Gesundheit der Eltern, Zufriedenheit in der Partnerschaft, Alleinerziehung, soziale Unterstützung, sozioökonomischer Status etc.). Vor diesem Hintergrund können Eltern nicht permanent alle Bedürfnisse des Kindes stillen. Folglich gilt es zu bedenken, dass es die perfekte Feinfühligkeit dauerhaft nicht gibt (Ahnert, 2010). Der Psychoanalytiker Donald Winnicott (1953) hat mit dem Begriff der «good enough mother» (hinreichend gute Mutter) das idealisierte Bild des perfekten Elternteils verworfen. Die Bezeichnung reflektiert, dass Vollkommenheit und Perfektionismus in der Fürsorge und Erziehung weder realistisch noch erstrebenswert sind und Abweichungen vom Ideal im Alltag respektiert werden müssen. Es ist wichtiger das Kind auch effektiv regulieren zu können (beruhigen, trösten, Schutz gewährleisten) als gehetzt, aber prompt auf alle Äusserungen des Kindes zu reagieren. Darüber hinaus sollen Eltern auch auf ihre eigenen Bedürfnisse achten, sich Zeit für sich und die Partnerschaft nehmen und ausreichend Gelegenheiten zum Auftanken schaffen. Es ist nicht zugunsten des Kindes, wenn Eltern erschöpft und ausgebrannt sind (Ahnert, 2010). Sie können nur so gut auf das Kind und seine Bedürfnisse eingehen, wie sie selbst in einer ausgewogenen Verfassung und Befindlichkeit sind.

Das Konzept der elterlichen Feinfühligkeit sollte zudem entwicklungsabhängig verstanden werden. Während im Säuglingsalter auf das Bindungsverhalten so gut wie möglich (möglichst zuverlässig und prompt) reagiert werden sollte, ist mit zunehmendem Alter des Kindes Erziehungsverhalten günstig, das nur noch so gut wie nötig (hinreichend zuverlässig und prompt) ist, um den wachsenden Autonomiebestrebungen und Kompetenzen des Kindes gerecht zu werden (Zemp et al., 2019). Eine sichere Bindung des Kindes zu den Eltern stellt bis in die Adoleszenz und darüber hinaus einen der wichtigsten Schutzfaktoren gegen psychische Störungen dar (Spangler & Zimmermann, 2019). Durch zunehmende Stressbewältigungskompetenzen und Autonomie kommen Jugendliche seltener in Überforderungssituationen als Kleinkinder (Zimmermann & Iwanski, 2018). Zudem verbringen Jugendliche mehr Zeit ausserhalb der Kernfamilie mit Gleichaltrigen und suchen dort soziale Unterstützung. Die emotionale Verfügbarkeit der Eltern bleibt jedoch weiterhin hoch relevant. Feinfühligkeit bedeutet also sensitiv im Hintergrund die Entwicklung des Kindes zu verfolgen und dort altersgerechte flankierende Unterstützung zu bieten, wo dies erforderlich erscheint, weil das Kind sich nicht selbst beruhigen kann oder Zuwendung und emotionale Unterstützung braucht.

2.6 Sichere Bindungserfahrungen und kindliches Explorieren und Lernen

Sichere Bindungserfahrungen mit den Eltern und anderen primären Bezugspersonen gehören zu den bedeutendsten Determinanten der psychischen Gesundheit und zu den wichtigsten Schutzfaktoren gegen verschiedene psychische Störungen bis ins Erwachsenenalter. Dahingegen hängen unsichere Bindungsmuster im Kindes- und Jugendalter mit einem erhöhten Risiko für externalisierende Verhaltensprobleme (z.B. aggressives Verhalten, Störungen des Sozialverhaltens, Substanzmissbrauch) oder internalisierende Störungen (z.B. depressive Störungen, Angst- und Essstörungen) zusammen (Bodenmann, 2016a). Ausserdem belegen zahlreiche Studien, dass Bindungserfahrungen auch Auswirkungen auf das kindliche Leistungs- und Lernverhalten haben. Beispielsweise weisen sicher gebundene Kinder eine höhere Leistungsmotivation und bessere Schulleistungen auf als Kinder mit unsicherem Bindungsmuster (vgl. Moss & St-Laurent, 2001). Studien mit rumänischen Adoptivkindern zeigten, dass das Aufwachsen in Heimen zu starken Entwicklungsdefiziten führte, wenn sie einer globalen Deprivation (geringe emotionale Wärme, unzureichende Anregung und Stimulierung aus der Umwelt) ausgesetzt waren (Rutter, 1998). Eine förderliche familiäre Umgebung nach dem Heimaufenthalt (Adoption in eine feinfühlige Adoptivfamilie) konnte die negativen Effekte in den meisten Fällen puffern. Dabei stellte sich heraus, dass eine frühe Adoption (< 6 Monate) günstigere Entwicklungsverläufe vorhersagte. Die Folgen für die psychische und kognitive Entwicklung waren demnach umso stärker, je länger die Kinder den Deprivationserfahrungen ausgesetzt waren.

Neurowissenschaftlich relevant ist, dass die kindliche Hirnentwicklung in den ersten Lebensjahren besonders rasant fortschreitet: In den ersten 3 Lebensjahren verdreifacht sich das Gewicht des Gehirns (Jäncke, 2017). Das bedeutet, dass die Hirnentwicklung in dieser Zeit Einflüssen aus der Umwelt besonders ausgesetzt ist – sich also vorrangig erfahrungsabhängig vollzieht – und deshalb Früherfahrung einen Einfluss darauf haben muss, wie das Gehirn später funktioniert. Aus diesem Grund stellen frühe Bindungserfahrungen wichtige Weichen für die kognitive Entwicklung des Kindes. Durch die feinfühlige Interaktion mit den primären Bezugspersonen werden wichtige Hirnareale (primäre und sekundäre Sinnes- und Bewegungszentren, limbisches System und Regionen im präfrontalen Cortex) trainiert und das Gehirn wird stärker vernetzt (Braun & Helmke, 2008). Damit schafft hohe elterliche Feinfühligkeit gerade in dieser frühen Phase das Grundgerüst für spätere (schulische) Leistungen, das Lernverhalten und soziale Interaktionsfähigkeiten des Kindes. Die normgerechte kindliche Entwicklung braucht hinreichend Anregung, emotionale Zuwendung und angemessenen «Input» für die biologische Programmierung der neuronalen Strukturen.

 

Bindungstheoretisch können diese Befunde damit erklärt werden, dass die frühkindliche Bindung zur Bezugsperson als sichere Basis fungiert, von der aus das Kind seine Umwelt erkundet. In der zweiten Hälfte des 1. Lebensjahres beginnt das Kleinkind, sich vermehrt allein fortzubewegen und seine Umwelt in grösserem Umfang zu explorieren. Das Kind kann durch Entwicklungsfortschritte in seiner Mobilität aktiver und selbstständiger die Distanz zur Bezugsperson regulieren und macht kleine Exkurse innerhalb sicherer Entfernung. Dabei sucht es insbesondere in neuen, unbekannten Situationen die Nähe zur Bezugsperson auf, um nach Hinweisen für Ermutigung respektive Rückzug zu suchen. Das Kind vergewissert sich stets, wo die Bezugsperson ist, und mit der Zeit genügt ein Blickkontakt zur Beruhigung des Kindes (sog. soziales Referenzieren). Die Bezugsperson ist die Sicherheitsbasis für die Erkundung der Umgebung und der «sichere Hafen», in den es nach Momenten des Explorierens zurückkommen kann, um sich emotional wieder zu stärken.

Das Kleinkind entwickelt das Explorationsverhalten als eine dem Bindungsverhalten gegenläufige Grundkomponente der menschlichen Natur (siehe Abb. 1). Das heisst, dass Bindung und Exploration manchmal in unvereinbarem Konflikt stehen (Sicherheitsbedürfnis versus Neigung, die Umwelt zu erkunden; Nähe versus Distanz zur Bezugsperson). Gleichzeitig sind sie voneinander abhängig, weil gesunde Autonomieerfahrungen nur möglich sind, wenn es für das Kind einen sicheren Rückzugsort gibt, von dem aus es sich in der Welt orientieren kann. Wenn die kindlichen Bindungsbedürfnisse von den primären Bezugspersonen feinfühlig befriedigt werden, kann das Kleinkind seiner angeborenen Tendenz zur Exploration der Umwelt in gesundem Masse nachgehen (Grossmann & Grossmann, 2003).

Abbildung 1:

Balance zwischen Bindungs- und Explorationsverhalten

Die gesunde Entwicklung erfordert ein Gleichgewicht in beiden Bereichen, einen ständigen Balanceakt zwischen dem Bindungs- und dem Explorationsbedürfnis. Bei aktiviertem Bindungssystem gerät die Waage aus dem Gleichgewicht, da das Bedürfnis nach Sicherheit und Geborgenheit mehr Priorität erhält als das Erkundungsbedürfnis. Kinder mit unsicher-vermeidendem Bindungsmuster aktivieren in Stresssituationen typischerweise das Explorationsverhalten auf Kosten des Bindungsverhaltens (Minimierung des Bindungssystems: abweisend-distanziertes Verhalten, eingeschränkter Blickkontakt, sachliche Beschäftigung). Bei unsicher-ambivalent gebundenen Kindern erhält das Bindungsverhalten in Stresssituationen typischerweise gegenüber dem Explorationsverhalten mehr Gewicht (Maximierung des Bindungssystems: übermässig anhängliches und anklammerndes Verhalten und gleichzeitig wegdrückendes, ängstliches und kontrollierendes Verhalten) (vgl. Tab. 1).