Schlittenfahrt ins Glück

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Nach ein paar Sekunden kam sie mit Neritas Briefmappe zurück.

Nerita klappte sie auf und fand tatsächlich noch einige Blätter von dem Briefpapier, in das Name und Adresse der Contessa, wie auch das Familienwappen eingraviert waren.

„Sie werden aber doch die Unterschrift der Contessa nicht fälschen, Miss Nerita?“ fragte Emily schockiert.

„Es bleibt mir leider nicht die Zeit, sie um ihre Erlaubnis zu bitten“, entgegnete Nerita. „Wie heißt doch noch das Sprichwort? Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß.“

„Schon“, sagte Emily. „Aber so etwas tut man einfach nicht.“

„Das mag sein, aber wir brauchen nun einmal dringend Zeugnisse, und deshalb stelle ich zwei aus - eines für Sie und eines für mich. Sie haben außerdem noch Ihre Zeugnisse von früher, Emily, und ich werde mir noch ein zweites schreiben und behaupten, daß ich bei meiner Großmutter als Gouvernante für ihre Enkelin angestellt war. Da Großmama nicht mehr lebt, kann man das nicht überprüfen.“

„Das kann Sie in die größten Schwierigkeiten bringen, Miss Nerita, wirklich!“

Nerita zuckte mit den Schultern. „Es wird schon gut gehen“, sagte sie zuversichtlich.

„Ganz abgesehen davon“, fuhr Emily fort, als habe sie Neritas Bemerkung nicht gehört, „nimmt Ihnen niemand ab, daß Sie schon angestellt gewesen sind. Dafür sehen Sie viel zu jung aus.“

„Da müssen wir aufpassen“, sagte Nerita. „Ich muß älter wirken, viel älter.“

„Das geht nicht. Und außerdem sind Sie zu hübsch.“

„Da haben Sie vielleicht recht“, sagte Nerita nachdenklich. „Ich erinnere mich noch gut daran, wie sich meine Eltern einmal über einen Vorfall bei irgendwelchen Freunden unterhalten haben. Ich weiß nicht mehr, worum es genau ging, aber Papa und Mama waren geteilter Meinung. Auf alle Fälle hat Papa im Verlauf des Gesprächs gesagt, daß sie, also irgendeine Frau, außerdem viel zu hübsch wäre für eine Gouvernante. Ich habe den Satz noch genau in den Ohren.“

„Sehen Sie!“ rief Emily. „Genau das sage ich ja auch. Sie sind viel zu hübsch für eine Gouvernante, Miss Nerita. Das glaubt Ihnen niemand und deshalb müssen Sie sich etwas anderes einfallen lassen.

„Es gibt keine andere Möglichkeit“, sagte Nerita. „Es sei denn, Sie wollen, daß ich Revuegirl werde. Die müssen ja hübsch sein.“

„Nur über meine Leiche, Miss Nerita“, entgegnete Emily prompt. „Aber wirklich!“ Sie schüttelte entsetzt den Kopf. „Noch ein Wort über eine Stellung bei der Bühne, und ich spreche mit Ihrem Onkel.“

„Das wäre gemein, Emily“, sagte Nerita lachend. „Aber ich glaube, die Bühne ist ohnehin nicht das Richtige für mich.“

Sie setzte sich vor den Frisiertisch und stellte die beiden Seitenspiegel so, daß sie sich von allen Winkeln sehen konnte.

„Wenn Sie mich nicht kennen würden, Emily, für wie alt würden Sie mich halten?“

„Für achtzehn“, antwortete Emily prompt.

„Das stimmt nicht“, sagte Nerita. „Achtzehnjährige Mädchen, die nicht so viel herumgekommen sind wie ich, sehen viel jünger aus. Denken Sie bloß an Lady Chelmfords Tochter, die über Weihnachten in Rom gewesen ist. Sie hat wie ein Kind ausgesehen.“

„Weil sie so klein ist und ein Babygesicht hat“, sagte Emily. „Sie sehen total anders aus, das stimmt, aber man schätzt Sie nicht älter als achtzehn. Seien Sie doch froh! Vor Ihnen liegt noch ein langes Leben.“

„Aber was für eines?“ fragte Nerita und zum ersten Mal hörte man Bitterkeit in ihrer Stimme.

Emily überging die Frage und Nerita konzentrierte sich wieder auf ihr Äußeres.

Sie zog sich die Haare glatt aus der Stirn und strich sie hinter die Ohren.

„Erinnern Sie sich noch an die englische Gouvernante in Paris?“ fragte sie. „Ich meine die abgehärmte Frau, die wir beim Herzog von Walwis getroffen haben? Sie hatte einen Knoten, der wie ein Nadelkissen ausgesehen hat.“ Nerita drehte sich um und lächelte. „Machen Sie mir bitte einen solchen Knoten, Emily. Ich möchte wissen, wie ich dann aussehe.“

„Ich denke nicht daran“, sagte Emily. „Geben Sie diese verrückte Idee endlich auf.“

„Das ist keine verrückte Idee“, protestierte Nerita. „Überlegen Sie doch bloß, wie phantastisch es wäre, wenn wir eine Stellung finden würden, bei der wir zusammenbleiben können. Wir wären unser eigener Herr und hätten Möglichkeiten, die wir hier nie haben.“

Emily sagte zwar nichts, aber Nerita sah ihr an, daß sie derselben Meinung war.

„Ich kämme mir die Haare streng nach hinten“, fuhr Nerita fort, „und setze eine Brille auf.“

„Eine Brille?“ wiederholte Emily. „Sie haben doch ausgezeichnete Augen.“

„Natürlich habe ich ausgezeichnete Augen, aber sie sehen nicht gouvernantenhaft aus. Sie sind viel zu auffällig. Wie wir damals mit Papa in Ägypten waren, da hatte ich doch eine Brille mit getönten Gläsern. Wegen der starken Sonne, erinnern Sie sich?“

„Ja, aber ich habe keine Ahnung, wo diese Brille ist, Miss Nerita.“

„Wenn Sie vermeiden wollen, daß ich unnötig Geld ausgebe, Emily, dann suchen Sie die Brille lieber.“

Mit einem Stöhnen, das ihre ganze Hilflosigkeit verriet, verschwand Emily wieder im Nebenzimmer.

Daß sie schon nach kurzer Zeit wieder zurückkam - mit der Brille -, war für Nerita der Beweis, daß sie genau gewußt hatte, wo sie hatte suchen müssen.

Nerita hatte inzwischen ihr Haar gelöst, hatte es zurückgebürstet und schlang es gerade zu einem strengen Nackenknoten.

Wenn ich erst einmal eine Stellung habe, dachte sie, dann kann ich ja mit der Zeit eine etwas weniger spröde Frisur machen.

Sie schnitt sich im Spiegel Grimassen zu und versuchte zu lachen, doch sie war den Tränen nahe, denn sie hatte plötzlich das Gefühl, dem allen nicht gewachsen zu sein.

Doch schon nach einer Sekunde hatte sie sich wieder unter Kontrolle. Sie mußte allein zurechtkommen, das war sie ihrem Vater schuldig, der alles getan hatte, um einen selbständigen Menschen aus ihr zu machen.

„Ich habe die Brille, Miss Nerita“, sagte Emily in ihre Gedanken hinein. „Aber nützen wird sie Ihnen nichts. Wenn Sie glauben, daß jemand eine Gouvernante anstellt, die schlecht sieht, dann irren Sie sich.“

Damit drückte sie Nerita die Brille in die Hand.

Neritas Vater hatte sie in Ägypten gekauft, und sie war weiß Gott kein Aushängeschild für ihren Hersteller: runde, in einem häßlichen Gelb getönte Gläser in einem einfachen Metallgestell.

Nerita setzte sie auf und sah sofort total verändert aus.

Wäre das Oval ihres Gesichts nicht so perfekt gewesen, ihre Nase nicht so gerade und der Schwung ihrer Lippen nicht so lieblich, sie hätte grotesk und wie ein Clown gewirkt.

„Wir behaupten einfach, daß es sich um eine momentane Entzündung handelt, die wieder vergeht“, sagte sie lächelnd. „Und jetzt bringen Sie mir bitte das schlichteste Hütchen, das ich besitze. Oder meinetwegen machen Sie von dem, das ich gestern aufhatte, die Federn ab, und wenn ich für das Vermittlungsbüro nicht die passende Jacke habe, müssen Sie mir bitte eine von Ihren leihen.“

„Das Ganze ist heller Wahnsinn!“ jammerte Emily.

„Vielleicht“, entgegnete Nerita. „Aber wir können nicht einfach hier sitzen und mit dem Schicksal hadern. Wir müssen etwas unternehmen. Und - wer nicht wagt, der nicht gewinnt - würde Papa sagen.“

2.

Nerita und Emily stiegen Ecke Mount Street aus der Mietkutsche, bezahlten und gingen das letzte Stück zu Fuß.

Noch in der Kutsche hatte Nerita den Gesichtsschleier abgenommen, damit die Hausangestellten am Belgrave Square nicht sehen konnten, wie seltsam sie frisiert war.

Und daß sie verschleiert ging, würde niemand wundern, hatte sie sich überlegt. Schließlich trug sie Trauer und man würde außerdem annehmen, daß sie nicht von irgendwelchen früheren Freunden erkannt werden wollte.

Jetzt blieb sie einen Moment vor einem Schaufenster stehen, nahm die Brille mit den getönten Gläsern aus der Handtasche und setzte sie auf.

Sie betrachtete das Gesicht, das sich in der Glasscheibe spiegelte und fand, daß selbst ihr eigener Vater sie nur schwer erkannt haben würde.

Sie trug ein tiefschwarzes Kostüm, von dem Emily den weißen Piquekragen abgetrennt hatte, und ein völlig schmuckloses schwarzes Hütchen, das ohne seine Federn und das Samtband trist und reichlich spießig wirkte.

Trotzdem konnte nichts die Farbe von Neritas Haar verändern, geschweige denn die außergewöhnliche Schönheit ihrer Augen, wenn sie die Brille nicht trug.

Seit dem Moment, in dem Nerita beschlossen hatte, das Vermittlungsbüro aufzusuchen, hatte sich Emily gegen diese Idee gesträubt.

Sie sei absurd, hatte sie immer wieder gesagt. Nerita könne sich der Vormundschaft ihres Onkels nicht entziehen und außerdem sei es verrückt, den eigenen Lebensunterhalt verdienen zu wollen.

Und Nerita hatte geduldig erwidert, und das zum x-ten Mal, daß nichts schiefgehen könne, wenn sie zusammen blieben, und Emily hatte schließlich selbst daran geglaubt, aber weiterhin protestiert.

„Sie können sich einreden, was Sie wollen, Miss Nerita“, hatte sie noch vor einer Stunde gesagt, „Sie bekommen keine Stelle als Gouvernante, wenn Sie mich im Schlepptau haben. Eine Gouvernante ist nun einmal nicht mit einer einfachen Hausangestellten befreundet.“

„Dann stelle ich mich eben als Kindermädchen vor“, hatte Nerita erwidert. „Allerdings laufe ich dann Gefahr, daß Sie als Zofe - und das sind Sie schließlich, Emily - auf mich herabsehen und kein Wort mit mir reden.“

Emily hatte gelächelt, aber es war ein wenig humorvolles Lächeln gewesen.

„Da haben Sie leider nur zu recht, Miss Nerita“, hatte sie gesagt. „Kammerzofen haben sich schon immer für etwas Besseres gehalten und legen größten Wert darauf, daß sie der jeweiligen Herrin entsprechend am Tisch der Dienstboten den gebührenden Platz einnehmen.“

 

Nerita hatte gelacht. „Daran habe ich natürlich nie gedacht“, hatte sie gesagt. „Arme Emily! Nachdem Papa lediglich ein ganz gewöhnlicher Adeliger gewesen ist, haben Sie wahrscheinlich nie rechts vom Butler gesessen.“

„Zumindest nicht oft“, hatte Emily zugegeben. „Wir waren ja meistens in Häusern zu Gast, wo es von Herzoginnen, Marquisen und Gräfinnen nur so gewimmelt hat.“

Wieder hatte Nerita lachen müssen.

„Vielleicht nimmt uns eine Herzogin in ihren Dienst“, hatte sie gesagt. „Dann kommen Sie endlich einmal zu Ihrem Recht.“ Sie hatte überlegt. „Und als Kindermädchen, wo sitze ich dann?“ hatte sie gefragt.

Emily hatte sie verständnislos angesehen.

„Als Kindermädchen könnten Sie nicht mit mir befreundet sein, Miss Nerita“, hatte sie entgegnet. „Höchstens als Kinderfräulein.“

Die beiden hatten sich angesehen.

„Aber natürlich!“ hatte Nerita gerufen. „Das hatte ich völlig vergessen. Nachdem meine geliebte Kinderfrau in den Ruhestand ging, kam ja erst einmal Miss Crew zu uns, und dann wurde erst Miss Gregory engagiert, die ich nie gemocht habe.“

Sie hatte die Arme um Emily gelegt und sie an sich gedrückt.

„Wie schlau Sie sind, Emily“, hatte sie gesagt. „Das ist die Antwort auf das Problem. Ein Kinderfräulein ist immer jung, weil es mit den Kleinen spielen und sie beschäftigen muß.“

„Aber es darf nicht zu jung sein“, hatte Emily erwidert.

„Wie alt war denn Miss Crew?“

„Sie war vor meiner Zeit bei Ihnen, Miss Nerita, aber ich glaube, sie war so an die fünfundzwanzig.“

„Dann bin ich eben auch fünfundzwanzig“, hatte Nerita erklärt. „Jawohl - fünfundzwanzig. Und jetzt schnell die Zeugnisse.“

„Da muß ich ja richtig stolz auf mich sein“, hatte Emily gesagt, als sie es gelesen hatte.

„Und nicht ein Wort ist übertrieben“, hatte Nerita entgegnet. „Wenn ich noch einen Satz dazusetzen könnte, dann würde ich betonen, daß ich mir ein Leben ohne Sie nicht mehr vorstellen kann.“

„Oh Miss!“

Emily hatte sich schnell abgewandt, um die Tränen zu verbergen, die ihr in die Augen stiegen.

Auch mit dieser letzten Bemerkung hatte Nerita nicht übertrieben. Der einzige Mensch, den sie auf dieser Welt noch hatte und mit dem sie besprechen konnte, was sie dachte und fühlte, war Emily.

Das Haus am Belgrave Square und seine Bewohner haßte sie bereits.

Obwohl sie wußte, daß ihr Onkel es auf seine Weise gut mit ihr meinte, spürte sie, daß sie nicht willkommen war.

Und so schob Nerita jetzt die Brille zurecht und ging mit Emily weiter, bis sie vor dem Emailleschild über einer offenen Haustür wieder stehenblieben.

MRS. DALE VERMITTLUNGSBÜRO 1. STOCK

Sie betraten das Haus.

Im Flur hing ein Anschlag, der Genaueres besagte.

MRS. DALE VERMITTELT ERSTKLASSIGE, ERFAHRENE HAUSANGESTELLTE, WIE AUCH SEKRETÄRINNEN UND SEKRETÄRE, MAJOR-DOMOS, GOUVERNANTEN, KINDERFRÄULEINS UND KUTSCHER.

Mit einem leicht amüsierten Lächeln auf den Lippen stieg Nerita mit Emily die Treppe zum ersten Stock hinauf.

Auf einer Glastür stand derselbe Aufdruck wie auf dem Emailleschild über der Haustür. Dahinter lag ein großer Raum mit Bänken an drei Wänden.

Kaum ein Platz war frei, und alles, was man sich nur an Dienerschaft vorstellen konnte, war vertreten, vom rotbackigen Mädchen, das offensichtlich gerade vom Land hereingekommen war, angefangen bis zum alten, ausgedienten Butler, der sich aus irgendwelchen Umständen immer noch nicht zur Ruhe setzen konnte.

Nerita wußte von Emily, daß Mrs. Dale in einem Büro saß, das an den Warteraum angrenzte. Sie ging Schnurstracks darauf zu und machte die Tür auf.

Der Raum war klein. An einem Schreibtisch saß eine Frau mittleren Alters mit einer roten Perücke und einem nicht gerade sympathischen Gesicht, dessen harter, schmallippiger Mund als erstes unangenehm auffiel.

Sie musterte Nerita auf schier beleidigende Weise von oben bis unten, dann geschah dasselbe mit Emily.

Plötzlich war ihr scharfer Ausdruck wie weggewischt. Offensichtlich hielt sie Nerita für jemand, der nicht Arbeit suchte, sondern einen Dienstboten.

„Kann ich Ihnen helfen?“ fragte sie mit fast unterwürfiger Stimme.

„Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar“, antwortete Nerita ruhig. „Meine Freundin und ich suchen eine gemeinsame Stellung.“

„Alle beide?“

Der Ton Mrs. Dales war plötzlich herablassend und scharf.

„Ja“, erwiderte Nerita. „Ich bin Kinderfräulein und meine Freundin, Miss Emily Henson, ist eine äußerst erfahrene Kammerzofe.“

„Und wieso wollen Sie zusammen in einem Haus arbeiten?“

„Weil wir uns schon von klein auf kennen und aus demselben Dorf stammen.“

Mrs. Dale setzte eine Miene auf, als sei das ein Manko. Sie klappte einen Ordner auf, der vor ihr auf dem Schreibtisch lag.

„Ich nehme an, Sie haben Zeugnisse?“

„Natürlich“, sagte Nerita.

Sie reichte Mrs. Dale das Zeugnis, das angeblich die Contessa da Santa Marco geschrieben hatte.

Mrs. Dale las es, und Nerita sah ihr sofort an, wie beeindruckt sie war. Das eingravierte Wappen und die elegante Ausdrucksweise, derer sich Nerita bedient hatte, verfehlten nicht ihre Wirkung, aber Mrs. Dale äußerte sich vorerst nicht dazu.

„Meine Freundin“, sagte Nerita nach einer Weile, „hat ebenfalls ein Zeugnis der Contessa.“

„Ist das die einzige Stellung, die Sie bisher hatten?“ fragte Mrs. Dale.

„Ich war kurze Zeit bei Lady Mowbray“, erklärte Nerita. „Sie starb dann leider. Aber Miss Henson ...“

„Sie wird doch wohl selbst reden können, oder?“ fiel ihr Mrs. Dale ins Wort.

„Sicherlich, Madam“, sagte Emily sofort. „Ich war bei der Marquise von Londonderry und der Gräfin de Grey in Stellung. Die Zeugnisse habe ich bei mir.“

Sie beeindruckten Mrs. Dale offensichtlich mehr als das der Contessa, die schließlich Ausländerin war.

„Warum sind Sie nicht bei der Gräfin de Grey geblieben?“ fragte sie, nachdem sie die Zeugnisse aufmerksam gelesen hatte.

„Weil ich mich um meine kranke Mutter kümmern und sie pflegen mußte“, antwortete Emily. „Nach ihrem Tode habe ich die Stellung in Rom angenommen, weil ich auch einmal im Ausland sein wollte.“

In Wahrheit war sie mit Nerita erst einmal nach Paris gereist.

„Sehr zufriedenstellende Referenzen“, stellte Mrs. Dale in einem Ton fest, als koste es sie große Mühe, ein Lob auszusprechen. „Es dürfte nicht schwierig sein, Ihnen eine Stellung zu vermitteln.“ Sie blätterte in ihrem Ordner. „Hier habe ich eine Lady“, fuhr sie schließlich fort, „sie gehört zur crème de la crème und sucht eine Kammerzofe, die perfekt frisieren kann. Und hier habe ich noch jemand, dem es auf gutes Packen ankommt. Und Seereisen darf die entsprechende Angestellte nicht fürchten.“

„Ich möchte aber im selben Haus arbeiten wie Miss Graham“, sagte Emily stur.

Nerita hatte sich für den Namen Graham entschieden, weil sie fand, daß er passend war für eine Gouvernante und respektierlich klang.

Mrs. Dale konsultierte ihren Ordner.

„Aha“, sagte sie schließlich. „Hier habe ich etwas. Zwei Hausangestellte werden verlangt.“ Sie sah hoch und runzelte die Stirn. „Wenn ich Sie zu einem sehr wichtigen Kunden schicke, dann enttäuschen Sie mich hoffentlich nicht.“

„Wir werden unser Bestes tun“, entgegnete Nerita.

„Ihnen sagt die Stellung wahrscheinlich zu, Miss Graham“, fuhr Mrs. Dale fort. „Gesucht wird ein Kinderfräulein für einen sechsjährigen Jungen. Was jedoch Ihre Freundin anbelangt, so ist das vielleicht nicht ganz das Passende.“

„Warum nicht?“ fragte Nerita.

„Weil eine Kammerzofe für Gäste gesucht wird“, erklärte Mrs. Dale. „Also Damen, die zu Besuch kommen und keine eigene Zofe mitbringen.“

Emily wußte, was das hieß. Wenn sie die Stellung annahm, war sie nicht viel mehr als ein besseres Hausmädchen. Da sie aber um jeden Preis mit Nerita zusammenbleiben wollte, wäre sie auch bereit gewesen, Böden zu schrubben und niedere Dienste zu erledigen.

„Ich denke, die Stellung würde mir schon zusagen“, erklärte Emily daher schnell.

„Der Lohn ist aber nicht so hoch wie bei den Damen, von denen ich zuerst gesprochen habe“, sagte Mrs. Dale. „Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, dann verzichten Sie auf diese Freundschaft, die Sie nur Geld kostet.“

„Vielen Dank, Madam“, entgegnete Emily, „aber ich möchte wirklich mit Miss Graham zusammenbleiben.“

„Wie Sie meinen“, entgegnete Mrs. Dale in spitzem Ton. Sie schien es nicht gewöhnt zu sein, daß man sich nicht nach ihren guten Ratschlägen richtete. „Wenn es Ihnen recht ist, verabrede ich für Donnerstag einen Vorstellungstermin bei dem Marquis von Wychbold.“ Sie setzte eine gewichtige Miene auf. „Wych Park ist eines der größten Häuser in England. Und eines der einflußreichsten! Ich schreibe Ihnen die Adresse auf und gebe dem Verwalter, Major Marriott, Bescheid, damit man Sie am Bahnhof abholt.“

Sie nahm einen Zettel und schrieb die Adresse auf. Nerita nutzte den Moment und sah Emily an.

Diese schüttelte den Kopf.

Nerita begriff sofort, daß Emily die Stellung nicht annehmen wollte, aber sie selbst war fest entschlossen, sich nicht eine Gelegenheit entgehen zu lassen.

Außerdem glaubte sie Mrs. Dale, wenn diese sagte, daß es schwierig sei, zwei Angestellte in ein und demselben Haus unterzubringen.

„Ich nehme an, Sie können das Fahrgeld auslegen“, fuhr Mrs. Dale jetzt fort. „Es wird Ihnen in jedem Fall von Major Marriott zurückerstattet, der sich mit Ihnen unterhalten und prüfen wird, ob Sie für die Stellungen geeignet sind.“

Sie gab Nerita die Adresse.

„Müssen Sie eigentlich diese Brille tragen, Miss Graham?“ fragte sie dann.

„Im Moment ja“, antwortete Nerita. „Leider, wegen einer Bindehautentzündung.“

„Auf ein kleines Kind wirkt das beängstigend“, sagte Mrs. Dale. „Und tragen Sie nicht schwarz. Kinder mögen diese Farbe nicht. Die Herzogin von Marlborough hat vor Jahren einmal zu mir gesagt, schwarz sei abscheulich und erinnere sie immer an Krähen.“

„Tatsächlich?“ fragte Nerita höflich.

„Nun ja“, überging Mrs. Dale die Bemerkung. „Ich hoffe, daß man mit Ihnen zufrieden sein wird. Falls nicht, dürfte es schwierig sein, etwas zu finden, wo man Sie beide einstellt. Das kommt schließlich nicht täglich vor.“

„Natürlich nicht“, sagte Nerita. „Und vielen Dank.“

Damit ging sie zur Tür und öffnete sie.

„Sie kann ich immer unterbringen“, hörte sie Mrs. Dale in ihrem Rücken zu Emily sagen. „Falls Ihnen die Stelle nicht gefällt, dann kommen Sie an Ihrem freien Tag zu mir, und ich werde sehen, was ich für Sie tun kann.“

„Vielen Dank, Madam“, erwiderte Emily.

Sie folgte Nerita durch den äußeren Raum, in dem mittlerweile noch mehr Leute waren als vorher.

Bereits auf der Treppe meldete Emily ihre Bedenken an.

„Also, Miss Nerita“, sagte sie und hob einen Zeigefinger in die Höhe. „Nach Wych Park gehen wir unter keinen Umständen. Sie haben doch gesehen, daß ich den Kopf geschüttelt habe. Das sollte heißen, daß Sie ablehnen müssen.“

„Das habe ich begriffen, Emily“, entgegnete Nerita, „aber wir haben doch keine andere Wahl, wenn wir zusammenbleiben sollen. Außerdem - was stört Sie denn an Wych Park?“

„Der Besitzer“, sagte Emily prompt. „Der Marquis. In seinem Haus zu leben, ist für Sie ein Ding der Unmöglichkeit.“

„Ich werde dort nicht leben, Emily, sondern arbeiten, und das ist ein großer Unterschied.“

„Das ist es ja gerade“, sagte Emily und schüttelte den Kopf.

„Was wollen Sie damit sagen, Emily?“ fragte Nerita.

„Daß ich leider schon oft genug gehört habe, wie über den Marquis geredet worden ist. Als ich noch bei der Gräfin de Grey gewesen bin, hat sie pausenlos versucht, ihn zu ihren Partys zu locken. Sie hat schließlich auch erreicht, was sie in Wirklichkeit damit bezweckt hat.“

Nerita hatte Emily schon oft von der Gräfin de Grey sprechen hören.

Sie war eine der schönsten Frauen Londons und wohl die Frau, über die am meisten geredet wurde. Daß sich das Gerede fast ausschließlich um irgendwelche Flirts drehte, verstand sich von selbst.

Und einer dieser Flirts war offensichtlich der Marquis von Wychbold. Das hatte Nerita bisher zwar nicht gewußt, aber sie hatte sich noch nie für Gesellschaftsklatsch interessiert und interessierte sich in ihrer augenblicklichen Lage erst recht nicht dafür.

 

„Sie müssen auf mich hören, Miss Nerita“, fuhr Emily fort. „Am besten machen wir gleich auf dem Absatz kehrt, gehen noch einmal zu der unangenehmen Person rauf und sagen ihr, daß sie uns eine andere Stelle vermitteln soll.“

„Aber Emily!“ stöhnte Nerita. „Sie hatte doch kein zweites Angebot. Ich meine, keine Adresse, wo gleich zwei Stellen besetzt werden müssen. Was ist denn so schlimm an diesem Marquis?“

„Ich habe nicht behauptet, daß etwas schlimm an ihm ist, Miss Nerita. Ich sage lediglich, daß es sich für Sie nicht schickt, in ein Haus zu gehen, in dem es keine Herrin gibt.“

„Wie alt ist der Marquis denn?“

„Das weiß ich nicht genau“, antwortete Emily. „So um die dreißig, glaube ich. Vielleicht auch jünger.“

„Warum ist er dann nicht verheiratet?“

„Das ist er ja.“

„Was soll denn dann die ganze Aufregung?“ fragte sie. „Und warum hat man Ihnen nicht die Stelle angeboten, die Ihnen gebührt? Ich meine, als Kammerzofe der Marquise?“

„Weil sie nicht da ist“, erklärte Emily.

„Moment, Emily“, sagte Nerita. „Jetzt erzählen Sie mir alles einmal ganz genau und ohne irgendwelche Komplikationen.“

„Ich habe bloß gehört, daß der Marquis und die Marquise nie zusammen ausgekommen sind.“

„Warum haben sie geheiratet?“ fragte Nerita und wußte im selben Augenblick, daß es eine dumme Frage war.

In Adelskreisen wurde im allgemeinen aus Vernunftsgründen geheiratet.

„Ich kann bloß wiedergeben, was man mir erzählt hat“, sagte Emily, als müsse sie sich verteidigen. „Der Marquis hat die Marquise geheiratet, weil er sie glühend geliebt hat. Seine Eltern sollen dagegen gewesen sein.“

„Das ist allerdings ungewöhnlich!“ rief Nerita.

„Sie soll halb Italienerin und sehr schön sein.“

„Und warum sind sie nicht zusammen ausgekommen?“ fragte Nerita.

„Das weiß ich nicht“, antwortete Emily. „Ich habe bloß gehört, daß es so gewesen sein soll und daß sie England wieder verlassen hat und sich scheiden lassen wollte, aber das hat der Marquis abgelehnt.“

„Wahrscheinlich, weil er den Skandal vermeiden wollte“, sagte Nerita nachdenklich.

Sie mußte daran denken, wie schockiert ihre Eltern immer gewesen waren, wenn von einer Scheidung die Rede war.

„Das vermute ich auch, Miss Nerita“, entgegnete Emily. „Aber schon lange ehe er wieder sozusagen Junggeselle war, sind die Frauen hinter ihm her gewesen, und der Klatsch um seine - na ja, Sie wissen schon, was ich meine - seine Dings ist nie abgerissen.“

Nerita lächelte. Sie wußte, was Emily mit „Dings“ meinte.

„Demnach nehme ich an“, sagte sie, „daß der Marquis ein Kinderfräulein für seinen mutterlosen Sohn sucht.“

„Genauso wird es sein, Miss Nerita“, sagte Emily. „Es ist an die sechs Jahre her, zu der Zeit habe ich davon gehört, aber der Marquis ist schon vorher hinter anderen Frauen her gewesen.“

Das mochte verwerflich sein, überlegte Nerita, aber ungewöhnlich war es nicht.

Die Gesellschaft hatte, wie sie wußte, ihre eigene Moral und ihre eigenen ungeschriebenen Gesetze.

Der Prinz of Wales hatte diese Moral grundlegend geändert.

Neritas Vater hatte oft darüber gelacht, wie mühelos die sogenannte Gesellschaft vom prunkvollen Puritanismus einer Königin Victoria und eines Prinzen Albert zum ausschweifenden Leben derer übergelaufen war, die sich um den Prinzen von Wales scharten und sich seine Freunde nannten.

Obwohl ein junges Mädchen nicht zu wissen hatte, was in den Salons vor sich ging, die von dem Prinzen und seinen Freunden frequentiert wurden, machte Nerita diesbezüglich eine Ausnahme. Ihre Eltern hatten sie nie wie ein unmündiges, naives Kind behandelt und waren klug genug gewesen, ihr die sogenannte heile Welt gar nicht erst glaubhaft machen zu wollen.

Aber nicht nur in England wurde über den Prinzen von Wales geredet.

Auch in Paris und Rom erzählte man sich die unglaublichsten Geschichten und schüttelte die Köpfe.

Affären zu haben war in Mode gekommen.

Nerita konnte verstehen, daß Emily sie vor allem bewahren wollte, was gegen die alten Regeln der Moral verstieß, doch sie sah in all dem kein Problem.

Schon vor langer Zeit hatte sie mit ihrem Vater darüber gesprochen, und dieser hatte ihr erklärt, daß ein junges Mädchen nicht zu fürchten brauche, in eine Affäre hineinzuschlittern.

„Affären“, hatte er gesagt, „sind etwas für reife Frauen. Wer auch nur die Spur eines Gentleman in sich hat, versucht nicht, ein junges, unverheiratetes Mädchen zu verführen.“

„Aber macht es denn den Leuten nichts aus, wenn ihre Ehepartner untreu sind, Papa?“ hatte Nerita gefragt.

Ihr Vater hatte überlegt.

„Doch“, hatte er schließlich geantwortet. „Natürlich gibt es gebrochene Herzen und sehr oft einen verletzten Stolz, aber gewissermaßen ist das Ganze eine Art Spiel mit feststehenden Regeln. Und die Regel Nummer eins lautet: alles, bloß keinen Skandal.“

„Und keine Scheidung“, hatte Nerita hinzugesetzt.

„Natürlich nicht“, hatte ihr Vater gesagt. „Etwas Entwürdigenderes gibt es nicht, sowohl für die Ehepartner, als auch für ihre Familien und die Gesellschaft als solche.“

Wieder hatte er erst überlegt, ehe er weitergesprochen hatte.

„Weißt du, Nerita“, hatte er schließlich gesagt, „das Problem unserer Generation ist, daß sowohl die Männer als auch die Frauen zu wenig zu tun haben. Die Männer reiten und jagen, angeln und spielen Karten, aber sie strengen sich geistig nicht weiter an, und das ist immer ein Fehler.“

„Ist das der Grund, warum der Prinz von Wales ...“

„Der Prinz“, hatte ihr Vater sie unterbrochen, „ist von seiner Mutter miserabel behandelt worden. Nicht die geringste Verantwortung hat sie auf ihn übertragen. Nicht einmal Staatspapiere darf er einsehen. Es ist eine Schande! Und so vertreibt er sich eben die Zeit damit, daß er sich amüsiert - und Amüsement bedeutet im allgemeinen Frauen und Glücksspiel.“

Ihr Vater hatte gelächelt.

„Diese Dinge sollte ich eigentlich gar nicht mit dir diskutieren, Nerita“, hatte er hinzugefügt. „Du bist im Grunde viel zu jung, aber du verfügst über eine Intelligenz, die den meisten Frauen abgeht, selbst wenn sie doppelt so alt sind wie du.“

„Vielen Dank, Papa“, hatte Nerita entgegnet. „Ich versuche, das alles zu verstehen, hoffe aber, daß ich, wenn ich einmal verheiratet bin, keine Zeit für Affären haben werde, sondern mich für Dinge interessiere, die das Leben lebenswert machen.“

Ihr Vater hatte zärtlich einen Arm um ihre Schultern gelegt.

„Das ist die richtige Einstellung zum Leben, mein Liebling“, hatte er erwidert, „und ich hoffe zu Gott, daß es dir gelingen möge. Die Liebe ist jedoch eine Macht, die uns plötzlich begegnet, wenn wir absolut nicht damit rechnen, und auch der erfahrenste Frauenheld ist nicht dagegen gefeit.“

„Wenn ich einmal heirate“, hatte Nerita gesagt, „dann nur einen Mann, den ich abgöttisch und mein Leben lang liebe.“

„Ich wünsche dir von Herzen, daß du diese Liebe findest“, hatte ihr Vater entgegnet. „Du bist nicht nur ein sehr schönes, sondern obendrein ein sehr gescheites Mädchen und ich sehe daher keinen Grund, warum du enttäuscht werden solltest.“

Obwohl ihr Vater sehr zuversichtlich geklungen hatte, hatte Nerita geglaubt, daß er selbst an seinen Worten zweifelte.

Sollte es die Liebe, von der sie träumte, überhaupt nicht geben? hatte sie sich gefragt.

In Paris sprach alles von Liebe, aber was war das für eine Liebe? Sie hatte nicht im entferntesten etwas mit dem zu tun, was sie darunter verstand.

Und die jungen Adeligen in Rom mit ihren dunklen, gefühlvollen Augen und den übertrieben poetischen Komplimenten machten die Liebe zu etwas so Alltäglichem, wie den Mondschein und die Musik, die so unzertrennbar zu ihrer Rasse gehörten.

Manchmal fragte sich Nerita, ob sie vielleicht zu viel vom Leben erwartete und eines Tages die trübe Erfahrung machen mußte, daß sie sich Träumen hingegeben hatte, die nicht zu verwirklichen waren.

„Es hat keinen Sinn“, sagte sie jetzt zu Emily, „von vornherein gegen Wych Park eingestellt zu sein. Wir lassen es darauf ankommen, und wenn die Sache schiefgeht und wir es dort nicht aushalten, dann kehren wir einfach reumütig zurück, entschuldigen uns und sagen, daß wir unseren Fehler einsehen.“

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