Lerntherapie – Geschichte, Theorie und Praxis (E-Book)

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4.2.4 Das gemeinsame Ent-decken der Lernschwierigkeit

Doch wie geht die Lerntherapeutin in ihrer Arbeit nun konkret vor? Zunächst wird sie mit ihrem Klienten an dessen konkreten Lernschwierigkeiten arbeiten, im Fall von Sophia heisst das, diese bringt zum Beispiel Texte aus dem Fach Geschichte mit, die in ihrem Unterricht gerade aktuell sind. Die Lerntherapeutin lässt sich von Sophia zeigen, wie sie solche Lektüreaufträge bislang angegangen ist, und bespricht und überlegt gemeinsam mit Sophia, inwiefern diese Vorgehensweise eine sowohl für Sophia wie auch für den Lerngegenstand produktive ist. Hierbei speist die Lerntherapeutin ihr Fachwissen bezüglich Lerntechniken und -strategien ein und übt mit Sophia auch deren Umsetzung am vorliegenden Unterrichtsstoff. Dasselbe gilt für die Schwierigkeiten im Umgang mit dem umfangreichen Lernstoff im Fach Biologie: Wie hat Sophia bisher gelernt? Wo traten Schwierigkeiten auf? Welche anderen Lernmethoden bieten sich an? Dieses Arbeiten an der konkreten Lernschwierigkeit verfolgt mehrere Ziele gleichzeitig: Einerseits dient es dem Beziehungsaufbau und der Vertrauensbildung, denn die Lerntherapeutin signalisiert dadurch, dass sie Sophia und ihre Schwierigkeiten wie auch das im Erstgespräch formulierte Anliegen, Lerntechniken et cetera vermittelt zu bekommen, ernst nimmt. Andererseits, und das ist ganz wichtig, kommt die Lerntherapeutin vermittels dieser gemeinsamen Arbeit auf niederschwellige Weise mit Sophia ins Gespräch und genau dieses Miteinander-ins-Gespräch-Kommen braucht es, damit sich die Lernschwierigkeiten, deren Herkunft und Zweck weiter erhellen können. Bei diesen Gesprächen und dem Arbeiten am Lerngegenstand achtet die Lerntherapeutin nämlich aufmerksam darauf, wie sich Sophia verhält, und zwar sowohl gegenüber dem Lernstoff wie auch gegenüber der Lerntherapeutin: Bringt Sophia selbst Ideen ein, wie sie vorgehen könnte, oder verhält sie sich eher passiv und wartet auf die Vorschläge der Lerntherapeutin? Das sind sehr wichtige Informationen, da sie etwas über Sophia und ihr psychisches Funktionieren aussagen. Oder anders formuliert: Hier kommt die Übertragung ins Spiel und das heisst: Unbewusste, aus der frühen Kindheit herkommende Wünsche und Beziehungserfahrungen aktualisieren sich in der gegenwärtigen Beziehung. Sophia wiederholt in der Lerntherapie also ihre infantilen Wünsche und Beziehungsmuster, ohne dass ihr das bewusst wäre. Wie verhält sich nun die Lerntherapeutin in dieser Übertragungssituation? Verschiedene Reaktionsweisen sind möglich: Sie macht einfach weiter wie bisher. Dieses Verhalten kann zwei Gründe haben. Entweder ist sie so stark auf das Beseitigen der Lernschwierigkeit fokussiert, dass sie das Beziehungsgeschehen gar nicht reflektiert. Das würde bedeuten, dass sie Metzgers Gedanken vom lerntherapeutischen Dreh vernachlässigt, und das ist dann wohl die schlechteste Prognose für das Gelingen der Lerntherapie, oder – zweiter möglicher Grund – Sophias Verhalten bedient den mehr oder weniger bewussten Wunsch der Lerntherapeutin, in einer Beziehung diejenige zu sein, die die Instanz des Wissens darstellt und aufgrund ihres Wissens Hilfe leisten kann. Das ist jedoch für das Gelingen der Lerntherapie auch nicht viel besser als der erste Erklärungsansatz, für Sophia läuft es wohl auf das Gleiche hinaus: Es mag sein, dass sie im Rahmen der Lerntherapie ihr Lernen temporär verändern kann, eine nachhaltige Veränderung wird ihr aber wohl kaum gelingen, da der Symptomcharakter des Problems nicht zur Sprache gekommen ist und also in ihr weiter wirkt. Auf dass die in der Übertragung artikulierende Wiederholung aufgelöst werden kann, muss die Lerntherapeutin einerseits Einsicht haben in ihre eigenen Wünsche, die ihre Reaktionsweise auf ihre Klienten als Rat suchende Subjekte mitbestimmen. Darum auch ist die eigene Therapie unabdingbares Element der Lerntherapie-Ausbildung.[24] Andererseits muss die Lerntherapeutin das Beziehungsgeschehen zwischen ihr und Sophia reflektieren und die sich wiederholenden Muster in den Sitzungen ansprechen. Das bedeutet eine Erweiterung respektive eine Verschiebung des Fokus: Im Zentrum des Gesprächs steht nicht mehr die konkrete Lernschwierigkeit, sondern das Subjekt. Die Lerntherapeutin thematisiert mit Sophia, wie sie sich in der aktuellen Situation verhält, bringt dabei auch eigene Beobachtungen und Eindrücke ein, fragt Sophia, was ihr selbst beim Arbeiten durch den Kopf geht, wie sich das Lernen für sie anfühlt. Diese Gespräche verlangen von der Lerntherapeutin Sensibilität und kommunikative Kompetenz, denn weder soll sich Sophia in einer Art Kreuzverhör fühlen, noch sollen die Beobachtungen der Lerntherapeutin als Vorwurf gehört werden. Grundsätzlich ist seitens der Lerntherapeutin wiederum Zurückhaltung angesagt. Statt Sophia mit einer auf Fachwissen beruhenden, lerntherapeutischen Hypothese zu konfrontieren, geht es vielmehr darum, einen Dialog zu initiieren, in dem sie über sich selbst zu sprechen beginnt und so auch einen reflektierenden Zugang zu ihrem Verhalten, ihren Wünschen und Ängsten finden kann.[25] Hier nähert sich das lerntherapeutische Gespräch dann auch einem psychotherapeutischen Gespräch an. Die Rolle der Lerntherapeutin besteht primär darin, Sophia sorgfältig zuzuhören, darauf zu achten, was sie sagt und wie sie es sagt. Im Verlauf der gemeinsamen Arbeit und des Gesprächs wird sich eine Spur verdichten, und dann ist es die Aufgabe der Lerntherapeutin, Sophia darauf aufmerksam zu machen und mit ihr an der zum Thema gewordenen Spur weiterzudenken. Dabei muss sich aber nicht nur die Klientin, sondern auch die Lerntherapeutin auf die entdeckende Suche einlassen, denn sie kann zwar eine vorläufige Hypothese zur Herkunft einer Lernschwierigkeit aufstellen, aber wirklich wissen, was der Grund und Sinn und Zweck einer Lernschwierigkeit ist, kann sie trotz all ihres Hintergrundwissens nicht. Ist die Lernschwierigkeit nämlich ein Symptom und hat als solches mit der Geschichte des Subjekts zu tun, so kann diese Schwierigkeit einzig im gemeinsamen Gespräch und Schritt für Schritt ent-deckt, ent-wickelt, präzisiert und verstanden werden.

4.3 Fazit

Die lerntherapeutische Arbeit – so das Fazit – basiert also auf Kenntnissen und Fertigkeiten aus verschiedenen Disziplinen und geht auch interdisziplinär vor. Nebst einem breiten Fach- und Methodenwissen aus dem Bereich Lerntechniken und -Methoden brauchen der Lerntherapeut und die Lerntherapeutin neuropsychologischen Wissen – als ein Beispiel sei das Wissen über Teilleistungsstörungen genannt –, wie auch Fachwissen aus weiteren Teilbereichen der Psychologie: Entwicklungspsychologie, pädagogische Psychologie, klinische Psychologie. Die konkrete Vorgehensweise ist jeweils vom Rat suchenden Subjekt und dessen Lernschwierigkeiten abhängig und ist folglich kaum je dieselbe, auch dann nicht, wenn die Lernschwierigkeit vordergründig dieselbe ist. Hinter Phänomenen wie fehlende Lernstrategien, Konzentrationsschwierigkeiten, Motivationsprobleme und Prüfungsangst steckt stets eine individuelle Geschichte, und genau für diese müssen die Lerntherapeutin und der Lerntherapeut offen sein, denn diese gilt es gemeinsam mit den Klienten zu entdecken.

Trotz der jeweiligen Einzigartigkeit jeder Lerntherapie gibt es dennoch Aspekte, die für jede Lerntherapie relevant sind. Authentizität, Empathie[26] und un-bedingte Wertschätzung[27] sind als sogenannt unspezifische Wirkfaktoren auch für die lerntherapeutische Arbeit unabdingbar, denn nur unter diesen Bedingungen kann sich das Rat suchende Subjekt mit seinen Schwierigkeiten gegenüber der Lerntherapeutin öffnen. Hinsichtlich der Wertschätzung ist es wichtig, das Adjektiv un-bedingt zu betonen, denn es kann sein, dass das von der Klientin anfänglich angestrebte Ziel der Leistungsverbesserung oder des Bestehens der Ausbildung sich im Verlauf der Lerntherapie ändert. Das kann gerade bei Jugendlichen und Adoleszenten der Fall sein, die manchmal – teils bewusst, teils unbewusst – von elterlichen Wünschen gesteuert sind, denen dann aber im Verlauf der Arbeit klar wird, dass dieses Ziel nicht wirklich das ihrige ist. Hält die Lerntherapeutin beharrlich am Ziel der Leistungsverbesserung fest und will die Klientin oder den Klienten von dessen Nutzen überzeugen, weil sie sich entweder dem elterlichen Auftrag verpflichtet fühlt oder weil sie das berufliche Selbstbewusstsein von den Leistungsverbesserungen und Ausbildungsabschlüssen der Klienten abhängig macht, übergeht sie das Subjekt und bringt es in seinen Wünschen zum Schweigen. Die Lerntherapeutin und der Lerntherapeut sind jedoch an erster Stelle dem Subjekt und nicht dem Auftrag verpflichtet, und das kann eben auch bedeuten, dass das ursprünglich formulierte Ziel aufgegeben werden muss. In solchen Situationen gilt es, mit allen Beteiligten nach neuen Wegen zu suchen.

Wenn Empathie, Authentizität und un-bedingte Wertschätzung zu den sogenannt unspezifischen Wirkfaktoren gehören und also für jegliche therapeutische Arbeit wichtig sind, so möchte ich zum Schluss nochmals auf das hinzuweisen, was für die lerntherapeutische Arbeit ganz zentral ist, nämlich das Reflektieren der supportiven Techniken, also der unterstützenden Massnahmen, im doppelten Sinne. Unsere Klienten und Klientinnen sind – aus welchen Gründen auch immer – mit Lernproblemen konfrontiert und sie erhoffen sich von uns Hilfe und Unterstützung im Bereich des Lernens. So arbeiten wir mit ihnen oftmals auch am konkreten Lerngegenstand und lassen hierbei unser Wissen aus den Bereichen Lerntechniken, Lernstrategien und -methoden einfliessen. Es kann einesteils durchaus sein, dass die Leistungsprobleme tatsächlich durch falsche oder fehlende Lerntechniken und Ähnliches hervorgerufen worden sind; in solchen Fällen wird das Rat suchende Subjekt sein Lernverhalten aber auch relativ schnell modifizieren können. Führen jedoch diese unterstützenden Massnahmen aus den Bereichen Lerntechnik, Lernstrategien, Lernmethoden zu keiner anhaltenden Verbesserung, wird das Reflektieren in seinem zweiten Sinne wichtig. Denn dies bedeutet, dass das Problem auf einen anderen, noch unbekannten Ort verweist. Und genau dafür muss die Lerntherapeutin offen sein: Für das bislang noch Fremde, das im Rat suchenden Subjekt wirkt und seinem Lernerfolg entgegensteht. Um zusammen mit seinem Gegenüber diesem Fremden auf die Spur zu kommen, muss der Lerntherapeut sorgsam darauf achten, wie sich das Rat suchende Subjekt in der lerntherapeutischen Interaktion verhält, wie es auf Vorschläge reagiert, was es sagt, was und wie es über sich selbst spricht. Genau diese Informationen weisen nämlich den Weg zum Verstehen des Problems. Und wenn einmal erkannt worden ist, woher die Lernschwierigkeiten kommen, dann kann in der Lerntherapie auch besprochen werden, was es braucht, damit die Lernschwierigkeiten gelöst werden können oder, falls dies nicht möglich ist, wie das Subjekt zumindest besser mit ihnen umgehen kann.

 

Literatur

Eckert, Jochen; Biermann-Ratjen, Eva-Maria & Höger, Dieter (Hrsg.): Gesprächspsychotherapie. 2. Auflage. Berlin: Springer, 2012.

Freud, Sigmund: Die Verdrängung. In: Ders.: Psychologie des Unbewussten. Studienausgabe. Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag, 1975, S. 103–118.

Kläui, Christian: Psychoanalytisches Arbeiten. Für eine Theorie der Praxis. 3., unveränderte Auflage. Bern: Hogrefe, 2015.

Kollbrunner, Jürg: Psychosoziale Beratung in Therapieberufen. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag, 2017.

Metzger, Armin: Lerntherapie in Theorie und Praxis. Bern/Stuttgart/Wien: Haupt Verlag, 2008.

5 Perspektiven der Sprachhandlungskompetenz

Herbert Günther

Der Mensch ist ein soziales und geselliges Wesen; er lebt nicht gern allein und isoliert, sondern bevorzugt Gemeinschaften und ist existenziell auf die Kommunikation mit anderen Menschen angewiesen. Das erleben und spüren wir gerade jetzt in der Corona-Krise mit dem Einhalten sozialer Distanz und den Abstandsregeln besonders intensiv. Die Sprache ist das wichtigste Medium der sozialen Interaktion und zwischenmenschlichen Kommunikation – dazu gibt es keine Alternative.

5.1 Einleitung

Wir sprechen eine Sprache und benutzen zwei Zeichensysteme: die gesprochene Sprache (Sprache) und die geschriebene Sprache (Schrift). Immer wieder befinden sich die lernschwachen Kinder und Jugendlichen in Sprachsituationen, genauer gesagt in schwierigen Sprachlern-Situationen, die sie bewältigen müssen. In diesen komplexen Sprachsituationen entsteht ein zunächst diffuser sprachlicher Handlungsbedarf. Um diese Sprachsituationen im Alltag und in der Lerntherapie zu meistern, brauchen die Kinder und Jugendlichen ein wirksames Instrument, die Sprachhandlungskompetenz, die sie zu kompetenten und erfolgreichen Handlungen befähigt. Die Sprachhandlungskompetenz ist innerhalb und ausserhalb der Lerntherapie das Werkzeug des und der Einzelnen und gilt als roter Faden durch das Leben, wenn es darum geht, Informationen und Wissen aufzunehmen, zu verarbeiten, zu verstehen und über verschiedene Medien hinweg zu verknüpfen. Sie besitzt einen typischen Doppelcharakter, da sie für die Lerntherapeutin und den Klienten gleichermassen relevant ist; sie wird benötigt, um die Angst zu überwinden, vor anderen frei zu sprechen, die Leseschwäche selbstwirksam zu meistern oder eine situativ bedingte Schreibblockade zu beseitigen. Im Folgenden wird die Sprachhandlungskompetenz aus mehreren Perspektiven betrachtet: der linguistischen Perspektive (Klärung wichtiger Begriffe), der gesellschaftlichen Perspektive (Informations-, Wissens- und Mediengesellschaft als Kontext), der arbeitstechnisch-lernmethodischen Perspektive (sprachlich-mediale Handlungsoptionen) und der didaktisch-therapeutischen Blickrichtung (Handlungsfelder der Sprachhandlungskompetenz).

5.2 Sprachwissenschaftliche Einlassungen

Für die Brauchbarkeit von Begriffen gibt es nach Eberhard (1987, S. 20) zwei Kriterien: Präzision und Konsistenz. Ein Begriff ist dann präzise, wenn ein Betrachter oder eine Betrachterin bei jedem Ereignis unterscheiden kann, ob es zum Begriff gehört oder nicht. Konsistent ist ein Begriff immer dann, wenn diese Zuordnung von allen Betrachterinnen und Betrachtern übereinstimmend vorgenommen wird. Die Verständlichkeit wissenschaftlicher Sätze hängt von der Verstehbarkeit der benutzten Begriffe ab. Ein Begriff ist dann verständlich, wenn klar ist, was er semantisch umgreift. Damit haben wir bereits ein erstes wichtiges Kernelement der linguistischen Perspektive erörtert: Die definitorische Klärung von benutzten Begriffen.

5.2.1 Zum Sprachbegriff

Die menschliche Sprache ist nach Fuchs und Bindel (2012, S. 177) in unserem Gehirn mit allen höheren psychischen Prozessen wie zum Beispiel der Wahrnehmung der Bewusstheit und des Gedächtnisses eng verknüpft. Alle Lernprozesse sind zudem gleichzeitig emotional, motorisch, sozial, kognitiv, kommunikativ und präsentativ aufeinander angewiesen – das ist ein entscheidender Vorgang beim Lernprozess selbst. Lernen wird als Änderung von offenen und verdeckten Verhaltensweisen aufgrund von Interaktionen mit der belebten und unbelebten Umwelt verstanden. Gerade die verdeckten und nicht identifizierten Lernprobleme führen in der Lerntherapie zu grossen Herausforderungen. Soziale Interaktionen, diverse Kommunikationsmöglichkeiten, insbesondere Sprache und Schrift, sind zentrale Medien des Lernens in allen Fächern und Lebenslagen. Die aktuelle Corona-Krise hat das Lernen, unser Verhalten und die Sprache stark beansprucht. Wir mussten aufgrund von täglichen Ansagen der Virologen und Politiker immer wieder dazulernen und unser Verhalten immer wieder neu ausrichten – privat, schulisch und beruflich. Die Sprachhandlungskompetenz ist eine individuelle Fähigkeit, die sich als roter Faden bewusst oder unbewusst durch unser gesamtes Leben zieht. Sie gehört zum therapeutischen Handwerkszeug der Lerntherapeutin in der Ausbildung und zieht sich ebenso durch die gesamte Lerntherapie. Durch die Entwicklung der Sprachhandlungskompetenz wird die Grundlage für das schulische Lernen und das Meistern sprachlicher Alltagssituationen gelegt.

5.2.2 Sprache und Schrift

Sprache und Schrift repräsentieren zwei Zeichensysteme, die uns die multilaterale Kommunikation in und mit den unterschiedlichsten Medien ermöglicht. Die gesprochene Sprache – auch Lautsprache, Oralität oder Mündlichkeit genannt – und die geschriebene Sprache – auch als Schriftsprache, Schriftdeutsch oder Literalität bezeichnet – werden weiterhin in Anlehnung an Koch und Österreicher (1994) in die mediale und konzeptionelle Mündlichkeit beziehungsweise Schriftlichkeit gegliedert. Schilcher (2010, S. 7) hat die Zusammenhänge in der folgenden Matrix dargestellt.


Mündlich Schriftlich
Medial Es wird gesprochen. Nähe Es wird geschrieben. Distanz
Konzeptionell Die Sprechweise folgt den Bedingungen mündlicher Sprache – siehe Schweiz. Nähe Der Schreibstil folgt den Bedingungen der Schriftsprache – siehe auch die Schweiz. Distanz

Abbildung 2:

Begriffsmatrix zur medialen beziehungsweise konzeptionellen Mündlichkeit und Schriftlichkeit

In der Sprachwissenschaft unterscheidet man zwischen «medialer» und «konzeptioneller» Mündlichkeit beziehungsweise Schriftlichkeit. «Medial» weist auf den Unterschied zwischen grafischer und akustischer Realisation hin; «konzeptionell» meint die gewählte Ausdrucksweise und damit die Nähe zur Schriftlichkeit oder Mündlichkeit. So ist ein Vortrag zwar medial mündlich, oft jedoch konzeptionell schriftlich, da er vorher schriftlich ausgearbeitet wurde. Im Chat oder der E-Mail wird zwar geschrieben, doch lehnt sich der Text meist an die gesprochene Sprache an. Emotionen werden oft über Emoticons oder Akronyme für Gefühlsregungen (lol = laughing out loud) zum Ausdruck gebracht, um Nähe zum Partner zu zeigen. Medial und konzeptionell mündliche Sprache demonstriert Nähe, dagegen markiert mediale und konzeptionelle Schriftlichkeit eher Distanz (vgl. Schilcher, 2010, S. 6). So kann eine Rede oder ein Vortrag der Lerntherapeutin vor Eltern und Lehrkräften medial mündlich, konzeptionell gleichwohl schriftlich sein, und umgekehrt kann eine SMS-Mitteilung medial schriftbasiert, aber konzeptionell mündlich sein. Prosodische und nonverbale Merkmale, die in der Face-to-Face-Kommunikation relevant sind, entfallen ganz beziehungsweise teilweise (Schäfer, 2014, S. 34).

5.2.3 Zum Begriffspaar Kompetenz und Performanz

Ein wichtiges Anliegen der Sprachwissenschaft ist die Unterscheidung des Doppelcharakters der Sprache als Besitz und Wissen einerseits und Vollzug und Anwendung dieses Wissen andererseits (Peuser, 1989, S. 60). In Anlehnung an den amerikanischen Linguisten Chomsky (1970) unterscheiden wir die Sprachkompetenz, das heisst, das der Person zur Verfügung stehende Sprachwissen als relativ kognitiv-abstraktes System, das eine muttersprachige Person (= native speaker) auszeichnet: Die Sprachperformanz meint die aktuelle Realisierung von Sprache aufgrund der zur Verfügung stehenden Kompetenz; damit entspricht die Performanz einem Teil der Kompetenz (Nodari, 2002, S. 2). Chomsky versteht unter Kompetenz das sprachliche Wissen eines Sprechers, welches das Individuum befähigt, prinzipiell eine unbegrenzte Menge von Wörtern und Sätzen zu sprechen, die das Kind vorher noch nie gehört hat. Hier haben wir ein erstes diagnostisches und therapeutisches Problem: «Aus der Kenntnis der Kompetenz lässt sich – ‹ohne Psychologie› – nicht die ‹psychologisch› verunreinigte oder fehlerhafte Performanz erschliessen» (vgl. Graumann, Orth & Rauh 1972, S. 13). Umgekehrt steht der Lerntherapeutin nur die tatsächliche Sprachverwendung als Ausgangspunkt ihrer Betrach tungen zur Verfügung, das heisst die Performanz wie zum Beispiel das sprachliche Register, der Satzbau und die benutzte Grammatik. Die Lerntherapeutin muss sich in der Lerntherapie mit der Realität des Sprachvollzugs, das heisst also nicht nur mit der Sprachkompetenz (Sprachwissen: Laute/Buchstaben, Wörter, Sätze, Texte), sondern auch mit der Sprachperformanz (Sprachkönnen: Hören, Sprechen, Lesen, Schreiben) auseinandersetzen. Nodari (2002, S. 2) weist auf ein wichtiges Problem hin: Bei zweisprachigen Menschen wird im einsprachigen Kontext, wie das beispielsweise ein Eignungstest darstellt, lediglich die Performanz einer der zwei beherrschten Sprache berücksichtigt. In der Deutschschweiz ist dies die deutsche Sprache mit dialektalen Einfärbungen. So wird die Erstsprache allerdings nicht bedacht und gewürdigt. Damit wird ein wesentlicher Teil von sprachlicher Kompetenz und Performanz der zweisprachigen Person nicht gewürdigt. Im Schichtenmodell von Peuser (1989, S. 61) ist unser Sprachwissen (= Sprachkompetenz) als eine Folge von Schichten modelliert, deren Einheiten «Phoneme/Grapheme», «Wörter», «Sätze» und «Texte» sind. Dieses Sprachwissen wird nun im Sprachvollzug durch die vier Kodierungen «Hören», «Sprechen», «Lesen» und «Schreiben» als Sprachperformanz aktualisiert. Die Sprachperformanz setzt aber auch die psychischen Fähigkeiten «Aufmerksamkeit», «Bewusstheit», «Gedächtnis» und «Wahrnehmung» voraus. Hinzu kommen neben dem verbalen Anteil der Kommunikation etliche nonverbale Kanäle und Komponenten, wie zum Beispiel Blickverhalten, Mimik, Gestik und Körperausdruck (Motsch, 1989, S. 79).