Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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Arbeiten zu Lernhemmungen, Schulversagern sowie «schwierigen und faulen» Schülern

Edith Buxbaum berichtet einige Fallgeschichten (1930, S. 461ff.), welche beeinträchtigte Lernbereitschaften als Reaktionen auf das Verhalten der Eltern verstehen lassen: «Wenn du nicht die Matura machst, bekommst du keinen Mann», «Ich lerne nicht, damit mich mein Vater aus der Schule nimmt», oder «Die Mama meint nämlich, ich lerne nur, wenn sie schimpft». Nach einer gemeinsamen Aufarbeitung der Zusammenhänge und Interventionen bei den Eltern normalisiert sich das Lernverhalten.

Der Psychiater Gustav Bychovski ist überzeugt, dass Störungen des Lernens einen «ungemein häufigen Anlaß zur spezialärztlichen Beratung» bilden. Herausgegriffen sei die Geschichte eines 17-jährigen Mädchens, das an einer «unwiderstehlichen Unlust» litt, seine Schularbeiten zu erledigen. Die analytische Klärung der dahinter liegenden Konflikte mit Schwester und Eltern «brachte dem intelligenten Mädchen rasche und völlige Herstellung. Auch die Arbeitsfähigkeit stieg wieder […] und die weitere Schullaufbahn nahm ihren normalen Verlauf» (1930, S. 421–426).

August Aichhorn – Erziehungsberater und Psychoanalytiker – wird wegen eines 17-Jährigen aufgesucht, welcher im Lernen plötzlich und unerklärlich zurückbleibt. Wie sich herausstellt, hat ihn der Vater beim Onanieren erwischt und hegt allerschlimmste Befürchtungen, dass dies Ursache des schulischen Versagens sei. Der Berater erklärt sich bereit, den Jungen zu behandeln – unter der Bedingung, ihm das Onanieren gestatten zu dürfen. Der Vater verlässt empört die Praxis – um einige Zeit später wieder zu kommen und erneut um eine Behandlung zu bitten. Der Berater bleibt bei seiner Bedingung und erst, als die Leistungen weiter sinken, lenkt der Vater nach Wochen zerknirscht ein. Einen Monat später hat der Junge wieder aufgeholt und arbeitet fleissig und erfolgreich (1932, S. 478–479).

Eine berührende Mitteilung macht Hedwig Just-Keri, die Lehrerin einer gut sechsjährigen Erstklässlerin. Sie lebt mit ihrer Mutter, der Vater hat die Familie vor einem guten Jahr verlassen und pflegt keinen Kontakt mehr. In der Schule kann sie – hochgradig zerstreut und verträumt – dem Unterricht nur kurzzeitig folgen. Beim Rechnen während individueller Nachhilfe fällt auf, dass das Kind zwar leidlich addieren kann, aber bei Aufgaben mit der Lösung 5 versagt. Die Lehrerin fragt, ob es etwas gegen die Zahl 5 habe, und hört ein gedehntes «Nein». Wochen später berichtet die Mutter, die Kleine habe nach ihrem Alter gefragt. Sie werde sieben, habe sie geantwortet. Schade, habe das Kind gemeint: «das schönste Alter ist drei und fünf Jahre. Ich möchte nie älter werden» (1930, S. 480–481).

Thesi Bergmann kann als Beispiel genommen werden, wie sich eine – analytisch gut ausgebildete – Nachhilfelehrerin auf ein Kind einlässt, ohne die Grenze zwischen psychoanalytischer Pädagogik und einer Kinderpsychoanalyse zu verwischen. Der Bericht (1937, S. 29–43) dokumentiert das Ringen um eine Klärung eines komplexen Beziehungsdreiecks von Mutter, Klientin und kleinerer beliebter Schwester. Die Spannungen stören das schulische Arbeiten der Klientin massiv. Im Schutze einer guten Übertragungsbeziehung gelingt es der Pädagogin, der Klientin schrittweise zu Erfolgserlebnissen zu verhelfen und ihr Selbstwertgefühl zu stärken. Die Kombination von Nachhilfe und Gesprächen mit Klientin und Mutter entschärft die Problematik des hoch neurotischen Beziehungsgefüges immerhin so weit, dass das Kind eine anstehende schulische Prüfungshürde bewältigt.

Abgrenzungen zwischen Psychoanalyse und psychoanalytischer Pädagogik

Dass die psychoanalytische Pädagogik eine Gratwanderung zwischen den beiden Disziplinen versucht, war vielen Schreibenden bewusst. Vielerorts wird davor gewarnt, dass eine noch so begeisterte Lektüre psychoanalytischer Texte noch keine Lizenz zur Durchführung eigentlicher Kinderanalysen einschliesse.

Oskar Pfister – Pfarrer und einer der frühen Pioniere der Psychoanalyse in der Schweiz – macht sich in diesem Zusammenhang Gedanken um die Funktion eines «Schülerberaters», welcher unentgeltlich alle Kinder und Jugendlichen in Nöten unterstützen könnte. Gleichermassen an die Schule angebunden und von ihr unabhängig sollte er auch Eltern und Lehrer beraten. Er sieht diese Arbeit nach «analytischen Gesichtspunkten» und verweist auf die «Kleinanalysen», wie sie Zulliger beschreibt, und die «segensreich» wirken können. Bei schwereren Problemen fordert er aber «regelrechte analytische Behandlungen» (1927, S. 288–290).

Zulliger selbst schreibt: Es war der Psychoanalyse vorbehalten, zu entdecken und nachzuweisen, dass intellektuelle Hemmungen meist tiefere psychische Hintergründe haben, und sie zu lösen. Unter Umständen gelingt dies schon dem psychoanalytisch orientierten Pädagogen. Bei schwierigeren Fällen ist angezeigt, die Hilfe psychoanalytischer Therapeuten in Anspruch zu nehmen (1930, S. 431).

Der Sekundarlehrer Willy Kuendig formuliert hingegen dezidiert: «Psychoanalyse in der Schule gibt es nicht» (1927, S. 69). Er führt an, was Lehrpersonen für ihre Zöglinge tun können und sollen. Aber dies sei «niemals Psychoanalyse, sondern analytisch orientierte Pädagogik, das heißt Erziehung, welche sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze» mache (a.a.O., S. 70).

Nelly Wolffheim – Gründerin des ersten psychoanalytischen Kindergartens in Deutschland – zeigt sich erstaunt, wie viele Lehrer sich mit der psychoanalytischen Methode versucht hätten. Sie betont, dass «ohne eine gründliche spezielle Ausbildung und ohne Eigenanalyse die Ausübung des Analysierens (in welcher Form auch immer) unstatthaft» sei (1930, S. 387). Sie zeigt sich den Versuchen Zulligers gegenüber eher skeptisch, der – vor dem Hintergrund einer seriösen Ausbildung – analytisches Denken und Handeln auch in seiner Funktion als Dorfschullehrer pflegt.

Anna Freud nimmt zwar einen Erwartungsdruck pädagogisch Praktizierender wahr, in ihrer Ausbildung mit der Kinderpsychoanalyse vertraut gemacht zu werden. Solche unter Umgehung einer fundierten allgemeinen Ausbildung in Psychoanalyse machen zu können, sieht sie aber als unmöglich. Der Weg zur «vollen analytischen Ausbildung» und damit auch zur Kinderanalyse solle aber «dem in der Praxis bewährten Pädagogen und Heilpädagogen» offenstehen, «der die Mühe nicht scheut» (1932, S. 402).[1]

Auffassungen der Tätigkeit und Rolle der Erziehungsberatung

Frühformen der – noch nicht so genannten – Lerntherapie entstanden vor allem im Rahmen der Erziehungsberatung (vgl. 2.1). Die gut vertretenen Arbeiten der ZfpP zu dieser Disziplin verdienen deshalb besondere Aufmerksamkeit – ich greife heraus, was auch für die heutige Lerntherapie relevant sein dürfte.

August Aichhorn – einer der Begründer der psychoanalytischen Pädagogik – zeigt sich als beinahe altmeisterlicher Virtuose auf der Klaviatur von Übertragung und Identifizierung – im Text gleichermassen bezogen auf Eltern und Kinder oder Jugendliche (1936). Obwohl er auch Überweisungen in Beobachtungsstationen, Heime und in die Psychiatrie vornimmt, bei gängigen Schulschwierigkeiten klärt er zunächst Lernhemmungen psychischer Art. «Die meisten von ihnen werden von der Schule ganz typisch mit 2 Sätzen charakterisiert: ‹Das Kind kann sich nicht konzentrieren›, ‹Es könnte viel mehr leisten, wenn es wollte›« (1932, S. 470). Die Hintergründe kann er nur verstehen, wenn die Klienten eine positive Übertragung (Eltern) oder Beziehung (Kinder) zu ihm entwickeln, Vertrauen fassen. Er bemerkt: «Bei Schulkindern ist bei einer ersten Begegnung gewöhnlich die Schule ein für unser Gespräch verbotenes Gebiet» (1936, S. 51). Er lässt seine Klienten erzählen, geht aufmerksam mit – ohne, «dass der Konflikt und das anamnestische Material» mit «Fragebogen oder auf Grund einer auszufüllenden Drucksorte in eine von uns bestimmten Reihenfolge» gebracht werden (1932, S. 451). Wichtigstes diagnostisches Mittel ist die Beobachtung im Spiel, im nichtanalytischen Gespräch, auf Spaziergängen mit dem Kind (vgl. 1936, S. 60–61). «Viele Kinder bleiben von der Schule weg, machen ihre Aufgaben nicht, arbeiten in der Schule nicht mit und stören den Unterricht, weil niemand da ist, der sich für ihre Leistungen und das Benehmen in der Schule interessiert, der gute Schulleistungen lobt und schlechte tadelt. […] Wir haben in hunderten von Fällen ohne Anwendung psychologischer Kunststücke [Hervorhebung UK] ausreichende Hilfe dadurch geboten, dass wir das Vertrauen der vorgestellten Minderjährigen gewannen. Wir verstanden ihre Beschwernisse und Kümmernisse und gaben ihnen die Möglichkeit, ihr unbefriedigtes Zärtlichkeitsbedürfnis bei uns unterzubringen». Die entstehende Übertragung führt nicht zuletzt dazu, dass das Kind dem Berater Freude machen will: «Sehr bald werden dann Schulbücher und Hefte mitgebracht, […] die Schulaufgaben gelernt und geschrieben, […] und vom Schulschwänzen ist in kürzester Zeit keine Rede mehr» (1932, S. 457f.).

Fritz Redl – unter anderem Kinderpsychoanalytiker und zusammen mit Aichhorn 1934–36 Leiter der Wiener Erziehungsberatungsstellen – macht sich Gedanken zur Terminologie des Begriffs Erziehungsberatung (1932, S. 523–532). Was dort faktisch gemacht werde, entspreche schon lange nicht mehr dem, was die Leute darunter zunächst verstehen würden – was auch Quelle von Widerständen bei einzelnen Eltern und Erziehern sei (in diesem Zusammenhang interessant der Beitrag von Hans Schikola: «Die narzisstische Kränkung der Eltern durch die Erziehungsberatung» [1932, S. 515–522]). Redl regt an, dass Erziehungsberatung primär als Beratung und Begleitung der Eltern verwendet werden sollte. Die Arbeit mit den Kindern oder Jugendlichen selbst sieht er zunächst im Dienst notwendiger Diagnosen, aber durchaus auch als pädagogische Erziehungshilfe dort, wo die Eltern – sei es aus Desinteresse oder Unvermögen – ihre Aufgabe unzulänglich erfüllen. Er schreibt weiter, dass beides in vielen Fällen nicht genüge, weil tiefer greifende therapeutische Unterstützung notwendig sei (1932, S. 527f.). Redl schlägt dafür nach längerer Diskussion den Begriff der Erziehungsbehandlung vor (a.a.O., S. 530). Er fordert, dass «den maßgebenden Instanzen die Begriffe Erziehungsberatung, Erziehungshilfe, Erziehungsbehandlung klar dargestellt werden» sollten. «Heute stehen wir einem Knäuel von Widerständen gegenüber, ihre Erledigung wird erschwert, wenn die dreischichtige Aufgabe mit dem Wort ‹Erziehungsberatung› bezeichnet wird» (a.a.O., S. 532).

 

1.3.3 Die psychoanalytische Pädagogik im Schweizer Exil

Der Faschismus der 30er- und der Kriegsjahre haben es mit sich gebracht, dass die Psychoanalyse nach der Flucht der Familie Freud aus Wien schwierige Zeiten durchlebte. Verschwunden ist sie allerdings auch in Deutschland nicht, die Schriften Sigmund Freuds blieben zugänglich und an den Hochschulen beachtet (vgl. Peglau, 2019). Die zentralen Konzepte wurden allerdings teilweise modifiziert verwendet – Wininger fragt im Titel seines Buches zur Rezeption der Psychoanalyse durch die akademische Pädagogik zwischen 1900 und 1945: «Steinbruch Psychoanalyse?» (vgl. 2011, S. 262). Der von der ZfpP gepflegte psychoanalytisch-pädagogische Austausch kam aber zunächst einmal zum Erliegen. Ernst Federn – Psychoanalytiker und Gewaltforscher, 1938–1945 als Jude und Antifaschist in Lagerhaft – schreibt: « … die eigentliche Psychoanalytische Pädagogik gab es nur mehr bei Hans Zulliger in Bern» (1993, S. 75).[2]

Zulliger ist schon in sehr frühen Jahren mit der Psychoanalyse in Kontakt gekommen.[3] Aus einfachen Verhältnissen stammend, lernte er in seiner Zeit am Bernischen Lehrerseminar den damaligen Direktor Ernst Schneider kennen, welcher von der neuen Lehre sehr begeistert war und im Psychologie-Unterricht seine Seminaristen damit vertraut machte – seine Vorgesetzten waren davon allerdings weniger angetan und entliessen ihn bald wieder. Zulliger arbeitete in der Folge als Lehrer und blieb der Psychoanalyse treu, freundete sich mit Oskar Pfister und Hermann Rorschach an, unterzog sich einer Psychoanalyse und tauchte einige Jahre später bei der ZfpP auf. Wahrscheinlich hat ihm Schneider den Weg ins Herausgeberteam geebnet. Er war mit Freud und seinem Kreis vertraut und freundschaftlich verbunden (besonders eng mit Aichhorn), wurde ernst genommen und steuerte die Idee der Gruppe zur psychoanalytischen Pädagogik bei. Obwohl er sein ganzes Arbeitsleben als Dorfschullehrer in Ittigen verbrachte, publizierte er äusserst produktiv Fachbücher[4] und Zeitschriftenartikel, die auch in der akademischen Welt weit herum beachtet und übersetzt wurden.

Unumstritten war auch er nicht: Die Nazis setzten eines seiner Werke auf die Liste der verbotenen psychoanalytischen Bücher. Auch in der Schweiz hatte Zulliger auf der Hut zu sein. Er schreibt:

Am Anfang betrieb ich das, was man heutzutage als, ‹kleine psychoanalytische Kinderpsychotherapie› bezeichnen würde. Ich tat es nach dem Vorbilde Pfisters, nachdem ich mich selber hatte analysieren lassen und neben Pfisters auch zahlreiche Schriften Freuds […] studiert hatte. Es war während einer Zeit, da die Psychoanalyse auch in der Schweiz in heftigster Weise angefochten wurde. Deshalb musste ich mit äußerster Vorsicht vorgehen. Also arbeitete ich gänzlich im Stillen, befreite einzelne Schülerinnen und Schüler von störenden Symptomen wie Lernhemmungen, Bettnässen, Stottern, reaktiver Aggressivität und Sich-nicht-einfügen-Können in die Gemeinschaft, Schuldgefühlreaktionen wegen Onanie, zwanghaften Diebereien – und ich hatte Anfängerglück. Darüber aber redete ich mit niemandem, um ungestört zu bleiben (zitiert nach Kasser, 1963, S. 38).

In den Nachkriegsjahren galt er als einer der wichtigsten Kinderanalytiker, wurde als Pädagoge gar in die Liga von Pestalozzi und Rousseau gerückt und erhielt 1952 den Ehrendoktor der historisch-philosophischen Fakultät der Universität Bern. Zu dieser akademischen Ehrung soll Zulliger bemerkt haben, seit er den Dr. h.c. habe, werde er wenigstens mehr in Ruhe gelassen. 1955 folgte ein weiteres Ehrendoktorat der medizinischen Fakultät der Universität Heidelberg – Zulliger wurde auch in Deutschland als einer der führenden Pädagogen und Kindertherapeuten gesehen. In der Schweiz folgten Lehraufträge an den Universitäten Bern und Zürich. Er hat den Test seines Freundes Hermann Rorschach um eine Kurzform erweitert, welche breit eingesetzt wurde. Und er hat – durch den Ersten Weltkrieg um die Möglichkeit eines eigenen Hochschulstudiums gebracht – mit seiner wunderbar einfachen, klaren und direkten Sprache viele Menschen erreicht, von Akademikern bis zu ungebildeten Eltern im Rahmen seiner erziehungsberaterischen Praxis.

Um unsere Frage nach dem inhaltlichen Nährboden der Erziehungsberatung wieder in den Vordergrund zu rücken: Zulliger dürfte die frühen – und informellen – Pioniere lerntherapeutischen Handelns während Jahrzehnten entscheidend beeinflusst und geprägt haben.

1.3.4 Zwischenbilanz: Zur Bedeutung der ‹Frühgeschichte› für die heutige Lerntherapie

Die Beschäftigung mit der Frühgeschichte der Lerntherapie – ‹avant la lettre› – eröffnet einen Zugang zu eindrücklichen Texten, welchen auch aus heutiger Perspektive hohe Relevanz zukommt und deren Lektüre immer noch lohnt. Entstanden aus der Auseinandersetzung mit dem mächtigen Theoriegebäude der Psychoanalyse nehmen die Arbeiten dabei meist eine dezidiert psychologisch-therapeutische Perspektive ein. Die frühen Pioniere dürfen in zwei Hinsichten als Vorläufer lerntherapeutischer Arbeit bezeichnet werden:

 Die Erziehungsberatung, auch als offizielle Bezeichnung früher Institutionalisierungen, lässt sich als grosszügig bemessenes Sammelbecken verschiedenster Bemühungen verstehen, Kindern und Jugendlichen, deren Eltern und mitunter auch Lehrpersonen unter die Arme zu greifen. Sich auf die – wie immer geartete – Persönlichkeit der Klienten einzulassen steht im Vordergrund, Schulschwierigkeiten werden als Begleitsymptome zunächst allgemeiner Schwierigkeiten verstanden und nicht als das eigentliche Problem. Lösungen dieser Schwierigkeiten können ohne eine gute Beziehung der Klienten zur Person der Beratenden kaum gefunden werden. Methodisch stehen Beobachtungen und Gespräche im Vordergrund. Testdiagnostische Verfahren und strukturierte Anamnese-Instrumente werden – wenn überhaupt – erst eingesetzt, wenn die Beziehung der Klienten zur beratenden Person belastbar geworden ist und erzieherische Interventionen überhaupt greifen können. Dies bedeutet, dass sich diese Hilfestellungen – oft bei Klienten und deren Eltern – über längere Zeiträume erstrecken müssen, um die Probleme nachhaltig und in Kooperation lösen zu können.

 Bei allen Unterschieden des psychologisch-therapeutischen Vorgehens – vor allem in der Tiefe des Zugangs – arbeiten die Berater durchaus auch lerntherapeutisch im heutigen Sinn: «On fait c’qu’on peut avec c’qu’on a»[5], je nach dem therapeutischen Rucksack, welchen die beratende Person dabei hat. In verschiedensten Arbeiten wird allerdings explizit betont, dass sich eine psychoanalytisch-pädagogische Beratung von einer Kinderanalyse unterscheidet, und dass noch so engagierte Lektüre psychoanalytischer Texte ohne eigene Analyse dazu nicht befähigen. Immerhin auffällig: die Psychoanalyse scheint in diesen frühen Jahren für viele pädagogisch Tätige so attraktiv gewesen zu sein, dass sie sich einer vollen psychoanalytischen Ausbildung unterzogen haben. Wo wir heutige Lerntherapien sozusagen aus einer Hand anbieten und Überweisungen primär bei sehr schwierigen Fällen oder dem Verdacht auf psychische Erkrankungen vornehmen, sind diese Abgrenzungsprobleme nach wie vor dieselben. So schwer dies sprachlich zu fassen ist – so kreativ die gefundenen Wortschöpfungen (vgl. 2.2.3): Kleinanalysen (Zulliger); analytisch orientierte Pädagogik (Pfister und Zulliger); Arbeit nach analytischen Gesichtspunkten; Erziehung, welche sich die Erkenntnisse der Psychoanalyse zunutze macht (Kuendig); Arbeit ohne Anwendung psychologischer Kunststücke (Aichorn). Freud selbst, als Befürworter der Laienanalyse[6] (nach voller analytischer Ausbildung) spielt mit den Begriffen «pädagogische Analytiker» oder «analytische Pädagogen» (1926, S. 122), betont aber, dass pädagogische Arbeit «nicht mit psychoanalytischer Beeinflussung verwechselt und nicht durch sie ersetzt werden kann. Die Psychoanalyse des Kindes kann von der Erziehung als Hilfsmittel herangezogen werden. Aber sie ist nicht dazu geeignet, an ihre Stelle zu treten» (1925, S. 4–5).

Zusammenfassend können wir diese therapeutische Grundhaltung als einen Weg sehen, welcher pädagogisch Tätigen erstens das Verständnis für Kinder und Jugendliche vertieft und zweitens das Repertoire ihres erzieherisch-pädagogischen Handelns erweitert. Sie ist keinesfalls mit Psychotherapie oder Kinderanalyse gleichzusetzen. Die beigezogenen Arbeiten dokumentieren ein hohes Bewusstsein für die Gratwanderungen zwischen Pädagogik und Psychologie. Diese für die Erziehungsberatung damals offenbar zentrale Frage ist auch in der heutigen Lerntherapie von hoher Relevanz.

1.4 Zu den Anfängen eigentlicher – und auch sogenannter – Lerntherapie

Wir haben versucht, einige der informellen Anfänge der Lerntherapie historisch festzumachen. Die Frage, wer denn den Begriff erstmalig verwendet habe, bleibt allerdings noch offen – und wird das historisch verstandene Unternehmen doch noch etwas in die Länge ziehen. Vorläufig auf dem Spielfeld stehen Metzger, der Pionier der Lerntherapie in der Schweiz, und Betz und Breuninger mit ihrem in Deutschland unverzichtbaren Praxisbuch. Beide Zugänge nutzen den Begriff der Lerntherapie, wie wenn es diesen schon immer gegeben hätte. Grund genug, hier eine weitere Sondiergrabung vorzunehmen, um die Sprache der Archäologie noch einmal zu bemühen. Es geht dabei darum, die Hintergründe ihres Verständnisses etwas heller auszuleuchten, beziehungsweise ihre ursprünglichen Konzeptionen der Lerntherapie ansatzweise fassbar zu machen.