Die Selbstzerstörung der Demokratie

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Was für das einzelne Ich evident ist, gilt noch stärker für das kollektive Subjekt, für das Wir. Die Sprache, in der sich jedes Nachdenken über die eigene Identität artikuliert, verweist auf die übergeordnete Gemeinschaft, die den Menschen als »Zoon politikon« umfasst. Der einzelne Denkende kann niemals völlig neu beginnen, sondern bewegt sich, auch wenn seine Gedanken das Weltbild der Menschen revolutionieren, immer schon in den Bahnen, die andere vorgezeichnet haben; er knüpft mit dem sprachlichen Erbe an dasjenige ihres Geistes an und hat sich mit diesem auseinanderzusetzen. Nicht nur er selber denkt, sondern seine Sprache denkt in ihm und durch ihn – eine Erkenntnis, die jedoch nicht zum anderen Extrem verleiten darf: zu dem postmodernen Schlagwort vom »Tod des Autors«, der sich in ein Netzwerk von Diskursen auflöst. Jedes Netz hat auch seine Knoten, in dem mehr oder weniger Fäden zusammenlaufen.

Darüber hinaus gibt es die Felder der Sitten und Gebräuche, der rechtlichen und moralischen Vorstellungen, sowie insbesondere der Religion, aus der die Regeln des Zusammenlebens hervorgegangen sind. Sie prägen die Identität einer Gemeinschaft, die durch eine gewisse genetische Verwandtschaft gekennzeichnet ist und sich von gemeinsamen Vorfahren herleitet. Die biologischen Übergänge zu anderen Völkern und Stämmen sind mehr oder weniger fließend, und wenn wir weit genug zurückgehen, stoßen wir auf immer kleinere Menschengruppen, von denen wir abstammen. Genetiker sprechen aufgrund deren geringer Zahl vom Phänomen des »Ahnenschwunds«.96 Oft werden solche Rekurse auf die Prähistorie als Argumente gegen nationale und kulturelle Identitäten ins Feld geführt – hier ist jedoch anzumerken, dass die Vorgeschichte das Menschsein letztlich der Biologie überlässt, während erst die bekannte, überlieferte Geschichte Identitätszusammenhänge stiftet. Zwar teilen wir die meisten Gene und biologischen Eigentümlichkeiten mit allen anderen Menschen, aber politisch wird die Menschheit deswegen noch keine Einheit bilden, da wir uns – durchaus auch aus biologischen Gründen – eher mit unseren Nächsten als mit den Fernsten identifizieren; diese Nächsten sind gewöhnlich die Mitglieder unserer Familie, um die sich in konzentrischen Ringen die Gemeinschaften von Freunden, Gesinnungsgenossen und Bünden, von Stadt und Land, schließlich der Nation, des Kulturraumes und zuletzt und am abstraktesten der Menschheit lagern.

Die fließenden Übergänge, aufgrund derer wir letztlich alle miteinander verwandt und in abgestuftem Maße einander ähnlich sind, führen also nicht dazu, dass wir alle miteinander in gleicher Weise verbunden sind. Dies liegt erstens an den höheren oder niederen Graden der Verwandtschaft, zweitens aber auch an externen Maßstäben wie Grenzziehungen. Man mag biologisch mit Menschen jenseits einer Grenze enger verwandt sein als mit vielen Menschen diesseits, aber die politische Welt konstituiert eine metabiologische Ordnung, die die »unscharfen Ränder« (Wittgenstein) des mehr oder weniger Verwandten gleichsam nachschärft. Die Gemeinschaft erfährt sich durch ihre Umgrenzung sowie durch die – friedliche oder kriegerische – Begegnung mit der Welt jenseits der Grenzen als Schicksalsgemeinschaft, und die Stabilität einer Nation hängt wesentlich davon ab, in welchem Maße ihre verschiedenen (sprachlichen, kulturellen, biologischen) Einheiten durch einen politischen Willen zur Deckung gebracht werden. Oft ist es ein gemeinsamer Feind, der die nebeneinander Lebenden aufgrund der gemeinsamen Bedrohung zu einer Einheit zusammenschweißt, aber auch dann ist die Einheit noch ein Akt des Willens, der sich täglich bewähren muss.

Hier zeigen sich die Unterschiede zwischen individueller und kollektiver Identität am deutlichsten. Zwar konstituiert sich Identität jeweils zuerst auf der gefühlsmäßigen und erst später auf der intellektuellen Ebene, und sicher lassen sich individuelles Bewusstsein und politisches Handlungszentrum, Unterbewusstsein und unhinterfragtes gemeinschaftliches Über-Ich (in Gestalt von Sitten und Gebräuchen) parallelisieren, aber auf kollektiver Ebene bedarf das Gefühl einer Vermittlung, die für das individuelle Ich nicht gegeben sein muss und kann: Meine Schmerzen erlebe ich, wie oben schon angedeutet, stets und unhinterfragbar als meine Schmerzen, aber die Schmerzen des Nachbarn, ja der Eltern oder Kinder, muss man sich erst durch einen Akt der Vergemeinschaftung zuordnen, um sich selbst betroffen zu fühlen. Je näher die Verwandtschaft, desto zuverlässiger, schneller und instinktgeleiteter verläuft dieser Vergemeinschaftungsakt, aber im Großraum einer Nation bedarf es vermittelnder Instanzen – des Staatsapparates und der Medien –, die etwa eine Bedrohung zum Gemeinschaftsfall erklären. Die Identität der Nation beruht also immer auch auf einem von Eliten vorformulierten und von den breiten Massen nachvollzogenen politischen Willen, sich im Dasein zu erhalten und zu behaupten. Die Nation ist in den Worten von Ernest Renan »ein tägliches Plebiszit«:

»Die Nation ist eine große Solidargemeinschaft, die durch das Gefühl für die Opfer gebildet wird, die erbracht wurden und die man noch zu erbringen bereit ist. Sie setzt eine Vergangenheit voraus und lässt sich dennoch in der Gegenwart durch ein greifbares Faktum zusammenfassen: die Zufriedenheit und den klar ausgedrückten Willen, das gemeinsame Leben fortzusetzen. Die Existenz einer Nation ist (man verzeihe mir diese Metapher) ein tägliches Plebiszit, wie die Existenz des Individuums eine ständige Bekräftigung des Lebens ist.«97

In diesem stets zu erneuernden Willen, »das gemeinsame Leben fortzusetzen«, in seiner Artikulation und Behauptung, liegt der Sinn des Politischen. Es liegt auf der Hand, dass der Wille zum Selbsterhalt nicht zwangsläufig Expansion und Krieg oder, nach innen, Diktatur und Unterdrückung bedeuten muss, wie heute oft unterstellt wird. Im Gegenteil: Eine Politik, die danach strebt, mit den Nachbarn friedlich zusammenzuleben, und die Freiheitsrechte des Bürgers sicherstellt, wird den Fortbestand der Nation eher fördern.

Dem Willen zum Wir muss allerdings das Gefühl, in einem vagen Sinne bereits ein solches Wir zu sein, zugrunde liegen. Um dieses näher zu bestimmen, ist ein weiterer kurzer Rückblick auf das Identitätsdenken der Deutschen Romantik, die das Selbstbild unserer Nation so stark geprägt hat, sinnvoll.

Der Philosoph Kurt Hübner unterscheidet fünf für das romantische Denken charakteristische Versuche, die Identität der Nation auf den Begriff zu bringen:98 Der erste »Romantische Identitätstypus« bestand darin, eine bestimmte historische Epoche herauszugreifen, in der das deutsche Wesen besonders unverfälscht hervorgetreten sei, etwa im Mittelalter oder in der Reformationszeit. Wenn aber eine vergangene Zeit noch fortwirkt, muss sie in einem bestimmten Sinne auch gegenwärtig sein.

Der zweite stützt sich auf einen »nationalen Urmythos, aus dem die geistige Evolution einer Nation abgeleitet werden könne.«99 Jakob Grimm etwa vermutete, »dass gewisse mythische Grundvorstellungen beinahe von allen Völkern geteilt werden, aber jede Nation gibt ihnen ein spezifisches Kolorit und entwickelt sie auf ihre Weise. […] Nach Grimm wächst aus der Poesie des Mythos das gesamte, unverfälschte nationale Leben wie in einem weitverzweigten Baum.«100 Allerdings beklagten gerade die Romantiker oft, dass die Deutschen von ihren mythischen Quellen abgeschnitten seien – vielleicht ist dieser Heraustritt aus dem Mythos, der auf die Wiederkehr des verlorenen goldenen Zeitalters hingeordnet ist, aber ebenso ein Teil der deutschen Identität wie der Mythos selbst.

Nach dem dritten Romantischen Identitätstypus wird das nationale Wesen nach Art einer Entelechie verstanden, als ein Strukturprinzip, das sich aufgrund einer inneren Anlage wie die Pflanze aus ihren Samen entfaltet. Im 20. Jahrhundert hat vor allem Oswald Spengler diese Auffassung, von Nationen auf Kulturen erweitert, populär gemacht. »Mit der Vorstellung eines inneren Prinzips, das es gestattet, die Nation im Bilde einer Pflanze zu veranschaulichen, weil sie sich wie diese nach ihrem eigenständigen Gesetz entfaltet und dabei doch wechselnden Bedingungen anpasst, ist freilich gegenüber den anderen bereits abgehandelten Romantischen Identitätstypen nur dies gewonnen, dass auf einen abstrakten Begriff gebracht wird, was jene in der Form konkreter Mythen oder zahlreicher Einzelbeispiele fassen sollen.«101 Liegen eine historische Epoche oder der Urmythos in der Vergangenheit, so hat die Entelechie ihre eigene Zeitlichkeit, verweist also auf das Ganze der geschichtlichen Entwicklung. Aufgrund seiner Analogien zur Natur ist dieser organismische Blickwinkel für eine Position, die den rationalistisch-diskursiven Modellen der Aufklärung kritisch gegenübersteht, bis heute attraktiv – jedoch wirft er die Fragen auf, wie sich etwa Jugend, Blütezeit, Reife und Verfall des nationalen Lebens bestimmen lassen sollen: War z.B. die höfische Epoche des Hochmittelalters das deutsche Jünglingsalter und die klassisch-romantische Zeit das Alter der Reife, oder ist nicht bereits die höfische Epoche eine Spätzeit gewesen, in der die Jugend der Völkerwanderungszeit zu poetischer Entfaltung gelangte? War die Reformation der Untergang des Mittelalters oder der Aufgang des Deutschtums? Sah sich nicht schon die Romantik, in der den Nachgeborenen das deutsche Wesen besonders deutlich zum Ausdruck zu kommen schien, als Spätzeit? Und kann nicht sogar noch die literarische Moderne mit ihren vielfältigen Strömungen als eine zweite, bis heute vorbildliche Klassik verstanden werden? Die Analogie zum vegetativen Leben hat offenbar ihre Grenzen.

Und nach dem vierten Typus schließlich, den vor allem Adam Müller, Leopold v. Ranke und Friedrich Carl v. Savigny vertreten haben, ist die Nation eine in ihrer unabgeschlossenen geschichtlichen Dynamik zu betrachtende Idee, die niemals begrifflich fixiert werden kann. Man könnte sagen, die Metapher der Pflanze wurde durch die des Flusses ersetzt, der ohne ersichtliche zeitliche Begrenzung weiterströmt. Diese Neufassung trägt der Indeterminiertheit des geschichtlichen Daseins Rechnung; allerdings stellt sich die Frage, ob angesichts solcher Offenheit überhaupt noch die Bestimmung eines Wesens möglich ist. Wann ist eine Einwicklung soweit fortgeschritten, dass etwas Neues entstanden ist? Welche geographischen, demographischen, kulturellen und konstitutionellen Veränderungen sind mit der Identität eines Volkes noch zu vereinbaren und welche nicht mehr? Einen wie großen Teil seines Staatsgebietes kann ein Volk verlieren, ohne an seiner Identität irreparablen Schaden zu nehmen? Unter welchen Bedingungen kann es in einer Diaspora seine Identität bewahren? Welcher Anteil an Immigranten kann assimiliert werden, und ab wann kommt es zur Überfremdung, zum »Volkstod«? Oder kann man den ethnischen Bestand eines Volkes völlig austauschen und es allein über seinen konstitutionellen Rahmen weiter definieren? Wenn »alles fließt«, bleibt dann nur noch das reine Fließen selbst?

 

Einen fünften Romantischen Identitätstypus erkennt Hübner zuletzt noch in dem Bestreben Herders oder Humboldts, den »Geist« einer Nation in ihrer Sprache erfassen zu wollen. Zu Recht sahen die klassisch-romantischen Denker in der Sprache nicht nur ein »totes« Zeichensystem, das der bloßen Benennung von Gegenständen dient; Sprache ist nach Humboldt ergon und energeia, »Werk« und »Tätigkeit«, ein lebendiger Prozess der Kommunikation und Interpretation, der dem Sprecher die Welt in einer je verschiedenen Weise erschließt. Jede Sprache habe ihre spezifische Subjektivität, »färbe« also die Perspektive dessen, der sich ihrer nicht nur bediene, sondern in ihr aufgewachsen sei – ein Ansatz, der vor allem von Nietzsche und in der hermeneutischen Philosophie etwa Hans-Georg Gadamers weiterentwickelt wurde. Eine Sprache präge also durch den jeweiligen Grad ihrer Exaktheit, emotionalen Expressivität usw. die jeweilige Weltsicht. Da Sprachen eine spezifische Lebendigkeit zukomme, unterlägen auch sie dem Gesetz des Werdens, Blühens und Vergehens, bildeten also eine Entelechie.

Hübner stellt hierzu fest, dass die Sprache, neben ihrer strukturell und linguistisch beschreibbaren Seite, durchaus eine national-kulturelle Dimension habe; sie sei als das Medium, in dem sich der nationale Geist bewege, dessen Bedingung, nicht aber dieser Geist selbst.

»Aus ihr vermögen wir jedoch höchstens zu erklären, dass diese oder jene Inhalte sich nur in dieser oder jener Sprache bilden konnten. Dagegen lässt sich aus der Einheit der Sprache, in der sich eine Gedankenwelt vollzieht, nicht die Einheit von deren Inhalt ableiten. Unendlich Verschiedenes, einander Widersprechendes, miteinander Inkompatibles oder Unvergleichliches vermag der unendlichen Tiefe der Sprache zu entspringen. Deswegen kann das Problem der nationalen Identität ebenso wenig mit Hilfe der Sprache gelöst werden wie das Problem der Identität einer einzelnen Person. Man könnte bildlich sagen, die Sprache sei die Mutter. Aber das aus ihrem Schoße Geborene, wie sehr es auch von der Mutter geprägt sein mag, lebt sein eigenes Leben, das weit über die Mutterbindung hinausgeht.«102

Die Sprache prägt den Geist einer Nation und wird von ihm selbst wiederum geprägt. Hübner versucht, die romantischen Ansätze in ihrer relativen Berechtigung zum einen in seiner Theorie »nationaler Systemmengen« und zum anderen in seiner Philosophie des Mythos weiterzuführen. »Die Identität einer Nation ist zu einem bestimmten Zeitpunkt durch eine strukturierte Systemmenge geprägt. Darin besteht ihre synchrone Identität.«103 Es handelt sich um nichts anderes als die »geschichtlichen Regelsysteme«, die durch gemeinsame Werte, Sprache, Sitten, politische Ideen, Rechtsauffassungen usw. vorgegeben werden und selbstverständlich mehr oder weniger inkohärent, widersprüchlich und veränderlich sind; dementsprechend kommt zur synchronen noch eine diachrone Systemmenge hinzu: Die Systeme verändern sich schließlich auf eine indeterminierte, aber nicht bloß zufällige Weise; sie verdrängen oder ergänzen sich oder gehen in einem Dritten auf. Was scheinbar zufällig geschieht, wird im Rückblick als schicksalhaft und damit sinnstiftend empfunden. Kein einzelner Bestandteil konstituiert für sich schon nationale Identität (außer im formalen Sinne einer Staatsbürgerschaft), auch die Summe zu einem bestimmten Zeitpunkt ist nicht entscheidend. Die Systemmengen bilden lediglich den »Stoff«, an dem sich historische Identität artikuliert. »Eine Nation definiert sich durch ihre Geschichte«,104 lautet das schlichte Fazit. Auf den darauf sich ergebenden Zirkel geht Hübner leider nicht ein, denn um sich durch ihre Geschichte zu definieren, muss die Nation bereits »wissen«, welche historischen Ereignisse Teil ihrer Genese sind und welche nicht. Die Identität muss also präreflexiv, als Identitätsgefühl und Bewusstsein eines gemeinsamen Schicksals, schon bestanden haben. Hübners systemtheoretischer Formalismus setzt das zu Erklärende also schon voraus.

Der Begriff des Schicksals verweist auf den für Hübner wichtigsten Aspekt nationaler Identifikation: den Mythos, den er ähnlich wie Mircea Eliade beschreibt. Mythisches Denken sei vor allem durch die Differenz von heiliger und profaner Zeit sowie durch die Einheit von Vergangenheit und Gegenwart, in der ein archetypisches Ereignis rituell erneuert und die Profanität der gewöhnlichen Zeit durchbrochen werde, bestimmt:

»So werden die archetypischen Geschichten der Götter als Ereignisse aufgefasst, die sich einmal in undatierbarer Zeit und an unbestimmbarem Ort ereignet haben und sich nun überall dort wiederholen, wo das Einzelne, Sterbliche, von ihnen durchdrungen, sich […] typisch verhält. Es handelt sich also um Ursprungsgeschichten, griechisch Archái, die immer wieder aufs Neue in die zeitlich-räumliche Wirklichkeit einbrechen und ihr einen bestimmten Ereignisverlauf aufprägen. Ihre Wiederholung ist also buchstäblich ein Wieder-Holen desselben. In undatierbarer Zeit zeigte Athene den Menschen, wie man Oliven anbaut, wie man töpfert, zeigte Demeter, wie man den Acker bestellt usw., und immer wieder ist die Gottheit substantiell anwesend und wird auch durch Gebet und Opfer herbeibeschworen, wo solches geschieht.«105

Die Götter selbst sind »Individuen mit Allgemeinheitsbedeutung« bzw. »Personifikationen archetypischer Mächte: Aphrodite ist die Personifikation der Liebe, Ares diejenige des Krieges, Apollo weitblickender Weisheit, Dionysos des Rausches usf.«106

Ähnlich wie die Zeit durch das »Wieder-Holen« eines archetypischen Ereignisses einen qualitativen Charakter hat und nicht bloß das leere Verstreichen immergleicher, zählbarer Augenblicke ist, so ist auch der Ort eine Ganzheit:

»Die Landschaft, der Kosmos, sind göttliche Sphären und Wirkungsfelder, der Raum ist nicht eine bloße Form, die verschiedene Inhalte beherbergen kann. ›Oben‹ ist das Reich der Olympier, ›unten‹ dasjenige der Unterwelt. Im Osten herrscht Eos, im Süden Notos, im Norden Boreas, im Westen ist das Haus der Hesperiden. Jeder Ort, an dem ein Gott wohnt, ist ein Témenos, ein heiliger Bezirk, und sofern der Gott in ihm anwest, erfüllt er ihn mit seiner substantiellen Gegenwart. In diesem Sinne sind alle Orte identisch, wo er haust. […] Mythischer Ort und mythische Zeit durchdringen substantiell die ›profane‹ Welt als das in ihnen wirkende ›Heilige‹.«107

In diesem Sinne weisen nach Hübner mythische und nationale Identifikation dieselben Strukturen auf, »die Einheit des Allgemeinen und Besonderen, des Ganzen und des Teils, des Ideellen und des Materiellen, die Einheit von Gegenwart und Vergangenheit usw. Mythisches Denken ist also keineswegs notwendig an einen bestimmten Zyklus von Göttergeschichten gebunden, es kann uns vielmehr überall begegnen, so in der Kunst (die fast immer mythisch ist) und selbst im täglichen Leben. […] Auch die Nation ist eine Personifikation und ein überzeitliches Individuum mit Allgemeinheitsbedeutung, ohne deswegen aber eine Gottheit zu sein.«108

Die Schicksalhaftigkeit großer nationaler Ereignisse, das Fortwirken der Vergangenheit und deren Anwesenheit an »heiligen Orten« bilden die mythische Struktur der Nation:

»Alle nationalen Heiligtümer, also jene, die auch ohne jedes Pathos konstitutives Element des nationalen Selbstverständnisses sind, werden in Wahrheit unter einem transzendenten, die unmittelbar gegebene Welt sinnlicher Erscheinung übersteigenden Aspekt betrachtet. In der Gegenwärtigkeit des Vergangenen, das diese Heiligtümer bedeuten, ist die Kette ›profaner‹ Kausalität ausgeschaltet, für die es ja nur eine seriell abzählbare Zeitfolge gibt. Sie alle vermitteln daher die Botschaft von Schicksal und die Anwesenheit der Toten. Das aber bedeutet nichts anderes als das Vorliegen eines Numinosen.«109

Der gewöhnlichen, »profanen« Realität der Politik, die uns über die Massenmedien vermittelt wird, liegt ein primäres Ausdrucksgeschehen zugrunde – ein Sich-selbst-Verstehen und Bei-sich-Sein des Volkes an seinen Erinnerungsorten, in den großen und kleinen Mythen, die sich um seine Existenz ranken und die immer wieder neu erzählt werden. »Was bleibet, aber stiften die Dichter« (Friedrich Hölderlin).

1 Rücktrittserklärung des Bundespräsidenten vom 17.02.2012. http://www.bundespraesident.de/SharedDocs/Reden/DE/Christian-Wulff/Reden/2012/02/120217-Erklaerung.html

2 Carl Schmitt: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corollarien. 6. Auflage, Nachdruck der Ausgabe von 1963, Berlin 1996, S. 38f.

3 Ebd., S. 26.

4 Insbesondere wegen seiner berühmt-berüchtigten Formulierung »der Führer schützt das Recht« und seiner zeitweiligen juristischen Legitimation des Nationalsozialismus.

5 Arnold Gehlen schreibt in diesem Sinne: »Da die Familien selbst wehrlos sind, haben sie sich in der Frage der Sicherheit gänzlich dem Staat ausgeliefert, der nunmehr in der Sicherheit seiner selbst und der Lebensansprüche der Nation die privaten Schutzbedürfnisse mitgarantieren muss« (Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, 2. Aufl. Bonn 1970, S. 104).

6 »Feind ist nur der öffentliche Feind, weil alles, was auf eine solche Gesamtheit von Menschen, insbesondere auf ein ganzes Volk, Bezug hat, dadurch öffentlich wird. Feind ist hostis, nicht inimicus im weiteren Sinne […]. Die deutsche Sprache, wie auch andere Sprachen, unterscheidet nicht zwischen dem privaten und dem politischen ›Feind‹, so dass hier viele Missverständnisse und Fälschungen möglich sind. Die viel zitierte Stelle ›Liebet eure Feinde‹ (Matth. 5,44 Luk. 6,27) heißt ›diligite inimicos vestros‹ […] und nicht: diligite hostes vestros; vom politischen Feind ist nicht die Rede. Auch ist in dem tausendjährigen Kampf zwischen Christentum und Islam niemals ein Christ auf den Gedanken gekommen, man müsse aus Liebe zu den Sarazenen oder den Türken Europa, statt es zu verteidigen, dem Islam ausliefern. Den Feind im politischen Sinne braucht man nicht persönlich zu hassen, und erst in der Sphäre des Privaten hat es einen Sinn, seinen ›Feind‹, d.h. seinen Gegner, zu lieben.« (Schmitt, a.a.O., S. 29f.)

7 Jost Bauch: Abschied von Deutschland. Eine politische Grabschrift, Rottenburg 2018, S. 73f.

8 Herrmann Heller: Staatslehre (6. Auflage), Tübingen 1983 (Original 1934), zit. nach Jost Bauch, a.a.O., S. 74.

9 Gehlen, Moral und Hypermoral, S. 103.

10 Hier mag eine archaische Struktur lange fortgewirkt haben; alle primitiven Kulturen kennen Initiationsriten, insbesondere der Jugend an der Schwelle zum Erwachsenenalter oder des spirituell Auserwählten, etwa des Schamanen, der rituell getötet und mit neuen Fähigkeiten wiedergeboren wird; und vielleicht darf man bis zu den urzeitlichen Jägern und Sammlern zurückgehen, die einsam durch Wälder und Steppen zogen, in langen Nächten am Feuer lagen, in Flammen und Sterne schauten und dabei begannen, den geheimnisvollen Mächten der Natur nachzusinnen. Die Frau war in weitaus stärkerem Maße an Behausung und Familie gebunden, sie zog die Kinder auf, pflegte Alte und Kranke. Die neolithischen Agrargesellschaften haben die einstmals schweifenden Männer dann im Laufe der Jahrtausende in das ländliche Leben integriert; Mann und Frau arbeiteten gemeinsam, säten und ernteten, und ihre verschiedenen, aber einander ergänzenden Aufgaben und Lebensbereiche wurden von männlichen und weiblichen Göttern archetypisch vollzogen. Es ist unklar, ob es wirklich Matriarchate gegeben hat, aber sicher gab es in manchen frühgeschichtlichen Kulturen auch matriarchale und matrilineare Strukturen. In dem Maße, in dem allmählich Städte und Stadtstaaten entstanden, die miteinander Handel trieben, Kriege führten und eine Öffentlichkeit gemeinsamer »bürgerlicher« Belange ausbildeten, hat sich die Rolle des Mannes teilweise vergesellschaftet, während das Leben der Frau sich nun in stärkerem Maße auf das, der männlichen Herrschaft unterworfene, häusliche Dasein beschränkte. Zwar gab es immer auch Einsiedler und zurückgezogen lebende Denker und Weise, aber das Leben vieler Männer fand auf den Straßen und Marktplätzen statt. Hier wurden Waren feilgeboten und auch Meinungen und Gerüchte ausgetauscht. Es entstanden Bildungsansprüche; Wissen wurde zu sozialem Prestige, und in den griechischen Stadtstaaten bildete sich eine eigene Berufsgruppe, die Sophisten, heraus, die intellektuelle Fertigkeiten verkauften. In diesem Milieu entwickelte sich die antike Philosophie, deren klassische Repräsentanten sie als gemeinschaftliches Erkenntnisstreben betrachteten – allerdings um der Erkenntnis selbst willen und nicht, wie bei den Sophisten, um das gesellschaftliche Fortkommen zu fördern.

 

11 Klaus Roth: Platon. In: Peter Massing, Gotthard Breit, Hubertus Buchstein (Hg.): Demokratietheorien. Von der Antike bis zur Gegenwart. 8., völlig überarbeitete Aufl., Schwalbach/Ts. 2012, S. 41.

12 Siehe Jens Kersten: Das Anthropozän-Konzept. Kontrakt – Komposition – Konflikt, Baden-Baden 2014; Jürgen Renn/Bernd Scherer (Hg.): Das Anthropozän. Zum Stand der Dinge, 2. Aufl. Berlin 2015; Eva Horn/Hanno Bergthaller: Anthropozän zur Einführung, Hamburg 2019.

13 Siehe Manfred G. Schmidt: Demokratietheorien. Eine Einführung. 3, überarbeitete und erweiterte Auflage, Opladen 2000, S. 51.

14 Ebd., S. 36.

15 Hierzu siehe auch Schmidt, a.a.O., S. 38ff.

16 F.P.B. Guizot: De la démocratie en France, Brüssel 1849, S. 9.

17 George Orwell: Selected Essays, London 1957, S. 149.

18 Diese Art der demonstrativ affirmierenden, zur Verbesserung aufrufenden Kritik erinnert an die systemimmanente Kritik am Sozialismus vor 1989, den man auch nicht in Frage stellen wollte oder durfte.

19 In jüngster Zeit stellen manche »Klima-Aktivisten« die Fähigkeit der Demokratie, die angeblich drohende Klimakatastrophe aufzuhalten, in Frage, ohne dass dies auf große Kritik in Politik und Medien stößt. Man kann sich die Reaktionen vorstellen, die die Behauptung, die Demokratie scheitere daran, die europäischen Staaten vor Migrationswellen aus Afrika und dem Nahen Osten zu schützen, auslösen würde.

20 Schmidt, a.a.O., S. 52ff.

21 Manche Interpreten, wie der Philosoph Kurt Hübner, halten Platons Darstellungen jedoch für einen Ausdruck seiner Ironie. Siehe Hübner: Das Nationale. Verdrängtes – Unvermeidliches – Erstrebenswertes, Graz/Wien/Köln 1991.

22 Alain de Benoist verweist allerdings darauf, dass der absolute Despotismus in Europa, anders als im Orient, selten gewesen sei: »Die Existenz einer Volksversammlung sowohl als militärischer wie auch als ziviler Organisation ist sehr früh nachweisbar. Ferner wird der König in der indoeuropäischen Gesellschaft meistens gewählt: alle früheren Monarchien waren Wahlmonarchien. Tacitus berichtet, wie bei den Germanen ›die Führer wegen ihrer Tugend und die Könige wegen ihres Adels gewählt wurden‹. […] In Frankreich selbst blieb die Thronfolge lange Zeit elektiv und erblich zugleich.« Alain de Benoist: Demokratie: Das Problem, Tübingen/Zürich/Paris 1986, S. 9ff.

23 Antonia Geisler: John Locke. In: Massing et al. (Hrsg.): Demokratietheorien, S. 109.

24 In vorgeschichtlicher Zeit gab es weniger Menschen, aber auch weitaus geringere Möglichkeiten der Beschaffung, Aufbereitung und Herstellung lebensnotwendiger Güter. Der Mangel erzwang immer neue Innovationen, aber wenn eine Innovation erfolgreich war und zu neuen technischen Möglichkeiten führte, machten das daraus folgende Bevölkerungswachstum und der erhöhte Ressourcenverbrauch den Fortschritt letztlich wieder zunichte bzw. zwangen zu neuen Innovationen. Menschliche Technik folgt überhaupt aus Mangel und Mangelverwaltung, wie Friedrich Georg Jünger in seinem Werk über die »Perfektion der Technik« (1946) ausgeführt hat. Der amerikanische Geopolitiker Thomas P.M. Barnett bezeichnet eine solche Position als »Nullsummenlogik« und glaubt an einen Fortschritt für alle durch die Globalisierung: »Einfach gesagt, haben wir heute bessere Möglichkeiten gefunden, das zu bekommen, was wir wollen. Wie Robert Wright in seinem Buch ›Nonzero‹ darlegt, hat die Menschheit allmählich durch Versuch und Irrtum entdeckt, dass der Frieden den Krieg besiegt, dass Zusammenarbeit die Konkurrenz schlägt, und dass Win-Win-Ergebnisse alle Alternativen schlagen. Warum ist die Globalisierung unvermeidlich? Weil sie letztlich ein Spiel ohne Nullsummen ist, bei dem alle Seiten gewinnen und die gesamte Bevölkerung des Planeten schließlich in der Lage sein wird, sich an dieser historischen Anhäufung von Wachstum und Erfüllung zu beteiligen oder an dem, was Wright als ›Nicht-Nullsumme‹ bezeichnet.« (Thomas P.M. Barnett: Drehbuch für den 3. Weltkrieg. Die zukünftige Neue Weltordnung. Aus dem Englischen von Christine Mey und Dr. Baal Müller, Gelnhausen/Roth 2016, S. 341.) Dieser Utopismus ist ebenso zweifelhaft wie der seit einiger Zeit modische apokalyptische Diskurs im Zusammenhang mit dem Klimawandel.

25 Volker Pesch: Charles de Montesquieu. In: Massing et al. (Hg.): Demokratietheorien, S. 118.

26 Nicht im Werkzeuggebrauch, der auch bei Menschenaffen zu beobachten ist, sondern in der Bewahrung und Beanspruchung des Nützlichen für künftigen Nutzen – sowie in der zweckmäßigen Zurichtung des Gegebenen – zeigt sich, inwiefern der Mensch aufgrund seiner ihm eigenen Zeitlichkeit über das im Augenblick lebende Tier existenziell hinausgeht.

27 Antonia Geisler: Jean-Jacques Rousseau. In: Massing et al. (Hg.): Demokratietheorien, S. 128.

28 Ebd., S. 129.

29 Der Verfasser des pädagogischen Jahrhundertwerks »Emile oder über die Erziehung« hat seine eigenen fünf Kinder einem Heim übergeben, um sich ungestört seiner schriftstellerischen Tätigkeit widmen zu können.

30 Das berühmte, ihm fälschlich zugeschriebene Schlagwort »Retour à la nature!« findet sich in seinen Schriften nicht wörtlich.

31 Wilhelm Dilthey: Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, zit. nach: Carl J. Burckhardt: Vorwort, zu: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985, S. 3.

32 Zit. nach J.P. Mayer: Tocqueville heute, in: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, München 1976, S. 875. Die Einordnung in ein solches »Zwischenreich« erinnert an Nietzsches Diktum, er sei gleichermaßen »gesund« wie »krank« und könne daher die Dekadenz ebenso analysieren wie die Möglichkeiten ihrer Überwindung beschreiben.

33 John Stuart Mill: Alexis de Tocqueville on Democracy in America, in: Geraint L. Williams (Hg.): John Stuart Mill on Politics and Society, Glasgow 1840, S. 186-247, S. 235f. – Übers. von Manfred G. Schmidt, a.a.O., S. 131.

34 Vgl. Jack Lively: The Social and Political Thought of Alexis de Tocqueville, Oxford 1962.

35 Manfred G. Schmidt, a.a.O., S. 132.

36 Zit. nach: Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika, Stuttgart 1985 (zit.: DA).

37 Ernst-Wolfgang Böckenförde: Staat, Gesellschaft, Freiheit, Frankfurt 1976, S. 60.

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