Handorakel und Kunst der Weltklugheit

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119 Sich nicht unbeliebt machen. Man soll Abneigung nicht hervorrufen, denn sie stellt sich schon ungewollt ein. Viele gibt es, die unwillkürlich Abscheu empfinden, ohne zu wissen, wie und warum. Die Missgunst kommt der Verbindlichkeit zuvor; aus Jähzorn verursacht sie Schaden wirksamer und schneller denn aus Begierde Nutzen. Manche streben, sich mit allen zu überwerfen, weil sie nach ihrem Gemüt immer Ärger erregen oder Ärger empfinden; und wenn sich der Hass eines Menschen bemächtigt, dann ist er, wie das schlechte Ansehen, schwer zu löschen. Urteilskräftige Leute werden gefürchtet, Leute von übler Zunge verabscheut, vor den Eitlen ekelt man sich, die Hämischen verachtet man, und die Sonderlinge lässt man links liegen. Man zeige Wertschätzung, um geschätzt zu werden; und

wer Zuwendungen will, lebt zugewandt

.





120 Im Leben stehen.

Selbst das Wissen muss dem Gebrauch entsprechen, und wo es nicht gebraucht wird, muss man als Unwissender zurechtkommen können

. In den Zeiten ändern sich das Denken und der Geschmack: man soll nicht altmodisch denken, und man soll einen modernen Geschmack haben. Der Geschmack der Mehrheit hat in allen Zusammenhängen etwas zu sagen; ihm muss man zunächst folgen und dann zum Herausragen bringen; der Kluge soll sich im Schmuck der Seele wie des Körpers an das Gegenwärtige anpassen, selbst wo ihm das Vergangene besser scheint. Nur für die Güte des Verhaltens gilt diese Lebensregel nicht, dort muss man immer der Tugend folgen. Wahr reden, sein Wort halten, das ist unbekannt geworden und scheint zu anderen Zeiten zu gehören, und

die guten Männer scheinen den guten Zeiten

 zu entsprechen, sosehr sie auch immer noch geliebt werden, was bedeutet, dass sie, wenn es noch welche von ihnen gibt, weder auf der Höhe der Zeit sind noch nachgeahmt werden. Was für ein Unglück für unser Jahrhundert, dass die Tugend als fremd und die Bosheit als gängig gilt! Der Umsichtige lebe, wenn schon nicht so, wie er möchte, so gut er kann; er soll mehr auf das achten, was ihm das Glück zugestand, als auf das, was es ihm verweigert hat.





121 Nicht eine Angelegenheit aus der Nicht-Angelegenheit machen. Wie manche aus allem

eine Geschichte machen, so andere aus allem eine wichtige Angelegenheit

: immer sprechen sie im Ton der Wichtigkeit, alles nehmen sie ernst und führen es auf eine Auseinandersetzung oder ein Geheimnis zurück. Wenige Anlässe des Ärgers soll man als beabsichtigt verstehen, denn sonst verrennt man sich ohne Grund. Sich zu Herzen nehmen, was man hinter sich lassen soll, heißt die Prioritäten verwechseln. Viele Dinge, die etwas waren, stellten sich als nichts heraus, wenn man von ihnen ablässt; und andere, die nichts waren, wurden zu viel, weil man sie beachtet hat.

Am Anfang kann man alles leicht beenden, aber später nicht

; oft bringt die Arznei die Krankheit hervor, und das Sein-Lassen ist nicht die schlechteste Lebensregel.





122 Herrschaftlichkeit im Reden und im Tun. Beeindruckt überall sehr und gewinnt vorweg die Achtung. Sie hat auf alles einen Einfluss: auf die Unterhaltung, auf die öffentliche Rede, sogar auf den Gang, und noch auf den Blick, auf das Wollen. Es ist ein großer Sieg, die Herzen einzunehmen: er entsteht weder aus dummer Waghalsigkeit noch aus ärgerlichem Verhalten; sehr wohl aus einer angenehmen Autorität, die aus einem überlegenen Gemüt mit Unterstützung der Verdienste entstanden ist.





123 Mensch ohne Geltungsdrang. Je mehr Fähigkeiten einer hat, desto weniger Geltungsdrang, denn der pflegt ein verächtlicher Makel für sie alle zu sein. Er ist ebenso ärgerlich für die anderen wie mühselig für den, der ihn aufrecht hält, weil er als Märtyrer der Vorsicht lebt und sich mit Genauigkeit quält. Durch ihn verlieren selbst herausragende Eigenschaften ihren Verdienst, weil man glaubt, dass sie eher aus der künstlichen Gewaltsamkeit entsprungen sind denn aus der freien Natur, und alles Natürliche war immer mehr willkommen als das Künstliche. Die Geltungssüchtigen gelten als fremd in dem, was sie vorgeben. Je besser man etwas macht, desto mehr muss man

die Bemühung überspielen

, damit sichtbar wird, wie sich die Vollkommenheit aus der Natur ergibt; aber man soll auch nicht geltungssüchtig werden, weil man es so sehr vermeidet, dass nicht geltungssüchtig sein zu einer Geltungssucht wird. Nie darf der Umsichtige so aussehen, als wisse er um seine Verdienste, denn gerade die Gleichgültigkeit weckt die Aufmerksamkeit bei den anderen. Doppelt herausragend ist, wer alle Vollkommenheiten in sich hat und keine in seiner Wertschätzung; und auf umgekehrtem Weg kommt er dem Ziel des Beifalls nahe.





124 Es dahin bringen,

dass man begehrt

 wird. Wenige brachten es zu solcher Gunst unter den Leuten; und wenn bei klugen Leuten, ist es ein Glück. Gewöhnlich kommt denen, die am Ende stehen, Lauheit zu. Es gibt Umstände, um sich diesen Preis der Zuneigung zu verdienen: im Amt und in seinen Fähigkeiten herausragen gehört gewiss dazu; die Freundlichkeit wirkt. Herausragen wird zur Unentbehrlichkeit, wenn deutlich ist, wie das Amt einen brauchte und nicht er das Amt; manche bringen den Posten Ehre ein, anderen sie. Es ist kein Vorteil, der einem guttut, einem Schlechten nachzufolgen, weil das nicht heißt, dass man um seiner selbst willen begehrt, sondern dass ein anderer verabscheut wird.





125 Kein Sündenregister sein. Ein Zeichen, den eigenen Ruf zerstört zu haben, ist es, anderen Schande zu wünschen. Manche möchten mit den Flecken der anderen die eigenen verbergen, wenn nicht gar waschen, oder sie trösten sich so, was der Trost der Dummen ist. Sie riechen aus dem Mund, wie die

öffentliche Kloake

. Wer in diesen Dingen am meisten aufwühlt, beschmutzt sich am meisten. Nur wenige haben nicht irgendeinen grundlegenden Defekt,

direkt oder vermittelt

. Die Fehler wenig bekannter Leute werden nicht bekannt. Wer taktvoll sein will, soll es vermeiden, ein Schandenregister zu sein, denn das heißt eine verabscheute Gestalt sein und ohne Seele, obwohl noch am Leben.





126

Dumm ist nicht, wer die Dummheit begeht, sondern wer sie, einmal begangen, nicht zu verbergen weiß

. Die Neigungen muss man

unter dem Siegel

 halten – um wie viel mehr die Mängel.

Alle Menschen irren

, aber mit diesem Unterschied: dass die Scharfsinnigen die begangenen Mängel

überspielen, und die Dummen sie ankündigen

, noch bevor sie sie begehen. Das Ansehen liegt mehr in der Vorsicht als in dem, was man getan hat, wenn einer nicht keusch ist, soll er vorsichtig sein. Die Versehen der großen Männer werden mehr beobachtet, so wie die Finsternisse der großen Lichtquellen. Es muss eine mögliche Ausnahme innerhalb der Freundschaft sein, dass man ihr die Fehler nicht anvertraut; nicht einmal, wenn dies möglich wäre, dem Bild, das man von sich selbst hat. Aber man kann sich hier jene andere Regel des Lebens zunutze machen, die das

Vergessen-Können

 ist.





127 Die Ungezwungenheit in allem. Ist Leben der Fähigkeiten, Atem der Rede, Seele des Tuns, Glanz dessen, was schon glänzt. Die anderen Vollkommenheiten sind ein Schmuck der Natur, aber die Ungezwungenheit ist jener für die Vollkommenheit selbst: sogar für das Denken rühmt man sie. Vor allem ist sie ein Geschenk, dem Lernen schuldet sie kaum, und auch der Selbstbeherrschung ist sie überlegen; sie ist mehr als Leichtigkeit und gerät zur Kühnheit; sie setzt Unbefangenheit voraus und fügt Vollkommenheit hinzu. Ohne sie ist alle Schönheit tot und alle Anmut unbeholfen. Sie geht über den Mut, die Umsicht, die Vorsicht, selbst über die Majestät hinaus; sie ist eine geschickte Abkürzung im Geschäft und ein eleganter Ausweg aus jeglicher Verlegenheit.





128 Hoher Sinn. Gehört zu den grundlegenden Erfordernissen, um ein Held zu sein, weil er von jeder Art der Größe entflammt wird: er erhöht den Geschmack, weitet das Herz, lässt das Denken aufsteigen, veredelt den Charakter und schafft die

höchste Würde

. Wo immer er sich findet, macht er auf sich aufmerksam, und selbst wenn er manchmal vom Neid des Schicksals in Abrede gestellt wird, bricht er durch, um sich zu zeigen; er dehnt sich im Willen aus, wenn seinen Möglichkeiten Gewalt angetan wird. Als Quelle erkennen ihn die Großherzigkeit an, die Großzügigkeit und jede Helden-Gabe.





129 Nie sich beklagen. Das Klagen bringt dem Ansehen immer Schaden ein;

mehr erweckt es Begierde als tröstliches Mitleid; wem immer es hört, öffnet das Klagen den Weg zu dem, worüber geklagt wird, und die Kunde von der ersten Beleidigung entschuldigt die zweite

. Manche machen mit ihren Klagen zukünftige aus vergangenen Beleidigungen, und statt Heilung oder Trost zu sein, fordern sie die Schadenfreude oder sogar die Verachtung heraus. Viel geschickter ist es, die Freundlichkeiten der einen zu loben, damit sie zu Gegenständen der Bemühung für andere werden; und auf Gefallen Abwesender zurückkommen heißt die der Gegenwärtigen befördern, den Verdienst der einen den anderen verkaufen. Und der aufmerksame Mann soll nie Kränkungen oder Mängel sichtbar werden lassen; Momente der Wertschätzung sehr wohl, denn die helfen einem, Freunde zu haben und Feinde in Schach zu halten.

 





130 Tun und sichtbar werden lassen. Die Dinge gelten nicht nach ihrem Sein, sondern nach ihrem Schein. Wert haben und ihn zu zeigen verstehen ist zweimal Wert haben; was nicht gesehen wird, ist als ob es nicht wäre. Ihre Verehrung erfährt nicht einmal die Vernunft, wenn sie nicht ein entsprechendes Gesicht hat. Viel mehr Leute leben in Täuschung als in Einsicht. Täuschung steht im Vordergrund, und man beurteilt die Dinge von außen; es gibt Dinge, die sehr verschieden von dem sind, was sie sichtbar werden lassen. Das gute Außen ist die beste Empfehlung der inneren Vollkommenheit.





131 Charakteradel. Ihre Stattlichkeit haben die Seelen, edlen Geist, durch dessen ritterliche Taten das Herz schön wird. Nicht für alle ist das möglich, weil es Großmut voraussetzt. Seine erste Angelegenheit ist es, gut über den Feind zu reden – und sich noch besser gegenüber ihm zu verhalten: am meisten strahlt er in den Händen der Rache; er lässt sie sich nicht entgehen, sondern macht sie besser, indem er sie, je siegreicher desto stärker, in unerwartete Großzügigkeit verwandelt. Er ist auch gesellschaftlich wirksam und darüber hinaus der Glanz der Staatsvernunft. Nie prahlt er über Siege, weil er nie prahlt, und wenn sie verdientermaßen gelingen, verbirgt sie doch sein Edelmut.





132 Das erneute Überlegen nutzen. In

Revision

 gehen ist Sicherheit, und umso mehr, wo nicht offensichtlich ist, dass man sein Ziel erreicht; sich Zeit nehmen, um entweder Zugeständnisse zu machen oder sich zu verbessern: neue Gründe bieten sich, um das Urteil zu bestätigen und zu bekräftigen. Wenn es ums Geben geht, so wird die im Sinn der Klugheit gemachte Gabe mehr geschätzt als die angenehme Schnelligkeit: immer wurde das Begehrte am meisten geschätzt. Wenn man verweigern muss, bleibt Raum für die Art und Weise und um das

Nein

 reifen zu lassen, so dass es besser schmeckt; und meistens spürt man bei kaltem Blut, wenn erst einmal jene erste Hitze des Begehrens vergangen ist, die Enttäuschung der Weigerung nicht mehr. Auf den spät eingehen, der eilig bittet: denn das ist eine List, um die Aufmerksamkeit zu umgehen.





133

Eher mit allen ein Narr als allein klug sein

, sagen politisch tätige Menschen. Denn wenn alle es sind, wird er gegen keinen verlieren; und wenn die Klugheit einsam ist, wird sie für Narrheit gehalten: so wichtig wird es sein, dem Strom zu folgen. Es ist manchmal das größte Wissen, nicht zu wissen, oder so zu tun, als wisse man nicht; man muss mit anderen leben, und

die Unwissenden sind in der Mehrzahl

; um allein zu leben, muss man entweder viel von

Gott oder alles von einem Tier

 haben. Aber ich würde den Aphorismus ummodeln und sagen: eher klug mit den meisten sein als verrückt allein. Manche wollen in den Hirngespinsten einzigartig sein.





134 Die Erfordernisse zum Leben doppelt haben. Ist doppelt leben. Man soll weder von einer Sache allein abhängen noch sich auf eine Sache allein verengen, nicht einmal auf eine einzigartige: alles muss verdoppelt werden, und am meisten die Gründe für den Nutzen, die Gunst und den Genuss. Übergreifend ist die Wechselhaftigkeit des Mondes, Grenze der Dauer, und das gilt umso mehr für Dinge, die vom menschlichen Willen abhängen, der brüchig ist. Gegen die Gebrechlichkeit soll sich der Vorrat bewähren, und es sei eine große Regel der Lebenskunst, die Umstände des Guten und des Bequemen zu verdoppeln. Wie die Natur die wichtigsten und am meisten bedrohten Glieder verdoppelte, so die Kunst die Bedingungen der Abhängigkeit.





135 Nicht den Geist des Widersprechens haben, denn so überlädt man sich mit Dummheit und mit Ärger; gegen ihn muss man die Klugheit heraufbeschwören. Es kann intelligent sein, alles schwierig zu machen, aber Hartnäckigkeit wird für nichts anderes als dumm gelten. Diese Leute machen die angenehme Unterhaltung zu einem kleinen Krieg und sind damit mehr Feinde ihrer Vertrauten als derer, mit denen sie nicht umgehen. Am meisten spürt man im leckersten Bissen die Gräte, die durch ihn hindurchgeht, und so ist es mit dem Widersprechen für die angenehmen Momente; es sind schädliche Dumme, mehr Raubtiere als nur Tiere.





136 Sich gut auf Themen einstellen; den Geschäften gleich den Puls fühlen. Viele entfernen sich entweder auf den Ästen nutzlosen Überlegens oder den Blättern einer

müden Redseligkeit, ohne auf die Substanz der Angelegenheit

 zu stoßen; sie umkreisen einen Punkt hundert Mal, werden müde und ermüden, und kommen nie im Zentrum des Wichtigen an. Das geht aus verwirrten Verstehensbemühungen hervor, denen es nicht gelingt, Klarheit zu gewinnen. Sie vergeuden die Zeit und die Geduld mit etwas, das sie lassen sollten, und später fehlt sie für das, was sie liegenließen.





137

Der Weise soll sich selbst genug sein

.

Er

 war alles Seine für sich, und

indem er sich selbst mitnahm, nahm er alles mit

. Wenn ein universeller Freund genug ist, um für Rom und den ganzen Rest des Universums zu stehen, dann sei man dieser Freund für sich selbst – und wird alleine leben können. Wer sollte einem fehlen können, wenn es weder eine größere Vorstellung noch ein größeres Gefallen als sich selbst gibt? Er wird allein von sich abhängen, höchstes Glück ist es, der höchsten Ganzheit zu gleichen.

Wer so das Leben allein verbringen kann, hat nichts vom Tier, sondern viel vom Weisen und alles von Gott

.





138 Kunst,

die Dinge sein zu lassen

. Umso mehr, je höher die Wellen des offenen oder des vertrauten Meers schlagen. Es gibt Strudel im menschlichen Verkehr, Willensstürme: dann ist es klug, sich in den sicheren Hafen des Gehen-Lassens zurückzuziehen. Oft werden die Übel durch die Heilmittel schlimmer. Dort die Natur und hier die Moral walten lassen. Ebenso viel muss der weise Arzt wissen, um ein Rezept oder kein Rezept zu schreiben, und manchmal besteht die größere Kunst darin, keine

Heilmittel

 anzuwenden. Ein Weg, die gemeinen Strudel zu beruhigen, muss es sein, die Hand zurückzuziehen und sie sich beruhigen zu lassen:

jetzt der Zeit nachgeben wird später Siegen sein

. Mit wenig Unruhe wird eine Quelle trüb, und sie wird nicht wieder hell, wenn man sich darum bemüht, sondern wenn man sie lässt. Es gibt kein besseres Heilmittel gegen Unordnung, als ihr den Lauf lassen, so verschwindet sie durch sich selbst.





139 Den Unglückstag erkennen: denn es gibt solche. Nichts wird gutgehen; und das Spiel mag sich verändern, aber die Pechsträhne nicht: auf zwei Würfe soll man sie erkennen und sich zurückziehen, indem man bemerkt, ob es ein guter Tag ist oder keiner. Sogar für den Verstand gibt es den Moment,

niemand wusste zu jeder Stunde

; es beruht auf Glück, richtig zu denken, wie einen Brief gut zu schreiben. Alle Vollkommenheiten hängen vom richtigen Moment ab, und auch die Schönheit ist nicht immer angesagt; nicht ihrem Ruf gerecht wird die Umsicht, indem sie nicht weit genug oder zu weit dringt; und alles muss, um gutzugehen, seinen Tag haben. So wie für manche alles schlechtgeht, geht für andere alles gut und findet sich mit weniger Anstrengung: der Geist ist gut aufgelegt, das Gemüt bei Laune und alles steht unter einem guten Stern; dann passt es, ihn zu nutzen und nicht das kleinste Teilchen zu vergeuden. Doch der urteilsfähige Mann soll sich nicht aufgrund eines Zufalls, den er sah, unwiderruflich für schlecht oder umgekehrt gut entscheiden, denn jenes konnte Missgeschick und dieses Glück sein.





140 In jeder Sache gleich auf das Gute stoßen. Ist das Glück des guten Geschmacks.

Gleich zur Süße geht die Biene in der Wabe und die Natter zur Bitterkeit im Gift

; so auch die Geschmäcker, einige zum Besten und andere zum Schlechtesten. Es gibt nichts, das nicht etwas Gutes hätte, und vor allem, wenn es ein Buch ist, wegen des Gedachten. So unglücklich ist manches Gemüt, dass sie unter tausend Vollkommenheiten nur auf den einen Fehler stoßen werden, den es gibt, und den tadeln sie und freuen sich darüber als

Sammler des Schmutzes

 im Willen und im Verstand, häufen Einwände, Fehler an, was mehr eine Strafe für ihre schlechte Wahl ist als ein Gebrauch ihres Feingefühls. Sie verbringen ein schlechtes Leben, denn immer weiden sie sich an Bitterkeiten und nähren sich an Unvollkommenheiten. Glücklicher ist der Geschmack von anderen, die unter tausend Fehlern gleich auf die einzige Vollkommenheit stoßen, die ihnen als Glückstreffer zufiel.





141 Nicht sich zuhören. Wenig hilft es, sich selbst zu gefallen, wenn die anderen nicht zufrieden sind; und gewöhnlich straft die allgemeine Missachtung die eigene Befriedigung: allen schuldet, wer sich selbst genügt. Sprechen wollen und sich hören geht nicht gut; und wenn zu sich allein sprechen Verrücktheit ist, dann wird sie verdoppelt werden beim Sich-Zuhören vor anderen. Eine Schwäche hoher Herren ist das Sprechen mit dem

Bordun

 »von Ich sag mal: …« oder jenem »Weißt Du?«, das den Zuhörern auf die Nerven geht; nach jedem Satz horchen sie auf Billigung oder Schmeichelei und ermüden die Klugheit. Auch die Aufgeblasenen sprechen mit Echo, und da ihr Gespräch auf den

Stöckeln

 des Dünkels geht, fordert es für jedes Wort das dumme »Stimmt’s?«.





142 Nie sich aus Eigensinn auf die schlechtere Seite schlagen: weil der Gegner zuvorkam und die bessere wählte. Man beginnt schon besiegt, und so wird es notwendig sein, sich mit Schande geschlagen zu geben: niemals gelingt Rache gut mit schlechten Waffen. Es war des Gegners Schlauheit, zuerst das Bessere zu wählen, und eigene Dummheit, sich ihm spät mit dem Schlechteren entgegenzusetzen. Diese Starrköpfe des Handelns sind deshalb unbeweglicher als die des Wortes, weil mit dem Tun mehr Risiko als mit der Rede einhergeht: Gewöhnlichkeit der Eigensinnigen, nicht auf die Wahrheit zu achten, um zu widersprechen, noch auf den Nutzen, um zu streiten. Der Aufmerksame ist immer auf der Seite der Vernunft, nicht der Leidenschaft, entweder gleich vorwegnehmend oder sich nachher eines Besseren besinnend; wenn der Gegner dumm ist, wird er im selben Zusammenhang die Richtung ändern und sich auf die entgegengesetzte Seite schlagen, womit er seine Position verschlechtern wird. Das Richtige ergreifen ist das einzige Mittel, um ihn vom Besseren abzubringen, denn seine Dummheit wird es liegenlassen, und sein Eigensinn wird sein Sturz werden.





143 Nicht paradox werden, um dem Gewöhnlichen zu entgehen. Die beiden Extreme schaden dem Ansehen. Jedes Verhalten, das den Ernst zurücknimmt, ist ein Zweig der Dummheit. Das Paradoxe ist ein gewisser, am Anfang immer Beifall findender Trug, weil es als neu und aufregend beeindruckt; aber später, wenn er zu seinem Schaden schwindet, sieht es sehr schmählich aus. Es ist eine Art Schwindel und in der Politik ein Verderben der Staaten. Die auf dem Weg der Tugend nicht vermögen oder es nicht wagen, Helden zu werden, verlassen sich aufs Paradox, rufen bei den Dummen Bewunderung hervor und lassen viele Kluge wahr sprechen; es zeigt sich Unausgewogenheit im Urteil, und deshalb ist es das genaue Gegenteil von Bedachtsamkeit; und wenn es sich ab und an nicht auf Falsches gründet, so doch wenigstens auf Ungewisses, mit großem Risiko in wichtigen Angelegenheiten.





144

Mit fremden Interessen auftreten, um mit eigenen abzuziehen

. Das ist eine Strategie des Gelingens; selbst in Angelegenheiten des Himmels machen die christlichen Lehrer diese heilige Schlauheit verbindlich. Sie ist eine wichtige Verstellung, weil der vorgegebene Nutzen als Köder dient, um einen Willen zu binden: der andere glaubt, dass der seine vorangeht, und doch ist der nur da, um den Weg für das ihm fremde Streben zu öffnen. Man soll nie unüberlegt auftreten, zumal auf gefährlichem Grund; auch mit Personen, deren erstes Wort das

Nein

 zu sein pflegt, lohnt es sich, den Schuss zu überspielen, damit die Schwierigkeit des Zugestehens nicht deutlich wird, vor allem wenn man die Abneigung ahnt. Dieser Rat gehört zu denen

hinsichtlich des zweiten Versuchs

, sie alle sind höchst raffiniert.

 





145 Nicht den verletzten Finger sehen lassen: denn alles wird darauf zielen. Nicht über ihn klagen, denn immer schlägt die Boshaftigkeit zu, wo es der Schwäche weh tut. Sich aufregen wird nicht helfen, außer um die Freude an der Unterhaltung anzuregen. Es sucht die böse Absicht das Gebrechen, an dem sie Schmerz erzeugen kann; sie wirft mit Andeutungen um sich, um

Achillesfersen

 zu entdecken; sie wird es auf tausend Weisen probieren, zu der wunden Stelle zu kommen. Nie darf der Aufmerksame zeigen, dass er getroffen ist, noch seine persönliche oder ererbte Krankheit zeigen, denn selbst das Schicksal gefällt sich manchmal darin, dort am meisten zu verletzen, wo der größte Schmerz aufkommen muss. Immer schmerzt es da, wo einer wund ist; deshalb darf man weder zeigen, was schmerzt, noch was belebt: das eine, damit es aufhört, das andere, damit es bleibt.





146 Nach innen schauen. Gewöhnlich findet man, dass die Dinge ganz anders sind, als sie aussahen; und das Unwissen, das nicht über die Rinde hinauskam, deckt Täuschung auf, wenn es ins Innere eindringt. Frau Lüge geht immer in allem voraus: sie zieht die Dummen mit fortgesetzter Plattheit nach sich.

Frau Wahrheit kommt am Arm der Zeit hinkend immer zuletzt und spät

: die Klugen heben für sie die andere Hälfte der Fähigkeit auf, welche die Mutter von allem weise

verdoppelt

 hat. Die Täuschung ist sehr oberflächlich, und die stoßen auf sie, die es sind. Die Einsicht lebt zurückgezogen in ihrem Inneren, um mehr von denen geschätzt zu werden, die um sie wissen und ihr Geheimnis kennen.





147 Nicht unzugänglich sein.

Keinen noch so Vollkommenen gibt es, der nicht irgendwann einen Hinweis bräuchte

; unheilbar dumm ist, wer nicht hört; der Fehlerfreiste muss dem freundschaftlichen Rat Raum geben, und die Überlegenheit muss die Lernfähigkeit nicht ausschließen. Es gibt Menschen, die aus Unzugänglichkeit unheilbar sind, sie stürzen, weil keiner wagt, zu kommen, um sie anzuhalten. Der Vollkommenste muss der Freundschaft eine Tür offen lassen, und das wird die der Hilfe sein; für einen Freund muss Platz sein, damit er ohne Bedenken einen Rat gibt und sogar tadelt; die Zufriedenheit und hohe Meinung von Treue und Vernunft muss ihn in diese Autorität versetzt haben. Nicht allen soll man die Achtung oder sogar das Vertrauen gönnen; aber er muss in der inneren Stube der Zurückgezogenheit einen treuen Spiegel eines Vertrauten haben, dem man die richtige Einsicht durch Aufdeckung des Trugs mit Wertschätzung schuldet und dankt.





148 Die Kunst der Unterhaltung haben, womit einer zeigt, dass er als Person handelt. In keiner menschlichen Übung ist die Aufmerksamkeit mehr gefordert, weil sie die im Leben gängigste ist: hier geht es um Verlieren oder Gewinnen; wenn schon Konzentration notwendig ist, um einen Brief zu schreiben, der eine erdachte und schriftliche Unterhaltung ist, wie viel mehr in der gängigen, wo die Umsicht schnell auf die Probe gestellt wird! Die Fachmänner fühlen dem Geist der Sprache den Puls, und im Blick auf sie sagte der Weise: »

Sprich, wenn du willst, dass ich dich kennenlerne

.« Manche halten es für die Kunst der Unterhaltung, ohne sie auszukommen, sie soll lose sein, wie die Kleidung; das versteht sich unter engen Freunden, wo aber Respekt im Spiel ist, muss sie gewichtiger sein, und das Gewicht der Person anzeigen. Um richtigzuliegen, muss man sich dem Gemüt und dem Verstand derer anpassen, die mitreden: man soll nicht den

Beckmesser

 der Wörter geben, denn sonst gilt man als Grammatiker; ebenso wenig den Rechnungsprüfer der Sätze, denn dann werden alle vor dem Umgang fliehen und den Austausch verhindern. Die Sensibilität ist beim Sprechen wichtiger als die Beredsamkeit.





149 Schlimmes anderen aufhalsen können. Schilde gegen Böswilligkeit haben, eine große Strategie derer, die regieren. Sie entsteht nicht, wie die Bosheit denkt, aus Unfähigkeit, sondern aus überlegenem Bestreben, jemanden zu haben, auf den die Kritik für Momente des Misslingens und die Strafe für üble Nachrede zurückfällt. Nicht alles kann gutgehen, noch lassen sich alle zufriedenstellen: es muss also zum Preis des eigenen Ehrgeizes einen Sündenbock,

Abfallplatz des Misslingens

 geben.





150 Seine Sachen zu verkaufen wissen. Ihr innerer Wert reicht nicht aus, denn nicht alle beißen ins Wesen oder schauen nach innen. Die meisten finden sich dort ein, wo viele zusammenkommen; sie gehen, wohin sie andere gehen sehen. Ein großer Teil der Kunst liegt darin, Wertschätzung schaffen zu können: manchmal, indem man Dinge rühmt, denn die Lobrede fordert Begierde heraus; andere Male, indem man ihnen einen guten Namen gibt, denn das ist gut, um sie zu verklären, wobei immer die Absicht zu überspielen ist. Ausschließlich Kennern etwas anzubieten, wirkt immer, weil sich alle dafür halten, und wo nicht, da wird ihnen die

Zurücksetzung Sporen geben

. Nie darf man seine Dinge als leicht zugänglich oder im allgemeinen Gebrauch befindlich vorstellen, denn damit werden sie eher gewöhnlich als zugänglich; alle sind auf das Einzigartige scharf als das Wünschenswerteste für den Geschmack wie für die Vernunft.





151 Vorwegnehmend denken: heute für morgen – und noch für viele weitere Tage. Die größte Vorsorge ist es, Stunden dafür zu haben; diejenigen, die vorausdenken, kennen keine Zufälle, diejenigen, die aufpassen, kommen nicht ins Gedränge. Man soll mit der Reflexion nicht warten, bis man versinkt, und es muss im Voraus geschehen; mit der Reife wiederholter Überlegung soll man auf der Hut vor dem gefährlichsten Punkt sein. Eine stumme

Sibylle

 ist das Kopfkissen, und

über den Punkten

 schlafen ist besser, als unter ihnen aufzuwachen.

Manche handeln und denken später

, das ist eher eine Suche nach Ausreden denn nach Konsequenzen; andere weder vorher noch nachher. Das ganze Leben muss Denken sein, um den rechten Weg zu finden: das wiederholte Überlegen und die Vorsicht befähigen das Ermessen, vorwegnehmend zu leben.





152 Sich nie mit Leuten umgeben, die einen in den Schatten stellen könnten, ob aus Überlegenheit oder Unterlegenheit. Was als vollkommen herausragt, ragt auch im Ansehen heraus. Der andere wird immer die Haupt- und er selbst die Nebenrolle spielen, und wenn er etwas Ruhm erlangt, wird das immer nur sein, was von dem des andern übrig bleibt. Es scheint der Mond, solange er allein unter den Sternen ist; aber mit dem Aufgang der Sonne zeigt er sich nicht mehr, er verschwindet. Nie soll sich einer an den halten, der zur Sonnenfinsternis für ihn wird, sondern an den, der ihn erhöht. Auf diese Weise konnte die kluge

Fabula

 des Martial schön aussehen und leuchtete zwischen der Hässlichkeit und Schlampigkeit ihrer Zofen. Auch was neben uns ist, darf keine Gefahr sein, und die anderen gewährte Ehre kein Schade für das eigene Ansehen; um sich zu bilden, soll man die Außergewöhnlichkeiten begleiten; als gemachter Mann unter denen der Mitte sein.





153 Er soll es vermeiden, einzutreten, um große Lücken zu füllen. Und wenn darauf bestanden wird, dann soll man sicher sein, über das Vorige hinauszukommen. Man muss den Wert verdoppeln, um dem der Vergangenheit gleichzukommen. So wie es eine List ist, wenn der Nachfolger einen zum Gegenstand der Sehnsucht macht, so ist es raffiniert, wenn der, der aufhört, ihn nicht in den Schatten stellt. Eine große Lücke zu füllen ist schwierig, weil das Vergangene immer besser schien; und selbst Gleichheit wird nicht reichen, weil sie immer eine Sache des Erstbesitzes ist. Es ist also notwendig, Fähigkeiten hinzuzufügen, um einen anderen aus dem Besitz der höheren Wertsch

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