Handorakel und Kunst der Weltklugheit

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

34 Seine Königs-Gabe kennen: die hervorstechende Fähigkeit ausbilden, den anderen nachhelfen. Jeder hätte Meisterschaft in etwas erreichen können, wenn er seinen besonderen Vorzug gekannt hätte. Man soll also seine Königs-Eigenschaft beachten und Fleiß auf sie verwenden: bei manchen ragt das Urteil, bei anderen der Mut heraus. Die meisten tun ihrer Gabe Gewalt an und erlangen so nie Überlegenheit: was früh der Leidenschaft schmeichelt, deckt die Zeit später als Irrtum auf.

[29]35 Sich Gedanken machen. Und zwar mehr zu dem, was am wichtigsten ist. Weil sie nicht denken, gehen alle Dummen unter: sie begreifen die Dinge nicht einmal zur Hälfte; und weil sie den Schaden oder den Vorteil nicht wahrnehmen, bemühen sie sich auch nicht. Manche legen großen Wert auf das, was wenig, keinen auf das, was große Bedeutung hat, weil sie immer verkehrt abwägen. Manche verlieren den Verstand nicht, weil sie keinen haben. Dinge gibt es, die man mit aller Bemühung betrachten und in der Tiefe seines Geistes bewahren sollte. Der Kluge macht sich über alles Gedanken, aber dort gräbt er am meisten, wo es Grund und Widerstand gibt; und er denkt vielleicht, dass da mehr ist, als er denkt: so kommt sein Nachdenken dorthin, wo seine Wahrnehmung nie hinkam.

36 Sein Glück eingeschätzt haben: um zu verfahren, um sich einzulassen. Mehr bedeutet dies, als über sein Temperament nachdenken, denn dümmer noch als mit 40 Jahren aus Gründen der Gesundheit den Hippokrates, ist es, den Seneca aus Gründen der Weisheit zu Rate zu ziehen. Eine große Kunst, sein Glück steuern zu können, indem man entweder darauf wartet, was durchaus möglich ist, oder es herbeiführt, weil es Momente und Gelegenheiten hat; obwohl sein Verlauf so unregelmäßig ist, dass sich ein Gang nicht herausfinden lässt. Wer sah, dass es ihm günstig ist, der soll mit Zuversicht fortschreiten, denn oft begeistert es sich für die Waghalsigen oder wie eine stattliche Frau für die Jungen. Wer unglücklich ist, der soll nicht handeln, er soll sich zurückziehen, damit ihm nicht noch einmal [30]Unglück widerfährt. Freie Bahn für den, der es beherrscht, dem es den Vorrang gibt.

37 Andeutungsweise zu reden und es zu nutzen verstehen. Das ist der höchste Grad von Feinheit im Umgang mit Menschen. Man macht Andeutungen, um die Gemüter zu prüfen, und mit ihnen lässt sich auch das Herz auf verborgene und eindringliche Weise erforschen. Andere können aber auch boshaft, verletzend, angesteckt vom Kraut des Neids und getränkt vom Gift der Leidenschaft sein: unsichtbare Strahlen, welche aus Anmut und Wertschätzung herabstürzen. Verletzt von solchen Reden sind viele aus dem Vertrauen der ihnen Über- oder Untergeordneten gefallen, denen eine ganze Verschwörung aus gemeinem Klatsch und individueller Bosheit nichts anhaben konnte. Andere Formen der Andeutung haben eine gegenteilige, günstige Wirkung, indem sie Ansehen stützen und bestätigen. Doch mit demselben Geschick, mit dem die Absicht sie wirft, muss die Vorsicht sie aufnehmen und die Aufmerksamkeit auf sie warten; denn wer sie kennt, muss sich nicht verteidigen, und der Schuss, mit dem man rechnet, trifft nie.

38 Loslassen können, während man vom Glück profitiert. Das gehört zu Spielern von Ruf. Ein schöner Rückzug ist so wichtig wie ein kühner Vorstoß; seinen Taten ein Ende setzen, wenn sie hinreichend, wenn sie zahlreich sind. Fortgesetztes Glück war immer verdächtig; sicherer ist ein unterbrochenes, und sein Genuss soll etwas Süßsaures haben. Je mehr sich Glücksfälle überstürzen, desto größer das [31]Risiko, dass sie von der Bahn abkommen und alle stürzen. Manchmal wiegt die Intensität des günstigen Moments seine kurze Dauer auf. Das Glück wird müde, einen lange auf den Schultern zu tragen.

39 Den Punkt der Entfaltung, den Moment der Dinge kennen und sie nutzen. Alle Naturdinge erreichen eine Fülle ihrer Vollkommenheit; bis dahin wuchsen sie, von da an nehmen sie ab. Unter den Dingen der Kunst kommen nur wenige dort an, wo sie sich nicht verbessern können. Es ist ein Vorzug guten Geschmacks, jedes Ding auf seinem Höhepunkt zu genießen; weder können dies alle, noch verstehen sich alle darauf, die es können. Selbst für die Früchte der Vernunft gibt es diesen Punkt der Reife; für die Wertschätzung und die Praxis ist es wichtig, ihn zu kennen.

40 Gunst bei den Leuten. Es ist viel, die allgemeine Bewunderung, aber mehr, die Zuneigung zu gewinnen; dies steht teils in den Sternen geschrieben, hängt aber mehr von der Bemühung ab. Herausragende Fähigkeiten reichen nicht, obwohl man dies annimmt; denn es ist leicht, Zuneigung zu gewinnen, wenn erst einmal Ansehen gewonnen ist. Wohlwollen verlangt Wohltaten: Gutes tun mit beiden Händen, gute Worte und bessere Werke, lieben, um geliebt zu werden. Die Höflichkeit im Umgang ist das stärkste Zaubermittel großer Persönlichkeiten. Man muss die Hand erst nach den Taten und dann nach der Schreibfeder strecken; vom Blatt des Schwerts zu den Blättern der Schrift, es gibt eine Schriftsteller-Gunst, und die ist ewig.

[32]41 Nie übertreiben. Sehr darauf achten, nicht in Superlativen zu sprechen, zum einen, um sich nicht der Gefahr auszusetzen, die Wahrheit zu beleidigen, zum anderen, um seine Weisheit nicht herabzusetzen. Übertreibungen sind eine Verschwendung des guten Rufs und Anzeichen der Beschränktheit im Wissen und im Geschmack. Lobreden wecken lebhafte Neugier, spornen Begierde an, und wenn dann der Wert nicht der Hochschätzung entspricht, wie es gewöhnlich der Fall ist, dann kehrt sich die Erwartung gegen die Täuschung und rächt sich mit der Geringschätzung dessen, was gerühmt wurde, und der Person, die es rühmte. Der Kluge hält sich also deutlich zurück und zieht den Vorwurf der Unter- dem der Übertreibung vor. Nur Weniges ist herausragend: deshalb besser die Wertschätzung herabtönen. Dinge schönen gehört zum Zweig des Lügens, und man verliert dadurch das Ansehen guten Geschmacks, was schlimm, und des Verstandes, was schlimmer ist.

42 Von natürlicher Herrschaft. Sie ist eine geheime Kraft der Überlegenheit. Nicht aus ärgerlicher Verstellung soll sie hervorgehen, sondern aus herrschaftlicher Natur. Ihr unterwerfen sich alle, ohne zu wissen wie, und erkennen die geheime Kraft der naturgegebenen Autorität. Es sind adlige Gemüter, Könige aus Verdienst und Löwen aus angeborenem Vorrecht, welche die Herzen, aber auch die Rede der anderen aufgrund ihrer Achtung erobern. Wenn noch weitere Fähigkeiten mitwirken, dann sind sie geboren, um die ersten bewegenden Kräfte der Politik zu sein, weil sie mehr mit einer Geste ausführen als andere mit aller Weitschweifigkeit.

[33]43 Denken wie die Wenigsten und reden wie die Meisten. Gegen den Strom gehen wollen wird nie Irrtümer aufheben, aber sehr wohl Gefahren heraufbeschwören. Allein ein Sokrates könnte das versuchen. Man fasst das Abweichen als Beleidigung auf, weil es das Urteil der anderen verdammt; die Zahl derer, die Anstoß nehmen, vervielfältigt sich aufgrund des Gegenstands der Kritik und wegen desjenigen, der ihm Beifall gab. Die Wahrheit ist eine Sache der Wenigen, der Irrtum ist so gemein wie verächtlich. Nicht an dem, was er im öffentlichen Raum sagt, erkennt man den Weisen, denn dort spricht er nicht mit seiner eigenen Stimme, sondern mit jener der gewöhnlichen Dummheit, sosehr sie auch von seinem Innern abweichen mag. Gegenstand des Widerspruchs werden vermeidet der Weise ebenso wie das Widersprechen: was nahe beim Tadel ist, wird vor der Öffentlichkeit zurückgehalten. Das Denken ist frei, man kann und soll ihm keine Gewalt antun; es zieht sich in den heiligen Innenraum seines Schweigens zurück; und wenn es manchmal losgelassen wird, dann nur im Schatten von Wenigen und Weisen.

44 Sympathie mit großen Männern. Eine Fähigkeit des Helden ist es, sich mit Helden zu verbinden: ein Wunder der Natur in seiner Verborgenheit und Vorteilhaftigkeit. Es gibt eine Verwandtschaft der Herzen und der Gemüter, und ihre Wirkungen sind die, welche die Ignoranz der Masse auf Zaubertränke schiebt. Sie bleibt nicht bei bloßer Wertschätzung stehen, vielmehr bringt sie Wohltätigkeit hervor und wird sogar zur Neigung; sie überredet ohne Worte und findet Gelingen ohne Verdienste. Es gibt sie aktiv und [34]passiv; die eine und die andere sind Glücksumstände, umso mehr, wenn sie erhaben sind. Großes Talent, sie zu kennen, sie zu unterscheiden und sie zu nutzen verstehen, denn kein Streben reicht hin ohne diese heimliche Hilfe.

45 Reflexionen nutzen, aber nicht überbenutzen. Man soll sie nicht zur Schau stellen; noch weniger zu verstehen geben: alles der Kunst Entsprechende muss verdeckt werden, denn es weckt Verdacht, und am meisten die Vorsicht, sie ist verhasst. Täuschung wird viel gebraucht; man soll den Argwohn vermehren, ohne es zu zeigen, denn das würde Grund zum Misstrauen geben; es löst oft Beziehungen auf und beschwört Rache herauf, ruft Böses hervor, das sich nicht vorstellen ließ. Die Reflexion über das Vorgehen hilft sehr beim Handeln: ein stärkeres Argument fürs Nachdenken gibt es nicht. Die größte Vollkommenheit im Handeln vertraut auf die Meisterschaft, mit der es ausgeführt wird.

46 Seine Antipathie unter Kontrolle bringen. Wir pflegen aus freien Stücken zu verabscheuen und noch bevor wir Fähigkeiten gesehen haben; und manchmal wagt sich diese angeborene, gemein machende Abneigung an die herausragenden Männer. Die Weisheit soll sie unter Kontrolle bringen, nichts schadet dem Ansehen mehr, als die Besten zu verabscheuen; so wie die Sympathie für Helden von Vorteil ist, ist die Abneigung ein Makel.

 

[35]47 Die Verpflichtungen fliehen. Ist unter den ersten Elementen der Vorsicht. Große Fähigkeiten sind immer auf großem Abstand zu den letzten Möglichkeiten: von einem Extrem zum andern gibt es weite Wege zu gehen, und sie stehen immer in der Mitte ihrer Weisheit; sie lassen es spät zum Bruch kommen, denn es ist leichter, sich Anlässen zu entziehen, als gut aus ihnen hervorzugehen. Das sind Versuchungen des Urteils, sicherer, ihnen zu entgehen, als sie zu bezwingen. Jedes Vorhaben bringt ein weiteres mit und steht sehr nah am Rand des Scheiterns. Es gibt Menschen, die aufgrund ihres Gemüts und sogar ihres Nationalcharakters zu Risiken neigen, sich leicht Verpflichtungen aussetzen; wer aber im Licht der Vernunft geht, steht immer weit darüber: er hält es für den größeren Mut, sich nicht einzulassen, als zu siegen, und wenn es einen Toren gibt, der zu Risiken neigt, hält er sich heraus, damit es mit ihm nicht zwei sind.

48 Ein Mensch mit Tiefe hat entsprechend Persönlichkeit. Immer und in allem muss das Innen deutlich mehr sein als das Außen. Es gibt Leute, die nur Fassade sind, wie Häuser, die noch fertiggestellt werden müssen, weil das Geld fehlte: sie haben den Eingang eines Palasts und den Wohnraum nach Art einer Hütte. Bei ihnen kann man nicht halten; oder alles hält an, weil nach dem Ende des ersten Grußes die Unterhaltung endete. Sie treten mit den ersten Höflichkeiten wie sizilianische Pferde auf, und dann enden sie mit Schweigen, denn die Worte gehen aus, wo es keinen beständigen Fluss des Gedankens gibt. Leicht täuschen sie andere, die auch einen oberflächlichen Blick haben, aber nicht [36]den Scharfsinn, der sie, weil er nach innen schaut, leer findet, einen Spott der Umsichtigen.

49 Mensch mit Urteil und genauem Blick. Er beherrscht die Dinge, nicht die Dinge ihn. Er untersucht nämlich den Grund der größten Tiefe; er versteht vollkommen die Anatomie eines Vermögens. Wenn er eine Persönlichkeit sieht, versteht und schätzt er sie in ihrem Kern ein. Mit wenigen Beobachtungen entziffert er die verborgenste Innenwelt. Er nimmt scharf zur Kenntnis, denkt differenziert, folgert mit Urteilskraft; alles entdeckt, bemerkt, fasst und versteht er.

50 Nie die Selbstachtung verlieren. Noch mit sich selbst allzu vertraulich sein. Eigene Rechtschaffenheit muss das Maß des richtigen Verhaltens sein, und man soll sich mehr an den Ernst seines eigenen Urteils halten als an alle äußeren Vorschriften. Was anstößig ist, soll man unterlassen, mehr aus Respekt vor der eigenen Klugheit als wegen der Strenge der fremden Autorität. Man soll dahin kommen, sich selbst zu fürchten, dann braucht man nicht den Erzieher, den Seneca sich vorstellt.

51 Ein Mensch, der gut auswählt. Davon lebt man am meisten. Ein guter Geschmack und striktester Sachverstand sind Voraussetzungen, Gelehrsamkeit und Verstand reichen nicht aus. Es gibt keine Vollkommenheit ohne Auswählen; und dies schließt zwei Vorrechte ein: dass man [37]aussuchen und dass man das Beste aussuchen kann. Viele Leute mit reichem und feinem Verstand, mit Urteil, Gelehrsamkeit und Scharfblick verlieren die Orientierung, wenn es zum Auswählen kommt; sie verheiraten sich immer mit dem Schlechtesten, so als ob es ihnen darum ginge, zu irren; daher ist dies eine der größten Gaben von oben.

52 Nie die Fassung verlieren. Großes Element der Klugheit, nie die Beherrschung zu verlieren: dies spricht für wahre Größe, für Adel des Herzens, denn hoher Geist ist schwer in Rührung zu bringen. Die Leidenschaften sind die Launen des Geistes, und ihr Übermaß setzt die Klugheit außer Kraft; und wenn diese Krankheit den Mund verlässt, wird sie zu einer Gefahr für das Ansehen. Man soll deshalb so sehr Herr über sich selbst und so groß sein, dass einem weder in den günstigsten noch in den schwierigsten Momenten der Vorwurf der Verwirrung, sehr wohl aber hohe Bewunderung gebührt.

53 Tätig und intelligent. Die Tätigkeit führt prompt aus, was die Intelligenz ausführlich bedenkt. Eile ist eine Leidenschaft der Toren, die ohne Bedenken handeln, weil sie das Hindernis nicht entdecken; die Weisen hingegen sind gewöhnlich allzu verhalten, denn beim genauen Hinsehen tauchen Bedenken auf. Manchmal verhindert zögernde Tatkraft die Umsetzung von richtigen Einsichten des Sachverstands. Prompt sein ist eine Mutter des Glücks. Viel hat getan, wer nichts für morgen übrigließ. Ein hoher Grundsatz: eile langsam.

[38]54 Weisheit mit Kraft verbinden. Den toten Löwen zupfen selbst die Hasen. Mit Mut ist nicht zu scherzen; wer dem Ersten nachgibt, wird auch dem Zweiten nachgeben müssen, und so bis zum Letzten; ähnlich geht es mit späten Siegen, früh wäre besser. Die Kraft des Geistes übertrifft die körperliche Kraft; sie ist wie ein Schwert, das wir immer für den richtigen Moment in der Scheide der Klugheit halten. Sie ist der Schutz unserer Person; es schadet mehr, wenn der Geist als wenn der Körper schwach wird. Viele hatten herausragende Fähigkeiten, die wie tot wirkten und unbenutzt begraben wurden, weil ihnen jener Atem des Herzens fehlte; nicht ohne guten Grund verband die aufmerksame Natur die Süße des Honigs mit dem scharfen Stachel der Biene. Nerven und Knochen gibt es im Körper: der Geist darf nicht nur sanft sein.

55 Warten können. Spricht für ein großes Herz, das durch Leiden breiter geworden ist. Sich nie unter Druck setzen oder den Leidenschaften nachgeben. Man soll zuerst Herr über sich selbst sein, und dann wird man Herr über andere werden. Durch die Räume der Zeit zum Mittelpunkt der Gelegenheit wandern. Die weise Zurückhaltung bringt die Einsichten zum Erfolg und die Geheimnisse zum Vorschein. Die Krücke der Zeit richtet mehr aus als die eiserne Keule des Herkules. Gott selbst straft nicht mit einem Stock, sondern mit der Zeit. Ein großer Satz: »die Zeit und ich, wir nehmen es mit zwei anderen auf.« Das Glück selbst beschenkt Warten mit der Größe des Lohns.

[39]56 Geistesgegenwart haben. Sie entsteht aus glücklicher Schnelligkeit. Aufgrund ihrer Lebendigkeit und Direktheit gibt es für sie weder Druck noch Zufall. Manche denken sehr viel nach, um dann ganz falschzuliegen; und andere gehen immer richtig, ohne vorher nachzudenken. Es gibt antiparastatische Genies, die unter Herausforderungen besser handeln; sie sind Ungeheuer, weil sie beim Improvisieren immer richtig- und beim Denken immer falschliegen; was ihnen nicht gleich in den Sinn kommt, kommt nie, später nachfragen lohnt sich nicht. Man spendet den Geistesgegenwärtigen Beifall, weil sie eine wunderbare Fähigkeit zeigen: Differenziertheit im Denken; Klugheit im Handeln.

57 Sicherer sind die, die nachdenken. Was gut ist, ging schnell genug. Was man gleich macht, löst sich auch gleich wieder auf; was aber für immer halten soll, braucht auch für immer, um zu entstehen. Nur die Vollkommenheit zählt, und nur das Gelungene hat Dauer. Verstand mit Gründlichkeit schafft Dinge für immer. Was großen Wert hat, verlangt große Anstrengung; denn auch das edelste der Metalle dauert am längsten und hat das größte Gewicht.

58 Verstehen, sich angemessen zu verhalten. Man muss nicht gegenüber allen gleich viel Verstand zeigen, noch mehr Kraft verwenden, als gebraucht wird. Keinen Überschuss, weder im Wissen noch im Tun: der gute Falkner lässt nicht mehr Vögel aufsteigen, als er zum Jagen braucht. Die Dinge nicht immer zur Schau stellen, sonst gibt es am [40]nächsten Tag keine Bewunderung mehr. Man muss immer etwas Neues haben, um damit zu glänzen, denn wer jeden Tag mehr aufdeckt, hält immer Erwartung aufrecht, und so wird es den anderen nie gelingen, die Grenzen seiner Möglichkeiten zu entdecken.

59 Mann von gutem Nachgeschmack. Wenn man das Haus des Glücks durch die Tür des Gefallens betritt, dann verlässt man es durch die des Bedauerns und umgekehrt. Achtung also, was das Ende angeht! Besser ist es, sich um einen glücklichen Abgang zu sorgen als um Beifall beim Eingang. Das Los der Unglücksraben ist es, sehr günstige Anfänge und sehr tragische Enden zu haben. Es kommt nicht auf den Beifall der Masse beim Auftritt an, der sieht bei allen gut aus, sondern auf das allgemeine Gefühl beim Abtreten, nur wenige gibt es, die man sich zurückwünscht. Selten begleitet das allgemeine Bedauern diejenigen, die abtreten: was sich an Freundlichkeit gegenüber denen zeigt, die kommen, an Unhöflichkeit gegenüber denen, die gehen.

60 Gute Urteile. Einige kommen klug auf die Welt: mit diesem Vorteil der angeborenen Vernunft treten sie in die Welt des Wissens ein und sind so schon den halben Weg zum Gelingen gegangen. Mit dem Alter und der Erfahrung kommt ihr Verstand zur vollen Reife, und sie erreichen ein sehr abgewogenes Urteil; sie verabscheuen jeden Eigenwillen als Verführung der Klugheit, umso mehr, wenn es um Staatsgeschäfte geht, wo man aufgrund ihrer Bedeutung [41]voller Gewissheit bedarf. Solche Leute verdienen am Ruder zu stehen, als Handelnde oder als Ratgeber.

61 Herausragen im Besten. Etwas Einziges unter einer Vielzahl von Vollkommenheiten. Es kann keinen Helden ohne eine über alles erhabene Eigenschaft geben: Mittelmaß ist nicht Gegenstand des Beifalls. In einem wichtigen Amt herausragen, dies sondert einen aus der gemeinen Menge aus und erhebt in die Kategorie der Seltenen. In einem bescheidenen Beruf herausragend sein heißt etwas im Geringen sein: was daran angenehm ist, geht auf Kosten des Ruhms. Exzellenz auf den höchsten Gebieten ist wie ein Status von Herrschaft: sie fordert die Bewunderung und gewinnt die Zuneigung.

62 Mit guten Werkzeugen arbeiten. Manche wollen, dass sich der außerordentliche Grad ihres Geschicks von der Dürftigkeit ihrer Werkzeuge abhebt; eine gefährliche Befriedigung, die Bestrafung vom Schicksal verdient. Nie hat die Qualität des Ministers die Größe des Herrn gemindert; eher fällt das Ansehen des Gelingens am Ende auf seine erste Ursache zurück, so wie umgekehrt mit dem Tadel. Der Ruhm begleitet immer die Ersten. Es heißt nie: »er hatte gute oder schlechte Minister«, sondern: »er war ein guter oder schlechter Urheber.« Es soll also Auswahl, es soll Urteil geben, ihnen wird man mit der Unsterblichkeit des Ansehens trauen.

[42]63 Die Auszeichnung, Erster zu sein. Und sie ist doppelt, wenn Meisterschaft dazukommt. Ein großer Vorteil, zuerst zu spielen, bei gleich verteilten Karten bringt er den Sieg. Viele wären ein Phönix in ihrem Beruf gewesen, wenn nicht andere vor ihnen an der Reihe gewesen wären. Die Ersten steigen mit dem Hauptanteil des Ruhms auf, und den Zweiten bleibt nur der Streit um den Rest des Erbes, sosehr sie auch schwitzen, können sie sich nicht vom gemeinen Vorwurf des Nachahmens befreien. Es war das Geschick der Außergewöhnlichen, neue Wege zur höchsten Ebene zu finden, solange die Weisheit vorab den Einsatz bedachte. Durch Erneuerung schufen sich die Weisen einen Platz unter den Helden. Manche wollen lieber Erste in der zweiten als Zweite in der ersten Kategorie sein.

64 Unannehmlichkeiten zu vermeiden wissen. Es ist eine einträgliche Klugheit, sich Enttäuschungen zu ersparen. Die Vorsicht vermeidet viele: sie ist die Lucina des Glückes und so auch der Zufriedenheit. Die schlechten Nachrichten nicht weitergeben und noch weniger annehmen: man muss ihnen den Eingang verbieten, außer wenn es der zu einer Lösung ist. Manche wollen allein süßes Geschmeichel hören; andere nur bitteren Klatsch, und manche können ohne täglichen Ärger nicht leben, wie Mithridates mit dem Gift. Ebenso wenig ist es eine Regel der Selbsterhaltung, sich einen lebenslangen Grund der Unannehmlichkeit zu geben, um einem anderen, sosehr es das richtige ist, einmal einen Grund zur Freude zu geben. Man soll nie gegen das eigene Glück handeln, um jemandem zu behagen, der Ratgeber ist und außen bleibt; und auf jeden Fall ist es die angemessene [43]Lehre, wo immer sich das Behagen des anderen und die eigene Enttäuschung treffen, dass sich besser der andere jetzt ärgern sollte als du später und unumkehrbar.

 

65 Besonderer Geschmack. So wie der Verstand ist er der Ausbildung fähig. Herausragendes Verstehen erhöht die Qualität der Wünsche und später den Genuss des Besitzens. Das Hohe einer Begabung erkennt man an der erhabenen Neigung. Um eine große Fähigkeit zu befriedigen, bedarf es eines großen Gegenstands; wie große Bissen zu großen Gaumen gehören, so erhabene Stoffe zu erhabenen Geistern. Die wertvollsten Dinge richten sich nach dem Geschmack, und selbst die gewissesten Vollkommenheiten verlassen sich nicht auf ihn; in allererster Größe sind sie selten: Hochschätzung soll selten bleiben. Guter Geschmack teilt sich im Umgang mit und wird mit der Dauer erblich: großes Glück ist es, sich mit jemandem auszutauschen, der ihn in der richtigen Form besitzt. Doch soll es keine Verpflichtung werden, mit allem unzufrieden zu sein, das ist außerordentliche Dummheit, verächtlicher noch als Pose denn aus Unausgeglichenheit. Manche wünschten, dass Gott eine andere Welt und andere Formen der Vollkommenheit zur Befriedigung ihrer ausschweifenden Phantasie erschüfe.

66 Darauf achten, dass die Dinge gut ausgehen. Manche sehen mehr auf die Genauigkeit der Richtung als auf das Glück im Erreichen der Absicht, doch dabei unglücklich sein schadet dem Ruf mehr als das Nachlassen des Fleißes. [44]Wer siegt, braucht keine Rechenschaft ablegen. Die meisten nehmen nicht die genauen Umstände wahr, sondern den guten oder misslungenen Ausgang; so verliert nie Ansehen, wer seine Absicht umsetzt. Ein gutes Ende vergoldet alles, auch wenn die Wahl der Mittel dem widerspricht; es ist eine Kunst, gegen die Regeln der Kunst zu gehen, falls anders das Glück des guten Ausgangs nicht erreicht werden kann.

67 Anerkannte Ämter vorziehen. Die meisten Dinge hängen von der Befriedigung anderer ab. Die Wertschätzung ist für die Vollkommenheiten, was milder Westwind für die Blumen ist: Atem und Leben. Es gibt Aufgaben, die allgemeinen Beifall auslösen können, und andere, die keine Beachtung finden, obwohl sie größer sind: jene erheischen das gemeine Wohlwollen, weil sie sich vor den Augen aller vollziehen; diese werden nicht wahrgenommen und bleiben geheim, geehrt, aber ohne Beifall, obwohl sie seltener und vortrefflicher sind. Unter den Fürsten werden die Siegreichen gefeiert, und als Krieger, Eroberer und edelmütige Helden waren die Könige von Aragón so berühmt. Ein großer Mann muss sichtbare Aufgaben vorziehen, die alle wahrnehmen und die für alle wichtig sind, so erlangt er in der gemeinen Wahl Unsterblichkeit.

68 Verstehen schenken. Ist von größerem Wert als Erinnern schenken, insofern es größer ist. Manchmal muss man sich erinnern und andere Male aufpassen. Einige versäumen, die Dinge im richtigen Moment zu tun, weil sie ihnen [45]nicht in die Augen fallen; dann soll ein freundlicher Hinweis helfen, wahrzunehmen, was angebracht ist. Eine der größten Vorzüge des Geistes ist es, dass sich ihm zeigt, was wichtig ist. Wo dies ausbleibt, wird vieles Richtige nicht gemacht. Wer über Licht verfügt, der soll es geben, und fordern soll es, wem Licht fehlt: jener mit Gelassenheit, dieser mit Zuwendung; nicht mehr als eine Andeutung soll es sein. Dringend braucht man solch feines Verhalten, wenn ein praktisches Interesse dessen im Spiel ist, der reagiert; dann muss man Bereitwilligkeit zeigen und wenn das nicht ausreicht, noch weiter gehen: das Nein hat man schon, man kann sich also mit Geschick um das Ja bemühen, meistens wird etwas deshalb nicht erreicht, weil es gar nicht versucht wird.

69 Sich nicht gemeiner Laune ergeben. Ein großer Mensch, wer sich nie wechselnden Eindrücken unterwirft. Eine Schule der Weltoffenheit ist das Nachdenken über sich selbst: seine momentane Neigung erkennen und ihr vorbauen, und dann auf die entgegengesetzte Seite gehen, um zwischen Natur und Reflexion den Punkt der Vernunft zu finden. Selbsterkenntnis ist der Beginn der Selbstbesserung; es gibt Ungeheuer der Zumutung: sie stecken immer in irgendeiner Laune und ändern mit ihr das Verhalten; und am Band dieses Ärgernisses lassen sie sich auf ganz entgegengesetzte Richtungen ein. Und nicht bloß den Willen verdirbt dieses Ausschweifen, es beeinträchtigt auch das Urteil, indem es das Wollen und das Verstehen verschiebt.

[46]70 Nein-Sagen-Können. Nicht allen und nicht allem darf man Zugeständnisse machen. Das ist genauso wichtig wie das Zugestehen-Können; und wer Befehle gibt, muss darauf unbedingt achten. Hier kommt es auf die Art und Weise an: mehr schätzt man das Nein des einen als das Ja des anderen, weil ein vergoldetes Nein mehr befriedigt als ein trockenes Ja. Viele haben immer das Nein im Mund, und verderben alles damit; das Nein kommt bei ihnen immer zuerst, und selbst wenn sie später alles zugestehen, schätzt man sie nicht, weil jene erste Verärgerung vorausging. Man soll die Dinge weder gleich rundum abschlagen: Enttäuschung vollzieht sich besser schluckweise; noch ganz abschlagen, denn das hieße, eine Abhängigkeit aufheben. Es muss immer ein Rest von Hoffnung bleiben, um die Bitterkeit der Weigerung zu mildern. Höflichkeit soll das Ausbleiben eines Gefallens ausfüllen und gute Worte den Mangel der Taten ersetzen. Das Nein und das Ja sind schnell gesagt, aber fordern viel Nachdenken.

71 Nicht holperig sein, unausgeglichen in seinem Benehmen. Weder aus Spontaneität noch aus Verstellung. Der kluge Mann war immer derselbe in allem Vollkommenen, so gilt er als verständig. Wenn er sich ändert, dann darf das nur von Gründen und Verdiensten abhängen. Für die Klugheit ist Abwechslung hässlich. Manche haben jeden Tag ein anderes Selbst; sogar ihr Verstand ist holperig, umso mehr ihr Wille, um vom Glück nicht zu reden. Gestern ein weißes Ja, heute ein schwarzes Nein, so schaden sie immer ihrem eigenen Ansehen und verwirren das Denken der anderen.

[47]72 Entschlossener Mensch. Weniger schädlich ist die schlechte Ausführung als die Unentschlossenheit. Substanz verbraucht sich weniger im Fließen als im Stocken. Es gibt Menschen, die sich nicht entschließen können und immer einen Bewegungsimpuls von außen nötig haben; und manchmal entsteht dies nicht so sehr aus der Lähmung ihres Urteils, das umsichtig ist, wie aus mangelnder Tatkraft. Intelligent ist es, Schwierigkeiten zu sehen, aber noch mehr, Wege aus unangenehmen Lagen zu finden. Andere gibt es, die sich von nichts aufhalten lassen, mit umfassendem und entschlossenem Urteil wurden sie für außergewöhnliche Aufgaben geboren, weil ihr klares Verstehen Einsicht und Tun befördert; für sie ist alles fertig, und nachdem er der einen Welt Sinn gegeben hat, blieb einem von diesen noch Zeit für eine andere; und wenn solche Leute ihrem Glück vertrauen, finden sie Lösungen mit noch größerer Sicherheit.

73 Zufälle zu nutzen verstehen. So lösen sich kluge Leute aus Verwicklungen. Mit Großzügigkeit und Witz finden sie aus dem verworrensten Labyrinth. Anmutig und lächelnd entgeht ihr Körper der schwersten Schlacht. Darauf gründete der bedeutendste der Grandes Capitanes seine Stärke. Eine höfliche List des Ablehnens ist es, das Thema zu wechseln, und keine größere Form der Zugewandtheit gibt es, denn so zu tun, als habe man nicht verstanden.

[48]74 Nicht unnahbar sein. An den dichtestbewohnten Orten leben die wahren Bestien. Die Unzugänglichkeit ist ein Laster derer, die sich selbst nicht kennen und je nach den Ehrenbezeigungen ihre Laune ändern. Es ist kein Weg zur Wertschätzung, mit einer Verärgerung zu beginnen. Was es ist, eines dieser unnahbaren Ungeheuer zu sehen, welche immer die Zumutung ihrer Unfreundlichkeit auf die Spitze treiben! Zu ihrem Unglück treten die Abhängigen in ein Gespräch mit ihnen ein, wie in einen Kampf mit Tigern, für den sie sich mit Vorsicht ebenso wie mit Argwohn wappnen. Um ihren Status zu erreichen, machten sie sich bei allen beliebt, und wenn sie einmal dort sind, wollen sie sich entschädigen, indem sie alle verärgern. Statt für viele da zu sein, wie es die Stellung fordert, sind sie es aufgrund ihrer Ungeschliffenheit und Herablassung für niemanden. Die höfische Strafe für sie diese: sie stehen lassen und ihnen mit dem Umgang die Klugheit nehmen.

75 Einen Begriff des Helden auswählen. Eher als Herausforderung denn zur Nachahmung. Es gibt Vorbilder wahrer Größe und Bücher voll Inspiration auf dem Weg zum Ruhm. Jeder soll sich an die Besten in seinem Amt halten, nicht um ihnen zu folgen, sondern um selbst weiterzukommen. Alexander weinte nicht, weil Achilles begraben, sondern weil er selbst noch nicht zu Ruhm gelangt war. Nichts ruft Ehrgeiz im Geist so hervor wie die Lobes-Posaune für andere: wie sie den Neid zu Boden wirft, ermutigt sie den Edelmut.