Heimliche Liebe

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„Hatte ich nicht einen Unfall?“

„Mach dir darüber jetzt keine Gedanken“, bat ihre Tante. „Ruhe dich noch ein bißchen aus.“

Als sie das nächste Mal erwachte, war es Abend geworden, und sie befand sich im Haus. Ihr Zimmer war klein und hatte eine niedere Decke; freundliche Chintzvorhänge hingen vor dem Fenster. Obwohl es Sommer war, brannte ein Feuer im Kamin. Soeben erhob sich ihre Tante, die daneben gesessen hatte.

„Meinst du, du könntest jetzt ein bißchen Suppe essen?“

Nachdem Virginia einen ganzen Teller geleert hatte, fühlte sie sich merklich besser.

„Ich freue mich, daß du bei mir bist, Tante Ella May“, sagte sie. „Ich habe manchmal an dich gedacht, leider hast du uns in New York nie besucht.“

„Ich hatte meine Gründe“, kam die freundliche Antwort.

Langsam kehrte die Erinnerung zurück, und Virginia hörte wieder die ärgerliche Stimme ihres Vaters, die bösen Worte ihrer Mutter und zuschlagende Türen. Gleich darauf verließ die Tante mit Tränen in den Augen, aber hoch erhobenen Hauptes das Haus.

„Haben dich meine Eltern aus dem Haus gejagt?“ fragte sie.

„Ja, mein Liebes. Ich wollte einen Mann heiraten, der ihnen nicht paßte. Zu deiner Hochzeit bin ich nur deshalb gekommen, weil deine Mutter persönlich mich dazu eingeladen hatte.“

Virginia war einen Moment ganz ruhig, dann sagte sie wie zu sich selbst: „Meine Hochzeit! Die hatte ich ganz vergessen. Mein Kopf tat so schrecklich weh, das kam sicher von der großen, häßlichen Tiara.“

„Durch deinen Sturz fiel sie herunter und rollte über den Boden“, erzählte die Tante.

Virginia mußte lachen.

„Mama nannte das Ding eine Krone“, sagte sie, verstummte aber plötzlich. „Was ist mit Mama?“ fragte sie ängstlich. „Sie wird furchtbar böse auf mich sein, daß ich krank geworden bin. Wie kommt es überhaupt, daß sie mich zu dir gelassen hat?“

Ihre Tante erhob sich von der Bettkante, auf der sie gesessen hatte.

„Darüber reden wir ein andermal, Kind.“

„Aber ich möchte es jetzt gern wissen. Nicht wahr, sie ist wütend?“

„Ich sollte dich eigentlich nicht aufregen“, sagte Tante Ella May mit ihrer sanften Stimme. „Deine Mutter kann nicht mehr böse sein, liebe Virginia, sie ist tot.“

Virginia sah sie überrascht an.

„Tot?“ wiederholte sie. „Und ich dachte immer, sie könnte niemals sterben. Sie wirkte so stark und unverwüstlich. Das ist wohl auch der Grund, warum ich bei dir bin.“

„Ja, Liebes. Nach deinem Zusammenbruch wurde deine Mutter maßlos wütend. Sie war der Meinung, du hättest nur Theater gespielt, um die Gäste nicht begrüßen zu müssen. Als sie die Tiara auf dem Boden entdeckte, tobte sie wie eine Wahnsinnige. Und ihre Wut kannte keine Grenzen, als sie sehen mußte, wie schwer es war, dich aufzuheben.“

„Bitte sprich weiter“, sagte Virginia ruhig.

„Nachdem man dich endlich in ein Nebenzimmer gebracht hatte, schrie sie laut, die Hochzeit müsse weitergehen. Virginia wird sich wieder zu uns gesellen, sobald sie sich erholt hat. In der Zwischenzeit soll jemand bei ihr bleiben, wer, ist mir völlig egal, rief sie hysterisch. In diesem Augenblick trat ich in Erscheinung. Ich kümmere mich um sie, schlug ich vor.

Gut, daß du da bist, sagte deine Mutter. Als ausgebildete Krankenschwester hast du ja Übung in Krankenpflege. Bring mir das Mädchen so schnell wie möglich wieder auf die Beine. Damit rauschte sie aus dem Raum.

Als ich dich untersuchte, wurde mir klar, daß das für lange Zeit nicht möglich sein würde. Die Ärzte, die man sofort gerufen hatte, wußten eine Menge hochtrabender Namen für deine Krankheit. Ich werde es dir so einfach wie möglich erklären“, fuhr die Tante fort. „Jahrelang hatte man dich wie eine Gans gestopft und deinen ganzen Körper vergiftet. Zucker, Sahne, Süßigkeiten und schweres Essen hatten aus deinem jungen, kräftigen Körper einen Berg ungesunden Fleischs gemacht. Das konnte dein Herz nicht mehr verkraften. Dazu kam der Kummer über deine erzwungene Heirat. Du brachst zusammen und bekamst das, was man landläufig ein Nervenfieber nennt.“

Virginia stieß einen leisen Schrei aus.

„Meinst du damit, daß ich verrückt geworden bin?“

„Sagen wir mal, geistig verwirrt“, verbesserte ihre Tante. „In deinen Fieberphantasien sprachst du ständig über Geld, ein Wort, das ich nie leiden konnte und das ich inzwischen verabscheue.“

„Als ich bei meiner Hochzeit zu Boden stürzte, dachte ich, ich würde unter lauter Gold begraben“, erklärte Virginia. „Daran kann ich mich noch genau erinnern. Und dann fiel zu allem Übel auch noch der Kuchen auf mich.“

„Dieses schreckliche Gebilde aus weißem Zucker!“ Ihre Tante lachte. „Das war das Beste, was damit passieren konnte.“

„War Mama nicht außer sich, als ich nicht zu der Gesellschaft zurückkehrte?“ fragte Virginia.

„So kann man es nennen“, stimmte Tante Ella May zu. „Sie war es in solchem Maße, daß sie noch in derselben Nacht einen Schlaganfall erlitt, von dem sie sich nicht mehr erholte.“

„Oh nein“, Virginia weinte. „Die arme Mama. Ich muß eine schreckliche Enttäuschung für sie gewesen sein.“

„Das warst du vermutlich wirklich.“

„Dabei hat sie mich nie wirklich geliebt“, sagte das Mädchen. „Wenn sie davon sprach, sie hätte mich zu sehr verwöhnt, bedeutete das lediglich, daß sie mir Geschenke gab, wenn ich mich nach ihren Wünschen richtete. Vermutlich wird es dich schockieren, Tante Ella May, aber ich kann über ihren Tod nicht besonders traurig sein. In ihrer Gegenwart hatte ich immer das Gefühl, ersticken zu müssen.“

„Man soll über Tote nichts Böses sprechen“, meinte die Tante. „Aber ich glaube, selbst ihre besten Freunde müßten zugeben, daß sie eine schwierige Frau war. Sie trieb auch deinen Vater so lange an, bis er Multimillionär war und unter dieser Last schließlich zusammenbrach. Und mit dir hat sie es nicht anders gemacht.“

Virginia sah zu Boden.

„Was geschah mit ihm?“ flüsterte sie.

„Mit deinem Ehemann? Er war der einzige, der in dem allgemeinen Durcheinander einen kühlen Kopf behielt. In einem Zimmer lagst du, im anderen deine Mutter. Alles rannte durcheinander und machte die blödsinnigsten Vorschläge. Rechtsanwälte, Ärzte und Verwandte tauchten auf und verschwanden wieder. Es war fast unmöglich, irgendetwas zu organisieren. Da sprach ich mit deinem Mann, stellte mich vor und machte den Vorschlag, dich mit in mein Haus auf dem Land zu nehmen. Er war sofort damit einverstanden.“

„So kam ich also hierher. War er auch böse auf mich?“ fragte Virginia.

„Natürlich nicht. Du tatest ihm nur schrecklich leid. Genaugenommen muß ich zugeben, daß er mir gut gefiel.“

„Ich habe ihn gehaßt“, erklärte Virginia. „Und dieses Gefühl hat sich nicht geändert. Aber nachdem Mama tot ist, brauche ich meine Ehe doch nicht fortzuführen, meinst du nicht?“

„Sollen wir darüber nicht ein andermal reden?“ schlug ihre Tante vor.

„Besser jetzt gleich. Sieh mal, Mama hat mich zu einer Ehe mit einem Fremden gezwungen, weil sie die Damen der New Yorker Gesellschaft übertrumpfen wollte. Ich hatte nicht die geringste Chance, sie von ihrem Vorhaben abzubringen.“

„Du hättest dich doch jederzeit weigern können.“

„Das habe ich versucht“, erwiderte Virginia. „Daraufhin drohte Mama, sie würde mich bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr zu Tante Louise schicken.“

„Das war allerdings sehr häßlich von ihr.“

„Du siehst also, daß ich gar keine andere Wahl hatte. Und deshalb hasse ich diesen Mann und will ihn nie im Leben wiedersehen.“

Ihre Tante drückte sie sanft in die Kissen zurück.

„Du sollst jetzt weder daran denken, noch darüber sprechen. Dafür ist später noch viel Zeit. Zuerst mußt du wieder zu Kräften kommen.“

Virginia lag einige Zeit ruhig da, dann lachte sie plötzlich auf und sagte: „Er dürfte mich ebenfalls gehaßt haben. Bis zu dem Augenblick, da wir vor dem Bischof standen, wußte er nicht, was ihm blühte. Mein Gesicht unter dem schrecklichen Schmuck mag ihm einen ganz schönen Schock versetzt haben.“

Ihre Tante setzte sich zu ihr.

„Ich frage mich gerade, ob du stark genug bist, einen zweiten Schock zu ertragen“, sagte sie zögernd.

„Was ist noch geschehen?“ fragte Virginia.

„Warte noch eine Minute, zuerst mußt du dich aufrichten. Und jetzt schließe deine Augen. Diesmal habe ich eine angenehme Überraschung für dich.“

Virginia hörte, wie ihre Tante durchs Zimmer ging.

Als sie wieder neben ihrem Bett stand, befahl sie: „Mach die Augen auf.“

Virginia sah ein fremdes Gesicht. Es dauerte einige Sekunden, bis ihr klar wurde, daß die Tante ihr einen Spiegel vorhielt. Sie glaubte zu träumen. Ein Mädchen in ihrem Alter mit einem schmalen Gesicht, großen Augen, ausgeprägten Backenknochen und einem schlanken Hals blickte ihr entgegen. Über ihre Schultern hing eine Fülle seidig glänzenden Haars. Virginia konnte nicht aufhören zu schauen.

Mit kaum vernehmbarer Stimme fragte sie schließlich: „Bin das wirklich ich?“

„Ja, und so warst du immer“, sagte ihre Tante lächelnd. „Nur lag alles hinter einer dicken Fettschicht verborgen.“

„Ach, Tante Ella May, ich hätte mich niemals wiedererkannt.“

Sie sah mit einem Ausdruck des Entzückens in den Spiegel. Ihre grauen Augen wurden von langen, dunklen Wimpern überschattet. Und der Schnitt des Gesichtes mit der kleinen Nase und den geschwungenen Augenbrauen zeigte unzweifelhaft alle Anzeichen der Schönheit. Zum ersten Mal, seit sie das Bewußtsein wiedererlangt hatte, rollten große Tränen über ihre Wangen.

Die Tante legte den Spiegel weg und drückte sie sanft in die Kissen zurück.

„Ich kann es nicht glauben“, sagte Virginia weinend.

 

„Aber es ist wahr“, bekräftigte ihre Tante. „Und jetzt schlaf ein bißchen. Wenn du dich zu sehr aufregst, muß ich am Ende bedauern, dir dein Spiegelbild gezeigt zu haben.“

Zwei Wochen später ging Virginia bereits im Garten spazieren. Als sie zurückkam, setzte sie sich auf die Veranda, wo ihre Tante für das Mittagessen Erbsen enthülste.

„Ich habe es bis zum Wald und wieder zurück geschafft“, sagte Virginia stolz. „Und dabei bin ich nicht ein bißchen müde.“

„Übertreib nicht“, warnte ihre Tante.

„Ich fühle mich so leicht, daß mich der Wind bis zu den Baumwipfeln heben könnte.“

„Du bist zu leicht“, meinte ihre Tante besorgt. „Zum Mittagessen gibt es Huhn. Wenn du nicht eine ordentliche Portion davon ißt, schicke ich dich wieder ins Bett.“

„So grausam kannst du gar nicht sein“, protestierte ihre Nichte. „Außerdem gibt es eine ganze Menge, worüber ich mit dir reden möchte. Ich war in letzter Zeit so sehr mit meinem Aussehen beschäftigt, daß ich gar nicht dazu gekommen bin, über meine Ehe zu sprechen.“

„Ich wollte das Thema gerade anschneiden“, sagte die Tante. „Heute morgen habe ich wieder einen Brief von deinem Gatten erhalten.“

„Der Marquis hat dir geschrieben?“

„Allerdings. Übrigens ist er inzwischen Herzog geworden, da sein Vater gestorben ist. Du bist also Herzogin.“

„Das ist wirklich das letzte, was ich mir wünsche. Irgendwie müssen wir versuchen, ihn loszuwerden.“

„Er war stets mehr als aufmerksam“, fuhr die Tante fort. „Es vergeht keine Woche, ohne daß er sich nach deinem Befinden erkundigt.“

„Warum macht er sich meinetwegen solche Mühe?“ fragte Virginia. „Er hat doch das Geld, das Mama ihm für die Heirat bezahlt hat, und noch dazu mein Vermögen, wenn er es haben will. Ich bin nicht daran interessiert.“

„Darüber müssen wir erst noch reden“, meinte die Tante. „Ist dir eigentlich klar, daß du durch den Tod deiner Mutter eine der reichsten Frauen Amerikas geworden bist?“

„Na wenn schon. Ich brauche nicht mehr, als ich hier habe.“

Ihre Tante lachte.

„Damit gäbst du dich nicht lange zufrieden. Eines Tages würdest du dich eingeengt fühlen.“

„Ist das bei dir denn der Fall?“

Ihre Tante schüttelte lachend den Kopf.

„Natürlich nicht. Es ist ja auch mein Heim. Als ich vor Jahren mit meinem Mann herkam, waren wir sehr arm. Nach und nach haben wir die Farm mit unserer Hände Arbeit in die Höhe gebracht.“

„Lebt dein Mann eigentlich nicht mehr?“

„Nein, Liebes, er ist vor zwei Jahren gestorben. Das war auch der Grund, warum ich sofort beschloß, dich hierher zu bringen. Ich war ohne meinen Mann sehr einsam, zumal wir keine Kinder hatten. Plötzlich besaß ich monatelang eines, das mich brauchte und ganz von meiner Fürsorge abhängig war.“

„Monatelang?“ fragte Virginia erstaunt. „Wie lange bin ich denn schon hier?“

„Genau ein Jahr und zwei Monate“, erwiderte ihre Tante.

Virginia war entsetzt.

„So lange? Und die ganze Zeit über lag ich bewußtlos und habe dich nicht erkannt?“

„Nein, Liebes, aber dafür tust du es jetzt, und das ist alles, was zählt. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, dich in so guter Verfassung zu sehen.“

Ein kurzes Schweigen entstand, dann sagte Virginia: „Tante Ella May, ich habe beschlossen, bei dir zu bleiben, das heißt, wenn du mich haben willst. Dann ist mein Geld wenigstens für etwas gut.“

„Ich nehme nichts von deinem Geld“, erwiderte ihre Tante in scharfem Ton. „Als dein Vater mich seinerzeit verstieß, erklärte ich ihm, daß ich für mich selbst sorgen könne und ihn nie auch nur um einen Cent angehen würde. Dieses Versprechen habe ich bis heute gehalten und werde es auch deinetwegen nicht brechen.“

„Willst du damit sagen, daß du die ganzen Monate über für mich aufgekommen bist?“

„Das war nicht besonders schlimm. Und wenn du auch hier vielleicht nicht den Luxus eines teuren Erholungsheimes hattest, so habe ich dich auf meine Weise ins Leben zurückgeholt.“

„Besser ging es gar nicht“, sagte ihre Nichte dankbar.

„Liebes, und jetzt wartet die Welt draußen auf dich. Wenn du wieder ganz bei Kräften bist, mußt du ihr entgegentreten.“

„Warum sollte ich?“ widersprach Virginia.

„Du hast zum Beispiel einen Ehemann“, erwiderte ihre Tante und nahm einen Brief zur Hand, der neben ihr auf der Bank gelegen hatte.

„Ich will ihn nicht sehen“, rief Virginia aus.

„Warum nicht? Hast du etwa Angst vor ihm?“ fragte ihre Tante.

„Das nicht, aber ich verabscheue ihn aus tiefster Seele. Er ist nichts anderes als ein übler Mitgiftjäger.“

„Das klingt wirklich nicht schön. Trotzdem will ich ehrlich zu dir sein, Virginia. Er hat mir gefallen, schon durch seine Ruhe und Gelassenheit, als alle anderen den Kopf verloren. In seiner Art erinnerte er mich sehr an meinen Mann.“

„Das ist mir gleichgültig“, sagte das Mädchen unhöflich. „Ich will ihn so schnell wie möglich loswerden.“

„Eine Scheidung ist hierzulande nicht leicht zu erreichen“, meinte Tante Ella May ruhig. „In England dürfte es sich als noch schwieriger erweisen.“

„Aber er kann sich doch gar nicht wünschen, an mich gebunden zu bleiben.“

„Das muß er allerdings selbst entscheiden“, erwiderte ihre Tante. „In seinen Briefen fragte er immer wieder, ob er nicht irgendetwas für dich tun könne. Liebe Virginia, es ist langsam an der Zeit, ihm deine Genesung mitzuteilen.“

„Nein, das darfst du nicht. Vielleicht kommt er dann her, und das könnte ich nicht ertragen.“

„Es eilt nicht besonders“, sagte die Tante ruhig. „Aber früher oder später muß er es erfahren.“

„Ach, Tante Ella, was soll ich nur tun?“

„Du mußt endlich erwachsen werden. Bisher hast du niemals selbst etwas entscheiden müssen. Deine Mutter hat es nicht zugelassen, und du warst nur zu geneigt, ihr zu gehorchen, schon, weil du jedem Streit aus dem Weg gehen wolltest. Jetzt wirst du dich daran gewöhnen müssen, selbst für dein Recht zu kämpfen.“

Nach kurzem Nachdenken fragte Virginia: „Was erwartest du von mir, daß ich tue?“

„Das mußt du selbst wissen.“

„Soll ich ihn bitten herzukommen?“

„Ich habe eine ganz andere Idee“, sagte Tante Ella May. „Mir ist da letzte Nacht ein Gedanke gekommen. Ich weiß aber nicht, ob du die richtige Person dafür bist, oder besser gesagt, ob du die Kraft und Entschlossenheit dazu aufbringst.“

„Warum sollte ich nicht?“ fragte das Mädchen. „Erzähl mir bitte, was dir eingefallen ist.“

„Vielleicht sollte ich gar nicht darüber sprechen. Um meinen Plan auszuführen, braucht man starke Nerven. Liebling, ich weiß wirklich nicht, ob du dich dafür eignest.“

„Jetzt beleidigst du mich, Tante“, rief Virginia. „Ich besitze mehr Kraft als du glaubst, auch wenn ich noch nie Gelegenheit hatte, dies unter Beweis zu stellen. Gib mir die Möglichkeit, und ich werde es dir zeigen.“

Die Tante lächelte über ihren Eifer.

„Also gut, ich will dir meinen Plan verraten. Aber halte an dich, er wird dir nicht sofort gefallen.“

„Was ist es denn?“ fragte Virginia neugierig.

„Du mußt selbst nach England fahren“, sagte die Tante kurz und bündig.

Virginia stand am Heck des Schiffes und sah auf das blaue Meer hinaus. Viele Passagiere drehten sich bewundernd nach dem schönen, schlanken Mädchen mit dem langen aschblonden Haar um. Doch Virginia beachtete sie nicht, sie war zu sehr mit ihren Gedanken beschäftigt.

Es hatte ihre Tante einige Mühe gekostet, sie davon zu überzeugen, daß ihre Fahrt nach England die einzig richtige Lösung wäre.

„Welche Alternative hast du denn?“ fragte die Tante. „Soll ich dem Herzog schreiben, daß es dir bessergeht und er herkommen soll? Willst du das etwa?“

Virginia schüttelte sich.

„Nein“, sagte sie, „das könnte ich nicht ertragen. Schon allein beim Gedanken an sein Erstaunen über mein verändertes Aussehen und unser Treffen in einem Anwaltsbüro schaudert mich. Kannst du ihm nicht einfach schreiben, daß ich mich scheiden lassen will?“

„Ich glaube nicht, daß er darauf eingehen würde“, erwiderte die Tante. „Die englischen Aristokraten sind sehr stolz und hassen nichts so sehr wie Skandale. Nach unseren Begriffen haben sie zwar keineswegs die Moral für sich gepachtet, trotzdem bleiben die Ehemänner bei ihren Frauen und umgekehrt. Was immer sie insgeheim treiben, in der Öffentlichkeit halten sie den Schein aufrecht.“

„Das ist doch pure Heuchelei“, kommentierte Virginia verächtlich.

„Mag sein“, stimmte die Tante zu, „aber es hat etwas für sich.“

„Woher weißt du das eigentlich alles?“ erkundigte sich Virginia.

„Zu Beginn meiner Krankenschwesternzeit arbeitete ich bei Mr. Vanderbilt. Er kannte Gott und die Welt und reiste überall hin. Eines Tages nahm er mich auch nach England mit, wo wir fast in allen berühmten Schlössern zu Gast waren, darunter auch in dem deinigen.“

„In meinem?“ rief Virginia erstaunt aus.

„Wir hielten uns damals mehrere Wochen in Ryll Castle auf. Dein Mann war damals noch ein Kind, und ich kann mich nicht an ihn erinnern. Sein Vater war eine hervorragende Persönlichkeit und seine Mutter eine große Dame, die ich allerdings nicht besonders mochte.“

„Hast du mit ihnen gesprochen?“

Die Tante lachte.

„Natürlich nicht. Ich sah sie nur aus einiger Entfernung und war manchmal dabei, wenn sie sich mit Mr. Vanderbilt unterhielten. Sie haben damals einen ungeheuren Eindruck auf mich gemacht. Deshalb möchte ich gern, daß du das Leben dort kennenlernst, bevor du es so vollständig ablehnst.“

„Kannst du dir überhaupt meine Person in einer solchen Umgebung vorstellen?“ fragte Virginia lachend.

„Warum nicht? Du bist ein sehr attraktives Mädchen, und die Engländer bewundern Schönheit, besonders an einer Herzogin.“

„Als eine solche werden sie mich nicht kennenlernen“, sagte Virginia entschlossen. „Ich führe deinen Plan aus, aber nur unter der Bedingung, daß ich einen anderen Namen annehmen darf, so daß niemand meine wirkliche Identität erfährt.“

„Vermutlich habe ich zu viel Romane gelesen“, sagte Tante Ella May. „Mir scheint das Ganze wie ein aufregendes Abenteuer. Der Herzog wird dich nicht wiedererkennen, weil er dich nur als dickes, häßliches Geschöpf sah. Wie sollte er damit das junge, schöne Mädchen in Verbindung bringen, das Ryll Castle unter irgendeinem Vorwand besucht?“

„Wen soll ich denn deiner Meinung nach vorstellen?“ fragte Virginia, „das heißt, wenn ich deinem verrückten Plan zustimme.“

„Darüber habe ich mir auch schon Gedanken gemacht. Du hast mir einmal erzählt, daß du dich sehr für Geschichte interessierst. Wenn ich also den Brief des Herzogs beantworte, bitte ich ihn um einen Gefallen, den er mir nicht abschlagen kann, da ich mich doch schon seit über einem Jahr um seine kranke Frau kümmere. Ich werde ihm von einer jungen Freundin erzählen, die englische Geschichte studiert und sich sehr freuen würde, wenn er ihr erlaubte, an Ort und Stelle, nämlich in der wunderbaren Bibliothek von Ryll Castle, Studien zu treiben.“

„Glaubst du, daß der Herzog einwilligen wird?“ fragte Virginia. „Vielleicht mag er keine fremden Menschen auf seinem Schloß.“

Tante Ella May lachte schallend.

„Liebes, er würde es gar nicht bemerken, wenn ich ihm eine ganze Armee schickte, so groß ist Ryll Castle. Es gibt dort unzählige Bedienstete im Haus, in den Ställen, in der Landwirtschaft und im Wald. Sie haben sogar eine eigene Schreinerei und Brauerei. Daran erinnere ich mich deshalb, weil ich eines Tages Mr. Vanderbilt im Rollstuhl hinschob, als er sich dafür interessierte.“

„Konnte er nicht gehen?“

„Nein. Er war schon ein alter Mann, als er mich einstellte. Ich bekam den Posten hauptsächlich deshalb, weil ich jung war und er gern junge Menschen um sich hatte.“

Die Tante seufzte ein wenig, als ob sie bedauerte, daß diese Zeiten vorbei waren. Dann fuhr sie fort: „England wird dich in Erstaunen versetzen. Laß dich aber nicht von Vorurteilen leiten. Das Gesellschaftsleben dort erscheint einem fast unwirklich, hat aber etwas ungeheuer Anziehendes.“

„Erzähl mir davon“, drängte Virginia. „Hast du dort auch Bälle besucht?“

„Natürlich nicht. Ich war doch nur Krankenschwester, gehörte also zum Personal. Da mir kein übertriebener Stolz Hemmungen auferlegte, schaute ich ungeniert mit den anderen Dienern durch das Treppengeländer, wenn der Prinz von Wales und seine Gattin zum Dinner kamen. Die Damen in ihren tief ausgeschnittenen Roben und mit Diademen im Haar wirkten auf mich wie schöne Schwäne. Die Herren trugen Kniehosen und so hohe Krägen, daß sie den Kopf fast nicht bewegen konnten. Ich fand alles schrecklich aufregend und wünschte mir oft, zu dem Wiener Orchester Walzer tanzen und mit einem der jungen Herrn flirten zu dürfen.“

 

„Tante Ella May, du setzt mich in Erstaunen“, rief Virginia.

„Liebes, ich bin ungeheuer romantisch veranlagt, sonst hätte ich nicht den Mut aufgebracht, den Mann meiner Liebe zu heiraten, mich damit gegen die ganze Familie zu stellen und den Verlockungen zu entsagen, die mir dein Vater bot.“

„Du warst eben tapferer als ich“, sagte Virginia kläglich.

„Mach dir deswegen keine Vorwürfe, mein Kind. Du warst krank, sehr krank sogar. Wenn dich diese verrückten Stadtärzte weiter behandelt hätten, wärst du vermutlich bald gestorben. Für deine Krankheit sind weitgehend sie verantwortlich. Den Rest besorgte deine Mutter.“

„Sie wollte sicher das Beste für mich.“

Virginia machte instinktiv den Versuch, ihre Mutter zu verteidigen.

„Sie hatte immer nur ihr eigenes Wohl im Auge“, erwiderte die Tante. „Es tut mir leid, das sagen zu müssen, aber wir sind bisher immer ehrlich zueinander gewesen. Deine Mutter war eine selbstsüchtige Frau und hat dich dazu gezwungen, den größten Fehler zu begehen, den ein Mädchen nur machen kann, nämlich ohne Liebe zu heiraten. Und jetzt möchte ich nicht, daß du wieder einen Fehler machst.“

„Meinst du damit, daß ich vom Herzog nicht die Scheidung verlangen soll?“ fragte Virginia.

„Du sollst zuerst selbst herausfinden, ob du diese Ehe tatsächlich beenden willst.“

„Das steht für mich jetzt schon fest“, sagte Virginia ruhig. „Glaubst du wirklich, ich habe Lust, an diesen Mitgiftjäger gebunden zu bleiben, der Mama seinen Titel verkaufte und dem sie mich ohne Rücksicht auf meine Gefühle abtrat?“

„Wobei sie ihm natürlich gesagt hat, daß du mit dieser Heirat nicht einverstanden warst“, meinte Tante Ella May.

„Das glaube ich kaum.“

„Woher weißt du dann, daß er dich nicht in der ehrlichen Überzeugung geheiratet hat, du seist genauso hinter seinem Titel her wie er hinter deinem Geld?

Das mag zwar gegen die Menschenwürde verstoßen, war aber von seiner Seite aus ein absolut legaler Handel. Aus der üblichen amerikanischen Sicht betrachtet hat er genauso viel gegeben wie bekommen.“

„So habe ich das bisher nicht gesehen“, gab Virginia zu.

„Das denke ich mir. Aber da ich dich für ein faires und gerecht denkendes Mädchen halte, solltest du nach England fahren und dir selbst eine Meinung bilden. Versuche etwas über die Hintergründe herauszubekommen. Keiner von uns weiß über seinen Charakter Bescheid. Deine verstorbene Mutter hielt sich zwar für eine Freundin der Herzogin, was aber lediglich bedeutete, daß sie Tausende von Dollars ausgab, wenn diese sie für irgendwelche Wohltätigkeitszwecke anbettelte. Die Rechtsanwälte haben die Korrespondenz deiner Mutter zur Durchsicht hierhergeschickt. Danach war die Herzogin nicht gerade schüchtern, wenn es um Geld ging. Einmal wollte sie es für kranke Kinder oder ausgesetzte Tiere, ein andermal für reparaturbedürftige Kirchen oder ausgediente Seeleute. Und deine Mutter reagierte schon auf den leisesten Wink.“

„Wie hätte sie einer Herzogin etwas verweigern können?“ fragte Virginia spöttisch.

„So sieht es allerdings aus“, sagte die Tante trocken. „Und vermutlich ist inzwischen ein Großteil deines Vermögens in dieselben Kanäle geflossen.“

„Wie meinst du das?“ fragte ihre Nichte mit erwachendem Interesse.

„Dein Mann kann frei über dein Vermögen verfügen.“

Virginia biß sich auf die Lippen.

„Wenn das so ist, sollte ich mich schleunigst nach England begeben, um selbst zu sehen, was er damit anfängt.“

„Genau das meine ich auch“, stimmte die Tante zu.

Es machte Virginia viel Spaß, mit Tante Ella May zum Einkaufen nach New York zu fahren und zum ersten Mal Dinge nach ihrem eigenen Geschmack auszusuchen. Ihre schlanke Taille erlaubte ihr Kleider, von denen sie bisher nur geträumt hatte: Sanft fließender Chiffon, enganliegende Oberteile, elegante kleine Boleros über weiten Röcken, unter denen sich seidene Unterkleider bauschten.

Sie war klug genug, bis auf wenige Ausnahmen nichts allzu Auffallendes zu kaufen. „Schließlich bin ich nur eine Studentin der englischen Geschichte und darf nicht zu elegant wirken“, meinte sie.

Als sich der Tag der Abreise näherte, bekam Virginia es mit der Angst zu tun.

„Das legt sich, wenn du erst unterwegs bist“, tröstete die Tante sie. „Denke immer daran, wie unbedeutend du dort sein wirst. Vermutlich wird man dich kaum zur Kenntnis nehmen. In England glaubt man ohnehin, daß Amerika nur von Indianern und Millionären bevölkert wird. Man interessiert sich nicht für Menschen, die zwischen diesen beiden Kategorien existieren.“

„Und dazu gehöre ich unweigerlich“, sagte Virginia. „Ich werde es mir merken.“

„Sieh dich genau um“, riet ihr die Tante. „Ich will später jede Einzelheit über deinen Aufenthalt dort hören. Ach, Virginia, wenn ich doch jünger wäre! Ich würde dich auf der Stelle begleiten.“

„Warum tust du es nicht?“

„Und was wird dann aus meinen Tieren? Meinen Hühnern? Meinen Kühen und dem Garten? Ich bin zu alt, um mich in der Welt herumzutreiben. Das habe ich in meiner Jugend zur Genüge getan. Jetzt im Alter bin ich froh, ein schönes Heim zu besitzen.“

„Vermutlich geht es mir nicht anders, wenn ich zurückkomme.“

Als Tante Ella May Virginia zum Dampfer brachte, nahm sie sie noch einmal in die Arme.

„Paß gut auf dich auf, Liebes. Ich kann nur hoffen, daß es richtig war, dich in dieses Abenteuer zu hetzen.“

Ihre Nichte war den Tränen nahe.

„Danke schön für die Blumen“, sagte sie und betrachtete den großen Rosenstrauß, der in ihrer Kabine stand.

„Ich habe in deinem Namen auch Mrs. Winchester Blumen gesandt“, sagte die Tante. „Sei also nicht überrascht, wenn sie sich dafür bedankt.“

„Hat sie die angrenzende Kabine belegt?“

„Nein. Sie teilt die Kabine mit einer anderen Dame. Als Frau eines in England arbeitenden Amerikaners ist sie offensichtlich nicht besonders gut gestellt und kann sich den Luxus einer Einzelkabine nicht leisten.“

„Warum hast du denn nicht ihre Passage bezahlt, wenn sie sich doch meiner annehmen soll?“ fragte Virginia.

„Das hätte wohl bei einer Studentin der Geschichte, die ein bißchen Geld geerbt hat, etwas merkwürdig ausgesehen, findest du nicht?“

Virginia mußte lachen.

„Tut mir leid, das habe ich vergessen.“

„Du solltest anfangen, dich in deine Rolle einzuleben“, riet ihr die Tante.

„Ich bin Virginia Langholme, Studentin der Geschichte, und reise zu Studienzwecken nach England“, rezitierte Virginia, „wobei ich hoffe, später ein Buch über meine Eindrücke schreiben zu können.“

„Jedenfalls bist du die hübscheste Studentin, die jemals Amerika verlassen hat“, sagte Tante Ella May.

„Ich weiß immer noch nicht, ob es richtig war, mich Virginia zu nennen.“

„Darüber haben wir doch oft genug gesprochen“, erwiderte die Tante ungeduldig. „Warum sollte der Herzog Virginia Langholme mit seiner Frau in Verbindung bringen, die er immer noch im Koma glaubt. Tausende von Mädchen in Amerika heißen Virginia. Vergiß nicht, daß er sich höchstens aus Zeitungsausschnitten deiner erinnern kann.“

Virginia schüttelte sich.

„Ich hasse es, daran zu denken.“

„Quäl dich nicht“, sagte ihre Tante. „Er kann dich gar nicht identifizieren. Vielleicht sagst du es ihm, bevor du wieder abfährst, nur um sein Gesicht zu sehen.“

„Ich glaube kaum, daß ich irgendetwas derartiges tue“, meinte Virginia verächtlich. „Was ich unternehme, ist nichts anderes als eine Entdeckungsreise, bei der es keine dramatischen Verwicklungen und schon gar kein Happyend geben wird.“

„Bist du dir da so sicher? Engländer können ungeheuer charmant sein.“

„Wenn ich frei bin, werde ich mir einen charmanten Amerikaner suchen. Wir werden zusammen auf einer Farm leben und mein ganzes Geld vergessen.“

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