Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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5.3 Sprachhandlungskompetenz – Begriff und Kompetenzbereiche

Der in der Literatur benutzte Begriff der Sprachkompetenz wird in diesem Beitrag bewusst erweitert zum Terminus der Sprachhandlungskompetenz, um das Handeln (Performanz) mit und in der Sprache zu unterstreichen. Mit diesem Begriff meinen wir in Anlehnung an die Zürcher Sprachforscher Neugebauer und Nodari (1999, S. 3) die komplexe Fähigkeit, die Erstsprache und die Zweitsprache Deutsch in ihrer hochsprachlichen schweizerischen Variante mündlich und schriftlich unter Einbeziehung der analogen und digitalen Medien im schulischen Kontext und in allen Fächern altersadäquat zu verstehen und zu gebrauchen. Da wir in einer schnell lernenden Informations-, Wissens- und Mediengesellschaft leben, muss die Sprachhandlungskompetenz auch Antworten geben hinsichtlich des Umgangs mit den neuen Medien, der Digitalisierung und dem aktuellen Thema «Bildung 2.0».

Die Schweiz als Sonderfall: Die Schweiz ist ein Paradebeispiel der modernen Mehrsprachigkeit, gerade hinsichtlich der gesprochenen und teilweise auch der geschriebenen Sprache. In der Schweiz werden vier Sprachen gesprochen: Deutsch, Italienisch, Französisch und Rätoromanisch. Viele Menschen sprechen im Alltag, im Berufsleben und zum Teil auch in den Bildungseinrichtungen ihre Dialekte, das heisst die regionalen Mundarten der einzelnen Kantone. 64 Prozent der Menschen sprechen Deutsch (einen schweizerdeutschen Dialekt), 20 Prozent Französisch, 8 Prozent Italienisch und 0,6 Prozent Rätoromanisch; 9 Prozent sprechen andere Sprachen (vgl. Siebenhaar & Wyler, 1997). In der Lerntherapie sollte die Standardsprache gesprochen werden, wenn es im Fach Deutsch beispielsweise um die Grammatik und Rechtschreibung geht, nicht aber bei persönlichen und emotionalen Themen. Wir kennen verschiedene Varietäten: Dialekte, Regiolekte und Standardsprache. Grundsätzlich geht das Bestreben heutzutage dahin, die Fähigkeit zur situationsangepassten Sprachverwendung und damit die Ausbildung einer inneren Mehrsprachigkeit anzustreben. Dialekte, Umgangssprache und Standardsprache sollen bewusst im Unterricht und in der Lerntherapie thematisiert werden. Wir bewegen uns dabei in einem Kontinuum vom regional gefärbten Dialekt bis zum Standarddeutsch (Wildfeuer, 2010, S. 23). Standarddeutsch wird im Lexikon der Sprachwissenschaft nach Bußmann (2002, S. 648) folgendermassen definiert: «Seit den 70er Jahren in Deutschland übliche deskriptive Bezeichnung für die historisch legitimierte, überregionale, mündliche und schriftliche Sprachform der sozialen Mittel- und Oberschicht; in diesem Sinn synonyme Verwendung mit der (wertenden) Bezeichnung ‹Hochsprache›». Der Begriff der Hochsprache wird aus linguistischer und sprachdidaktischer Sicht eher abgelehnt. Nach Wildfeuer (2010, S. 24) ist es gerade für Kinder wichtig, ein Gespür dafür zu entwickeln, in welcher Situation sie Dialekt, regionale Umgangssprache oder Standardsprache verwenden können oder sollten.

Die Corona-Krise im Jahre 2020 hat unser bisheriges Denken und Handeln bezogen auf Lernen, Unterricht, Schule und Lerntherapie durcheinandergewirbelt. Eine neue Generation von Kindern und Jugendlichen, die selbstverständlich mit Smartphone, Tablet und Laptop aufwächst, ist eine Herausforderung für Schule, Unterricht und Lerntherapie. Werden wir in absehbarer Zeit eine hybride Lerntherapie anbieten, das heisst eine klug gestaltete Lerntherapie mit analogen und digitalen Anteilen? Sprache und Schrift sind dabei in ganz besonderer Weise davon betroffen, weil das Lernen, aber auch das Verhalten und die genannten Zeichenressourcen aufs Engste miteinander verknüpft sind und die Entwicklung der Persönlichkeit prägen. Das System der Sprache muss funktionieren und ein geniales Zusammenspiel der verbindenden Areale im Gehirn und der systemrelevanten Bereiche wie Wahrnehmung, Motorik, Bewusstsein, Emotion, Sozialität und Kognition arrangieren. Damit das System der Sprachhandlungskompetenz in der konkreten Sprachsituation funktioniert, sind eine Reihe von stabilisierenden Säulen, wichtigen Eckpfeilern, zentralen Handlungsfeldern und ein solides Fundament notwendig.

Als stabilisierende Säulen sind die gesprochene Sprache als phonisches Zeichensystem und die geschriebene Sprache als grafisches Zeichensystem zu nennen. Beide Zeichensysteme arbeiten eng zusammen, bedingen sich gegenseitig und sind doch in weiten Teilen selbstständig und unabhängig. In Anlehnung an den Linguisten Eisenberg (2013) können wir drei wichtige Eckpfeiler der deutschen Sprache ausmachen und benennen:

 einen sehr differenzierten und elaborierten Wortschatz mit Anglizismen,Helvetismen und Fremd wörtern; gerade jetzt in der Corona-Krise wird das sehr deutlich;

 eine streng geregelte Grammatik mit Regeln und Strukturen wie zum Beispiel dem korrekten Gebrauch bestimmter Wortarten und Satzkonstruktionen beim Sprechen und Schreiben und

 den Sprachgebrauch mit vielfältigen Verwendungsweisen der Sprache in den unterschiedlichsten Situationen der Lerntherapie und des Alltags.

Die Bildungsstandards und Kompetenzbereiche sind: «Sprechen und Zuhören»; «Lesen – Umgang mit Texten und Medien»; «Schreiben» und «Sprache und Sprachgebrauch» untersuchen. Diese gesellschaftlichen Leistungserwartungen sollten um die Hervorhebung des Sprachbewusstseins, die teilweise unzureichend ausgeprägte Medienkompetenz und die sicherlich notwendige digitale beziehungsweise elektronische Kommunikation erweitert werden.

Abbildung 3:

Netzwerk der Zeichensysteme und Kodierungen

In Abbildung 3 wird deutlich, dass die digitale Kommunikation als Knotenpunkt agiert und die vier Kodierungsformen zwischen Rezeption und Produktion bündelt. Das stabile und solide Fundament wird durch das breit gefächerte Sprachbewusstsein, die notwendige Aufmerksamkeit, das Sprachgedächtnis und die intakte und funktionierende Wahrnehmung repräsentiert. Um die Brisanz des Systems der Sprachhandlungskompetenz und das Ineinandergreifen von Lernvorgängen, Sprachprozessen und Verhaltensmustern zu unterstreichen, werden drei zusammenhängende Aspekte herausgegriffen:

1 Sprache und Lernen Wir leben in einer lernenden Informations-, Wissens- und Mediengesellschaft, in der wir vor wenigen Monaten lernen mussten, ob es «der» Virus oder «das» Virus heisst; vom Sprachgefühl neigen wir zu «der» Virus, doch jetzt wissen wir es: Es heisst «das» Virus. Der korrekte Gebrauch der Artikel (bestimmte und unbestimmte Artikel) führt uns zur Bestimmung des Genus und damit zur Grammatik, die Ordnung und Regelhaftigkeit in unsere Sprache bringen soll (u.a. Genus, Tempus, Kasus, Numerus). Hinsichtlich der Satzproduktion müssen wir auch die Deklination des Nomens Virus kennen. Hier wird das Hinzulernen neuer Begriffe und damit der Wortschatz mit der Grammatik verknüpft. Beim Schreiben müssen wir uns entscheiden zwischen dem generischen Maskulinum oder generischen Femininum; auch die Schreibweise ist nicht unumstritten: mit Gendersternchen oder mit Unterstrich. Am besten machen wir doch mal den Selbstversuch und sprechen eine Woche lang in der weiblichen Form!

2 Sprachverstehen und Gedächtnis Tag für Tag hören und lernen wir neue Begriffe: Superspreader, Covid-19, Herdenimmunität, exponenzieller Anstieg der Infektionen, Containment, Inzidenzwert, Lockdown, Shutdown, Reproduktionszahl, Epidemie, Pandemie, Hotspot oder Social Distancing. Wir mussten lernen mit diesen neuen Begriffen – medizinischen Fachbegriffen, Fremdwörtern, gepaart mit Anglizismen und Helvetismen – umzugehen: Im Sprachvollzug sind die vier Kodierungen des «Hörens», «Sprechens», «Lesens» und «Schreibens» aktualisiert und gefordert. Dabei spielen auch die psychischen Prozesse wie Aufmerksamkeit, Fokussierung, Wahrnehmen (auditiv, visuell, taktil), Behalten, Speichern, Wiedererinnern, das spontane Abrufen von Informationen und Wörtern eine wichtige Rolle. Diese Prozesse werden auch zusammenfassend als sprachliche Routinen und als Skripts bezeichnet. Durch interaktive Praktiken werden so gerade in sozialen personengebundenen Dienstleistungen soziale Wirklichkeiten inszeniert; die handelnden Akteure erzeugen durch die Anwendung sozialer Skripts alltägliche Handlungsroutinen, was eine Gedächtnisstütze sein kann. Auftretende Probleme werden andererseits durch narrative Sinnstiftungen in Form von Geschichtenerzählen zu lösen versucht, was zum Verstehen einen wichtigen Beitrag leistet (Klatetzki, 2019).

3 Lerndefizite und Wissenslücken Wir haben durch die Corona-Krise erfahren müssen und gelernt, dass wir uns ständig im Zuge der Digitalisierung und der aktuellen Diskussionen im täglichen Sprachgebrauch und beim Hören von Informationen aus den verschiedenen Medien mit etlichen Abkürzungen beschäftigen müssen, wie zum Beispiel SARS-CoV-2, RKI, App, die «AHA-A-L» Regeln (Abstand halten, Hygienemassnahmen, Alltagsmaske, App und Lüften). Nicht alle Kinder, Jugendlichen, Therapeutinnen, Lehrer und Eltern haben Zugang zum schnellen Internet und damit den digitalen Medien oder sie besitzen selbst keine Endgeräte. Soziale Ungleichheiten werden in den einzelnen Familien noch deutlicher als bisher, Lerndefizite und Wissenslücken tun sich bei den Kindern auf und Stress, Überforderung, Überlastung sowie Unzufriedenheit bei den Lehrerinnen und Lehrern machen sich breit.

5.4 Informations-, Wissens- und Mediengesellschaft als gesellschaftlicher Kontext

Unsere Kinder und Jugendlichen wachsen in digitalisierten Medienumgebungen mit den etablierten Medien wie Radio und Fernsehen und Formaten der Online- und Mobilkommunikation (Videos, Audiofiles, Mediatheken) bei WhatsApp, YouTube, Facebook, Instagram, Google und Snapchat auf, die sich in den letzten Jahren sehr dynamisch herausgebildet haben. (Paus-Hasebrink & Hasebrink, 2017, S. 5f.). Die Transformation von der Produktionsgesellschaft hin zur Informationsgesellschaft ist in vollem Gange und zeigt, dass die rasche technische Weiterentwicklung der Medien nicht nur Auswirkungen auf die Kommunikation zwischen den Menschen ausübt, sie beeinflusst auch das soziale Zusammenleben in allen Lebenslagen und Gesellschaftsschichten. In diesem Zusammenhang sollten drei zentrale Begriffe erläutert werden: Information, Wissen und Medien.

 

 Information Damit sind all jene Botschaften gemeint, die auf die Darstellung und Präsentation von Tatsachen ausgerichtet sind. Hier geht es um informierende Botschaften, die sich auf alle Bereiche der Gesellschaft, Politik, Wirtschaft und Kultur erstrecken können. Dabei handelt es sich nicht nur um aktuelle Tagesereignisse, auch historische und wissenschaftliche Beiträge fallen unter den Informationsbegriff. Die Informationsflut bereitet gerade den Kindern und Jugendlichen Probleme, weil sie durch die Wucht und Schnelligkeit an Botschaften überfordert sind und sich das Bildungsgefälle beziehungsweise die sozialen Ungleichheiten dadurch noch verschärft. Wir müssen auch wachsam sein gegenüber gefälschten Informationen (Fake News), Fehlinformationen und einer gesellschaftlichen Desinformation (Schellmann, Baumann, Gläser & Kegel, 2017, S. 78).

 Wissen Wir kennen den Alltagsspruch: «Wissen ist Macht und Halbwissen ist gefährlich.» Im Zuge der Corona-Pandemie erleben wir das in der Auseinandersetzung mit Verschwörungstheorien oder dem Verbreiten von Fake-News. Da hilft nur gründliches Recherchieren und ein ausgiebiger seriöser Faktencheck. Wir brauchen dazu haltbares und solides Wissen. Mandl und Gestenmaier (2000) unterscheiden das deklarative Wissen vom prozeduralen Wissen. Deklaratives Wissen meint begriffliches Wissen, Fakten- und Datenwissen, das im Gedächtnis verankert ist und über das eine Person Auskunft geben kann. Daneben versteht sich das prozedurale Wissen als Erwerb von Fertigkeiten, Verfahrenswissen, handlungsleitendes Wissen, wie zum Beispiel das Schreiben. Bruner (1986) unterscheidet zwei andere Wissensformen: das paradigmatische Wissen und das narrative Wissen. Das paradigmatische Wissen ist das logisch-wissenschaftliche Wissen, das nach Wahrheit strebt und die Realität mit naturwissenschaftlich-mathematischen Theorien zu erklären versucht. Es geht um den Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen. Die hier benutzte Form der Kommunikation ist die Argumentation; die Anwendung dieser Wissensform führt nach Klatetzki (2019, S. 29) zu aussagekräftigen Theorien, gründlichen Analysen und empirischen Befunden. Dagegen führt die Anwendung des narrativen Wissens zu «guten» Geschichten und plausiblen historischen Erzählungen. Diese Wissensform dient dem Verstehen menschlicher Handlungen und Notlagen in der Lerntherapie als einer sozialen personenbezogenen Dienstleistungsorganisation mit der zentralen Aufgabenstellung des «social problems work». Aus der Evolutionstheorie wissen wir, dass die Ausbildung und Einübung sprachlicher Fähigkeiten der Bewältigung menschlicher Lebensprobleme dient, wie beispielsweise dem Lernen in schwierigen Lebenslagen (Pinker, 1996).

 Medien Sie ermöglichen die Kommunikation zwischen den Menschen und sind so alt wie die Menschheit. Sprache ist das mit Abstand wichtigste Medium der zwischenmenschlichen Kommunikation und Medium des Lernens in allen Fächern, Schulformen und im Alltag. Mit Sprache ist die direkte Kommunikation von Face-to-Face, mit Mimik, Gestik, Körperhaltung, Blickkontakt, Sprechmelodie und direkter Ansprache gemeint, die ein persönliches Feedback ermöglicht. Dagegen setzt die indirekte Kommunikation gezielt Medien ein (Geräte, Apparaturen und spezielle technische Vorkehrungen), die Informationen und Botschaften transportieren; hier ist die zeitliche und räumliche Trennung der Kommunikationspartner kein Problem. Die digitalen Medien in den sozialen Netzwerken übernehmen hier eine prominente Stellung. Schellmann et al. (2017, S. 33) unterscheiden die Textkommunikation (Bücher, Artikel, EBooks), die Bildkommunikation (Bildbände, Fotografien), die Text-Bild-Kommunikation (Zeitungen, Zeitschriften Prospekte), die auditive Kommunikation (Radio, Musik, Audio-CD, Hörbücher), die audiovisuelle Kommunikation (Fernsehen, Film, Kino) sowie die multimodale Kommunikation (Spiele, Gaming). Grundsätzlich sollten wir uns einerseits mit dem neuen Medienbewusstsein beschäftigen und anderseits alles daransetzen, die notwendige digitale Medienkompetenz zu erlangen. Bildung 2.0 bedeutet auch Sprachhandlungskompetenz 2.0.

5.5 Sprachlich-mediale Handlungsoptionen

Die Lerntherapeutin sollte bewusst und gezielt an der subjektiven Sprachhandlungskompetenz arbeiten und sich fit machen für die therapeutischen Herausforderungen. Sie muss zunächst selbst genau hinschauen, wichtige Details in der Wahrnehmung und Sprache des lernschwachen Kindes beobachten, sie muss aufmerksam zuhören können, selbst klar und verständlich sprechen, sich in andere hineinversetzen, also Empathie zeigen und die spezifische Problemlage der Klienten verstehen. Sie sollte sich dabei immer wieder Notizen machen, Stichworte aufschreiben, einen Bericht anfertigen und als Expertin in Sachen Lernen ein Gutachten schreiben. Ebenso sollte die Lerntherapeutin oder der Lerntherapeut Texte sinnentnehmend lesen und verstehen können, eine kleine Rede vor Eltern oder einen Vortrag vor Lehrerinnen und Lehrern halten. Er oder sie sollte das Gesagte kritisch reflektieren, die berechtigte Kritik formulieren und in Worte fassen und als wichtige Botschaften präsentieren. Was die Benutzung der neuen Medien angeht, so sollte sie oder er einerseits niederschwellig mit digitalen Medien in die Lerntherapie einsteigen, andererseits jedoch von den eigenen Mediengewohnheiten ausgehen und diese allmählich in die tägliche Arbeit mit den Klienten integrieren. Sie oder er kann das Smartphone zur interpersonellen Kommunikation nutzen, um Gespräche mit den Eltern, Kolleginnen und Lehrkräften zu führen. YouTube, WhatsApp, Facebook, Instagram, Google und Snapchat sind durchaus bekannt und werden auch genutzt, wenn es um Informationsangebote, den Transport von Botschaften und die Wissensaneignung der Kinder und Jugendlichen, aber auch der Lerntherapeutin geht. Das digitale Lernen und damit die mediale Kommunikation sind aus unserem kommunikativ geprägten Alltag nicht mehr wegzudenken. Wir sollten uns als Lerntherapeutinnen und -therapeuten bemühen, die analogen mit den neuen digitalen Medien in einem klugen Mix miteinander zu verknüpfen.

Wir wollen eine dynamisch-integrative Sprachhandlungskompetenz erreichen, die nicht nur die Kompetenz als das Wissen über unsere Sprache als System berücksichtigt, sondern auch die Performanz als das Sprachkönnen beziehungsweise den Gebrauch der Sprache in ganz konkreten Alltagssituationen mit einbezieht. Das Setting, die Lebenslage, die Lebenswelt und die zurzeit wechselnden Unterrichtsmodelle (Präsenz-, Online- und Hybridmodelle, rollierende Systeme mit Wechselschichten: einen Tag beziehungsweise eine Woche Präsenzunterricht, dann wieder Online-Beschulung), bedingt durch die Corona-Pandemie, sind in der Lerntherapie zu berücksichtigen, da sie weitere Probleme aufzeigen. Im Folgenden werden zur Lösung sozialer, persönlicher und sprachlicher Probleme einige sprachlich-mediale Handlungsoptionen exemplarisch vorgestellt:

 Techniken Als Techniken verstehen wir unter anderem neue digitale Arbeitstechniken im Sinne der Vermittlung von prozeduralem Technikwissen, wie zum Beispiel Computer, Laptops und Tablets (Hardware) sowie Anwendungen und Programme (Software) Bedienen, das heisst Klicken, Wischen, Teilen, Simsen, Posten und Downloaden. Analoge Arbeitstechniken sind das Recherchieren von Informationen, das Protokollieren von Gesprächen, das Transkribieren gesprochener Aussagen, das Redigieren, Überarbeiten und das Korrigieren von schriftlichen Textformaten wie Aktennotiz, Elternbrief, Gesprächsprotokoll oder Therapiebericht. Hierzu gehören auch die zielgruppenorientierte und situationsadäquate Sprechtechnik beim Präsentieren, die Schnell-Lesetechnik (Querlesen, Überfliegen, Daumenkino) beim Lesen eines Artikels sowie der ureigene Schreibstil mit der Verwendung eigener sprachlicher Mittel bei Wortwahl, Satzbildung oder Textaufbau.

 Methoden Beim Methodenspektrum unterscheiden wir Therapiemethoden und Lernmethoden. Therapiemethoden sind unter anderem der therapeutische Dreischritt «Beschreiben – Erklären – Handeln», die Methode des «lauten Denkens» (kognitive Prozesse werden rekonstruiert, das heisst, sie werden aus der Perspektive des oder der Lernenden versprachlicht) und das therapeutische Gespräch mit der Spiegelung des Problemhorizonts. Darüber hinaus sind das Erzählen der eigenen Lebensgeschichte und die Erstellung der persönlichen Lernbiografie-Kurve mit positiven und negativen Lernerfahrungen wichtig. Hinzu kommen das reziproke Lehren und Lernen, Befragungen zu subjektiven Meinungen und spontane Äusserungen. Im Rahmen des biografischen Ansatzes ist das problemzentrierte Interview mit der Erstellung eines Gesprächsleitfadens und eines Kategoriensystems zu nennen; hierzu gehören die Transkription, die Auswertung transkribierter Interviews beziehungsweise Gespräche mit den Operatoren Paraphrasieren, Generalisieren und Reduzieren. Als Lernmethoden des Kindes und Jugendlichen sind exemplarisch zu nennen: das Lernen mit allen Sinnen (Multimodalität), das digitale Lernen sowie das ostensive Lernen, «any act whereby a direct association is directly displayed or shown or pointed out between an empirical event or state of affairs and a word or term of language» (Barnes, Bloor & Henry 1996, S. 49). Interessant sind auch das bewegte Lernen im Sinne der «Discemotorik», das Schreiben nach Gehör, etliche Lautleseverfahren, das Lesen im Dialog und insbesondere silent reading. Darüber hinaus sind das mündliche und schriftliche Präsentieren mit PowerPoint, MindMap oder mit Lapbooks zu nennen. Grundsätzlich sollte das crossmediale Lernen als medienübergreifende Lernstrategie berücksichtigt werden. Mehrere unterschiedliche Medien, aufeinander abgestimmte Formate, Portale und Plattformen sollten stärker als bisher genutzt werden. Die Medienvielfalt kann die Lernprozesse der Klienten unterstützen.

 Praktiken Mit Praktiken sind kommunikative Handlungen gemeint, wie zum Beispiel das Sprechen, Lesen und Schreiben; dabei ist jedes Sprechen und Schreiben Bestandteil von kommunikativen Praktiken, das heisst, der Mensch spricht nach Westrich (1992, S. 359) als sprachrealisierende Person. Wir sprechen im Rahmen einer Therapiesitzung, eines Teammeetings, einer telefonischen Vereinbarung hinsichtlich des Therapiebeginns mit dem Klienten und den Eltern und ebenso schreiben wir einen Brief an eine Kollegin, machen eine Notiz für den Therapiebericht, ein Gesprächsprotokoll oder schreiben einen Kommentar. In diesen interaktiven Praktiken werden soziale Wirklichkeiten inszeniert, indem die Lerntherapeutin und das lernschwache Kind in der konkreten Sprachsituation durch die Anwendung sozialer Skripts Handlungsroutinen erzeugen. Skripts werden hier als das prozessuale Wissen über Handlungsfolgen verstanden, das der kognitiven und sprachlichen Orientierung dient. Probleme werden durch das Erzählen von Geschichten zu klären versucht (Klatetzki, 2019). Das Skript ist eine Eintragung im Langzeitgedächtnis, welche konkrete Handlungsfolgen in bestimmten Situationen beschreibt. Tritt eine solche Situation auf, so kann das Skript abgerufen werden, ohne dass das Kind jetzt noch lange nachdenkt und überlegt. Hat das lernschwache Kind den vorgelesenen Text der Lerntherapeutin nicht verstanden, so kann es dieses Defizit durch eine geeignete Frage reklamieren. Kollektive Praktiken laufen nicht immer problemlos ab; es kommt in den geskripteten Alltagsroutinen immer wieder zu Überraschungen und Unterbrechungen. Diese Probleme wiederum sind dann der Ausgangspunkt und Antrieb für das Erzählen von Geschichten. Das narrative Wissen generiert in diesem Moment Sinn, indem die Probleme anhand eines zeitlichen Handlungsverlaufs erklärt werden. So zeigen sich dann auch meist neue Erkenntnisse und Einsichten und damit auch Möglichkeiten für die Lösung der Probleme (Klateztki, 2019, 34).

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