Die Selbstzerstörung der Demokratie

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Universales und identitäres, liberales und demokratisches Denken bilden also einen fundamentalen Gegensatz oder stehen, wenn sie sich im Parlamentarismus überlagern, in einem Spannungsverhältnis.

Demgegenüber gibt es keine derart grundlegende Differenz zwischen Demokratie und Diktatur; vielmehr kann die Demokratie durchaus totalitäre Züge annehmen, wie J.L. Talmon in seiner klassischen Studie über »Die Ursprünge der totalitären Demokratie« dargelegt hat. Darin beschreibt er, wie »sich im achtzehnten Jahrhundert – gleichzeitig mit dem liberalen Typ der Demokratie und aus denselben Prämissen heraus – eine Tendenz in Richtung auf das anbahnte, was wir als totalitären Typ der Demokratie bezeichnen möchten.«71 Somit erscheint »die Geschichte der letzten hundertfünfzig Jahre als die systematische Vorbereitung auf den schroffen Zusammenprall zwischen empirischer und liberaler Demokratie einerseits und totalitärer messianischer Demokratie andererseits.«72

Anstelle des Schmittschen Dualismus von Liberalismus und Demokratie sehen wir hier also einen Gegensatz zweier Demokratie-Konzeptionen: Auf der einen Seite das Modell der »offenen Gesellschaft« (Karl Popper), die Politik als »Experiment« und politische Systeme als »pragmatische Einrichtungen menschlicher Schöpfungskraft und Freiwilligkeit« betrachtet und private Angelegenheiten einer anderen Sphäre zumisst; und auf der anderen die Lehre von einer »alleinigen und ausschließlichen Wahrheit in der Politik«: »Man kann sie politischen Messianismus nennen in dem Sinne, dass sie eine vorausbestimmte harmonische und vollkommene Ordnung der Dinge postuliert, zu der die Menschen unwiderstehlich getrieben und zwangsläufig gelangen werden.«73 Der private Bereich wird vom politischen vollständig aufgesogen. Das im 18. Jahrhundert vorherrschende rationalistische Paradigma führte zu einem umfassenden gesellschaftlichen Determinismus. Obwohl die tonangebenden Denker – ihrem Selbstbild nach – »glühende Propheten der Freiheit und der Menschenrechte waren«, blieben sie in einer Idee der Tugend befangen, »die nichts anderes war als Übereinstimmung mit der erhofften Gesellschaftsordnung. Sie weigerten sich, den Konflikt zwischen Freiheit und Tugend als unvermeidlich anzusehen.«74 Dies führte dazu, »dass man die Menschen nicht so betrachtete, wie sie tatsächlich sind, sondern so, wie sie sein sollten und unter ›richtigen‹ Bedingungen sein würden«;75 das Ergebnis war die jakobinische Erziehungsdiktatur: »Der totalitäre Messianismus erstarrte zu einer alles andere ausschließenden Doktrin, vertreten durch eine Avantgarde von Aufgeklärten, die sich für berechtigt hielten, Zwangsmittel anzuwenden gegen diejenigen, die sich weigerten, gleichzeitig frei und tugendhaft zu sein.«76

Talmon behandelt in seinem Werk die Ursprünge der totalitären Demokratie im französischen Frühsozialismus, aber die Spannung zwischen Freiheit und Moral besteht auch heute noch; nur sprechen wir statt von »Tugend« von »Politischer Korrektheit«.

Es gibt für Talmon durchaus auch einen rechten Totalitarismus, der allerdings andere theoretische Ausgangspunkte habe, indem er sich auf Kollektive wie Staat, Nation oder Rasse berufe, während der Totalitarismus der Linken von der »Vernunft« und dem »Heil« des Menschen ausgehe und sogar dann noch individualistisch, atomistisch oder rationalistisch orientiert sei, wenn Partei oder Klasse zu absoluten Werten erhoben würden. Auch diese seien schließlich »nur mechanisch gebildete«, also aus Individuen zusammengesetzte Gruppen, während die Rechte mit historischen, rassischen und allgemein »organischen« Kategorien operiere. Da die Linke von der Voraussetzung ausginge, »die Menschheit sei die Summierung vernünftiger Einzelwesen«, neige ihre Ideologie immer dazu, »den Charakter eines universellen Glaubensbekenntnisses anzunehmen«,77 was der Rechten fremd sei. Deren Totalitarismus negiere eine solche Einheit, leugne die Allgemeingültigkeit menschlicher Werte und strebe nach einer Daseinsform, in der die Fähigkeiten des Menschen innerhalb bestimmter Grenzen und Differenzierungen zum Ausdruck gebracht werden könnten.

Ein weiterer Unterschied bestehe darin, dass die Linke den Menschen seiner Wesensanlage nach für prinzipiell gut und »der Vervollkommnung fähig« halte, während die Rechte von den Unzulänglichkeiten des Menschen, seiner Schwäche, Uneinsichtigkeit und »Verderbtheit« ausgehe. Die Anwendung von Zwang diene im ersteren Fall also der Erziehung und »Verbesserung«, im letzteren dem Erhalt einer – stets fragilen – Ordnung. Der linke Rationalismus oder – religiös aufgeladene – Messianismus strebe daher immer nach einer Revolutionierung der Gesellschaft als ganzer, um eines Tages einen perfekten Zustand zu erreichen.

Talmon zeigt sich als Vertreter der kämpferisch-liberalen Totalitarismustheorie, die eine maßvolle, im Popperschen Sinne »kritisch-rationalistische«, empirisch vorgehende und auf letztgültige Wahrheiten verzichtende Mitte von linken und rechten Extremismen bedroht sieht. Es ist jedoch unübersehbar, dass er diese Mitte etwas idealisiert. Eine von jeder Ideologie unbeeinflusste politische Leerstelle des reinen, vernünftigen Gesprächs, des vorurteilsfreien Experimentierens nach dem Prinzip von »trial« and »error« gibt es nicht. Gesellschaftliche Verhältnisse lassen sich nicht unter Laborbedingungen betrachten; ihre unübersehbar mannigfach zusammenwirkenden Faktoren können nicht isoliert werden. Und insbesondere das Parlament, in dem die Parteien ihre Politik inszenieren, oder die »Formate« der Mediendemokratie sind keine Stätten des rationalen Austauschs »sine ira et studio«.

Gegenwärtig wird die Demokratie nicht von den Rändern aus bedroht, sondern von einem Extremismus der Mitte, von der »Konsensdemokratie« (Josef Schüßlburner) der sich selbst so bezeichnenden »Demokraten«, die alle alternativen Konzepte in ihrer Machtarroganz stigmatisieren und kriminalisieren. Die Mitte, eigentlich die neutrale Position, wird als Ort der Vernunft, der Vermittlung und des Augenmaßes dargestellt, während links und rechts nur extreme und gefährliche Meinungen lauern würden; daher haben heute alle Parteien ein so großes Interesse daran, sich in die Mitte zu drängen. Eigentlich aber sind »in einer funktionierenden parlamentarischen Demokratie […] die Begriffe ›Rechts‹ und ›Links‹ für die politische Entscheidungsfindung des Volks die maßgeblichen Kategorien. Jede Politik gründet nämlich auf einer Alternative zwischen zwei Lösungen; die vermittelnden Lösungen lehnen sich dann an eine der beiden an.«78 Normalerweise ist Politik »asymmetrisch auf eine hegemoniale Stellung der einen politisch-ideologischen Richtung über die konkurrierende Formation ausgerichtet«, wobei sich laut Schüßlburner »aus anthropologischen Gründen – nämlich wegen der Unterschiedlichkeit (Ungleichheit) der Menschen in ihren Befähigungen, Vorstellungen und Wünschen, die automatisch zu einer gesellschaftlichen Schichtung führt – normalerweise eine rechte Hegemonie« einstellt.79

»Rechts« ist der Normalfall, »links« der Sonderfall, das Aufbegehren gegen eine vorgegebene Ordnung, das freilich zu allen Zeiten zu beobachten, mithin ebenfalls »normal« ist, aber wenig zur Übernahme nachhaltiger Regierungsverantwortung qualifiziert. Jede linke Regierung tendiert daher dazu, nach der Abschaffung der alten Hierarchien neue Schichtungen einzuführen, beispielsweise die Herrschaft – oder Diktatur – einer Partei der »wohlgesinnten« und »fortschrittlichen« Kräfte zu errichten und die Vertreter der traditionellen Normen und Werte als Feinde zu behandeln.

Eine sogenannte Mitte gibt es lediglich als zeitweilig ausgehandelten Kompromiss; sie hat keine eigene Theorie und Weltanschauung. Dies zeigt sich auch schon daran, dass es heute ausschließlich linke Positionen sind, die als »Mitte« ausgegeben werden. Gemessen an den Kategorien einer am Staatsbürger ausgerichteten Demokratie einerseits bzw. einer am »biologisch-theologischen Begriff des Menschen« andererseits orientierten Weltzivilgesellschaft »findet man im Deutschen Bundestag derzeit nur Parteien der Linken« – jedenfalls bis zum Einzug der AfD 2017 –, die sich entweder ausdrücklich so bezeichnen oder ihre linken Ziele dem Wähler mit einer liberalkonservativen Rhetorik andienen.80

Eine solche Mitte, die sich zu Unrecht als etwas Ganzes versteht, stellt »eine politische Anmaßung dar, sich anstelle der Nation als Richter zu setzen. Gleichzeitig impliziert Mitte die Distanzierung von der Nation, die begrifflich ein Volk zur Voraussetzung hat, das durch den freien Wahlakt über Links oder Rechts ein jeweils zeitlich befristetes Urteil fällen und damit eine Mehrheit herstellen soll. Sich selbst als Mitte zu bezeichnen, ist insofern auch eine Distanzierung von der Demokratie, da der Wahlakt (als eigentliche Vermittlung) vorweggenommen scheint. Es verwundert daher nicht, dass der ideologische Kern der bundesdeutschen Mitte in einer post-demokratischen Europakonzeption besteht, die ihren zentralen Bezugspunkt außerhalb der Nation hat. Politik soll dabei durch Ökonomie und Moral ersetzt werden. Maßgebend sind dann nicht mehr primär politische Kategorien wie Volk und Nation, sondern zivilreligiöse und biologische Begriffe wie Menschheit.«81

Es ist unschwer zu erkennen, dass in Schüßlburners Begriff der »Konsensdemokratie« mit ihrer »Mitte« der »gemäßigten«, also nicht zu »Prüffällen« oder »Verdachtsfällen« des Verfassungsschutzes erklärten Parteien Schmitts Parlamentarismuskonzept wiederkehrt. Liberal-universalistische Begriffe werden mit demokratischen Kategorien – unter Ausscheidung deren notwendigerweise nationaler und identitätspolitischer Dimension – amalgamiert und hybridisiert.

Das Ergebnis ist das heutige »demokratische Paradox«, wie Chantal Mouffe mit Bezug auf Schmitt feststellt: Das demokratische Prinzip, nach dem die Macht vom Volk ausgehen solle, tritt in einem symbolischen Rahmen auf, der vom liberalen Diskurs mit seiner Betonung des Wertes individueller Freiheit und der Menschenrechte geprägt ist. Diese sollte man »nicht einfach der demokratischen Tradition einverleiben, deren Kernwerte Gleichheit und Volkssouveränität sich unterscheiden. Tatsächlich haben die für die Politik des Liberalismus zentrale Trennung von Kirche und Staat, von öffentlichem und privatem Raum, sowie die eigentliche Idee des Rechtsstaates ihren Ursprung nicht im demokratischen Diskurs, sondern kommen von anderswo.«82

 

In der modernen Demokratie laufen also zwei gegensätzliche Traditionslinien zusammen: »Auf der einen Seite haben wir die liberale Tradition, die von Rechtsstaatlichkeit, der Verteidigung der Menschenrechte und dem Respekt vor individueller Freiheit gekennzeichnet ist, auf der anderen die demokratische Tradition, deren Hauptideen jene der Gleichheit, der Identität zwischen Regierenden und Regierten und der Volkssouveränität sind. Es gibt kein notwendiges Verhältnis zwischen diesen beiden unterschiedlichen Traditionen, sondern nur eine kontingente historische Artikulation.«83 Dadurch wurde »der Liberalismus demokratisiert und die Demokratie liberalisiert.«

Ein klassisches Beispiel für diesen Gegensatz wäre ein – streng demokratisch zustande gekommener – Beschluss der Mehrheit, eine Minderheit zu enteignen, zu entrechten oder gar zu töten. Man könnte ihm nicht demokratieimmanent, sondern unter Berufung auf Menschenrechte begegnen. Umgekehrt tendiert der humanitäre Liberalismus dazu, Wahlen und Abstimmungen schon im Vorfeld durch moralisierende Normierungen auszuhebeln. Wozu soll man überhaupt noch wählen, wenn die zulässigen Ergebnisse durch Frauen- oder sonstige Quoten, Absprachen innerhalb eines Parteienkartells und der Kriminalisierung von Konkurrenzparteien determiniert sind? Der humanitäre Liberalismus, aus dem durch die Übernahme kulturmarxistischer Ideologeme in der Nachfolge von 1968 die »Politische Korrektheit« hervorgegangen ist, hat auf diese Frage keine Antwort. Er will noch nicht einmal erkennen, »dass die liberale Demokratie aus der Artikulation zweier Logiken resultiert, die in letzter Instanz inkompatibel sind, und es keinen Weg gibt, auf dem sie restlos miteinander versöhnt werden könnten.«84 Seine intellektuelle Ratlosigkeit zeigt sich in der Arroganz und Selbstverständlichkeit, mit der die sogenannte »Diskursethik« eines Jürgen Habermas bestimmte Prinzipien als verbindlich ansetzt. Zum »herrschaftsfreien Diskurs« ist nur zugelassen, wer Teil des Establishments ist oder dessen »Werte« vertritt.

Chantal Mouffes Fazit besteht darin, dass die Spannung zwischen Liberalismus und Demokratie ausgehalten werden muss. Ebenso ist zu akzeptieren, dass das demokratische Prinzip der Volkssouveränität notwendigerweise den Ausschluss derer beinhaltet, die keine Staatsbürger sind. Leugnet man diese fundamentalen Differenzen, begehrt die aus der Diskursgemeinschaft ausgestoßene Volkssouveränität in populistischer Radikalisierung und ins Ethnische gewendet umso nachdrücklicher Einlass, wie Mouffe befürchtet.

Mag diese Furcht auch übertrieben und linker Sozialisation geschuldet sein, so ist Mouffe doch zuzustimmen, dass das demokratische Paradox nicht so einfach aufzulösen ist.

Die Problematik vertieft sich sogar noch weiter, wenn man bedenkt, dass auch die Grundprinzipien des Liberalismus und der Demokratie/Volkssouveränität ihrerseits schon widersprüchliche Tendenzen aufweisen.85 Demokratie beruht auf Identität der Herrschenden und der Beherrschten, die sich aus der Gleichheit aller, also auch der aus dem Volk ausgewählten Herrscher, ergibt. Allerdings ist Identität nie einfach gegeben; sie wird stets aus Ähnlichem hergestellt, das – unter Absehung vom Unterschiedlichen – für gleich erklärt wird. Aus dieser relativen Gleichheit von Sprache und Kultur, Sitten und Gebräuchen, historischen, regionalen, landschaftlichen, klimatischen und anderen Prägungen ergibt sich dann ein gemeinsames Fundament des Politischen bzw. das kollektive Wir durch die relative Homogenität des Volkes.

Die Tatsache, dass diese sich immerfort wandelt und neu entsteht, liefert kein Argument dafür, sie vollständig zu leugnen. Vielmehr vernehmen wir diese Leugnung besonders von denen, die jede Homogenität als gefahrvoll verdammen und bekämpfen – damit aber zugleich als gegeben anerkennen. Hinter der Leugnung steht eigentlich ein völkerfeindlicher Annihilationsdrang. Gesellschaftlicher Zerfall und Demokratieabbau werden durch immer stärkere Maßnahmen der ethnokulturellen Fragmentierung vorangetrieben. Offenbar glaubt man, mit der – stets relativen, nicht mathematisch gegebenen, sondern intuitiv wahrnehmbaren – Homogenität der Völker auch das Bedürfnis nach Identität bzw. den selbstverständlichen Wunsch, lieber mit ähnlichen Menschen statt mit Fremden zusammenzuleben, ausrotten zu können.86 Die Ergebnisse dieser Politik verfolgen wir jeden Tag in den Medien und erleben sie zunehmend auch im Alltag.

Demokratie bedarf einer hinreichenden Homogenität, und diese ist auch die Grundlage von gemeinschaftlicher Identität. Identität ist gleichsam die Bewusstwerdung von Homogenität. Ein Volk, das keine Identität mehr besitzt, ist kein Volk mehr, sondern eine Bevölkerung, eine Ansammlung von Menschen, die sich zufällig am selben Ort aufhalten. Und ein solches Nichtvolk kann auch keine Volksherrschaft mehr ausüben, sondern wird von Interessengruppen beherrscht, die Demokratie durch massenmedial inszenierte Surrogate ersetzen. Was aber ist unter »Identität« zu verstehen?

Identität als Voraussetzung der Demokratie

Individuelle Identität

Von Identität ist in vielerlei Hinsicht die Rede – wir können von der Identität einer Person oder einer Sache mit sich selbst sprechen oder auch von gemeinschaftlicher Identität, etwa der in Deutschland immer wieder ausgiebig diskutierten, so leidenschaftlich beschworenen wie in Abrede gestellten Identität des deutschen Volkes.

Zunächst bedeutet »Identität« oder »Selbigkeit« die vollständige Übereinstimmung von etwas mit sich selbst. Der Unterschied zur Gleichheit besteht darin, dass es sich bei letzterer nur um äußerliche Ununterscheidbarkeit bzw. maximale Ähnlichkeit numerisch verschiedener Entitäten handelt. In Logik, Mathematik und Sprachwissenschaft bezeichnet »Identität« eine Übereinstimmung des Umfangs zweier Ausdrücke: »Der Morgenstern ist der Abendstern« (die Venus), oder: »Die deutsche Identität ist die Identität der Deutschen«. Inhaltlich ist damit noch nichts ausgesagt.

Beziehen wir uns auf personale oder nationale Identität, gibt es auch dort eine rein formale Zuschreibung über den Eigennamen bzw. die Staatsangehörigkeit, aber diese äußerliche Identifizierung berührt das, was wir mit dem Begriff des »Wesens« zu beschreiben suchen, nicht. Jenseits des Begrifflichen verstehen wir darunter etwas Unveränderliches und dem jeweiligen Gegenstand schlechthin Eigentümliches. Ob und wie dieses wirklich existiert, ist eine andere Frage.

Die abendländische Philosophie suchte das Wesenhafte, den heidnisch-religiösen Kosmozentrismus87 ihres ursprünglichen Kulturraumes transformierend, in ihren Anfängen vor allem am Himmel: Die »Sphärenharmonie«, der berechenbare Wandel der Gestirne, sollte das Ewige verbürgen. Die Rechnung ging jedoch nicht auf. Die scheinbare Harmonie wurde offenkundig immer wieder durch plötzliche katastrophische Ereignisse gestört. Und die Bahnen der Himmelskörper ließen sich nicht in ganzzahligen, »harmonischen« Zahlenverhältnissen beschreiben. Die Suche nach dem Wesen der Dinge verlagerte sich schließlich immer weiter in den abstrakten Bereich. Nach Platon sollen alle Dinge Abbilder ewiger Ideen sein; nach Aristoteles wohnen die Ideen den Dingen inne.

Zu einem grundlegenden Paradigmenwechsel kam es, als in der Neuzeit das Ich zum zentralen Prinzip der Philosophie erhoben wurde und sich mit ihm die Frage nach der Identität neu stellte. Eine Ausgangsüberlegung bestand in dem methodischen Zweifel René Descartes’, der in seinen »Meditationes de prima philosophia« (»Meditationen über die Grundlagen der Philosophie«, 1641) der Frage nachging, ob es ein Wissen gäbe, das jedem Zweifel standhalte. Während der platonische Sokrates – gemäß einer ihm zugeschriebenen, eigentlich aber fehlübersetzten Stelle der »Apologie« – den berühmten Satz prägte »Ich weiß, dass ich nichts weiß«, glaubte Descartes, feststellen zu können, dass es immerhin ein Ich geben müsse, das sich seiner Existenz, sobald es zweifle bzw. überhaupt denke, stets gewiss sei. Sein »Cogito, ergo sum« (ich denke, also bin ich) wurde zum vielleicht meistzitierten und am meisten missverstandenen Grundsatz der Philosophie. Die Existenz des Ich – und damit dessen Identität mit sich selbst, denn das Ich ist das »je meine« und nicht heute dieses und morgen ein anderes – stellt sich Descartes als unmittelbare Erfahrung dar und nicht etwa als logischer Schluß, bzw. als unvollständiger Syllogismus, zu dem der Obersatz »Alles, was denkt, existiert« gehören würde.88

Mit seinem Rückgang auf das eigene Denken hat Descartes die europäische Philosophie einerseits dazu angeregt, die Voraussetzungen des Denkens überhaupt zu reflektieren; andererseits hat er ihrer weiteren Entwicklung einen subjektivistischen und rationalistischen Pfad vorgezeichnet, den sie erst im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert überwinden konnte. Unter »Subjektivismus« ist hier keine Hypostasierung des empirischen Ich zu verstehen, sondern die Zurückführung jeglicher Erkenntnis auf Akte eines »transzendentalen« Subjekts, demgegenüber die Objektseite zum bloßen Material degradiert wird. Die Prinzipien der Erkenntnis entstammen nach Kant vollständig der Subjektivität und bestehen in Raum und Zeit als Formen der Anschauung sowie in den zwölf Verstandeskategorien. Das Subjekt soll zwar die Einheit aller Erkenntnisleistungen verbürgen, bleibt selbst jedoch unzureichend erklärt, obgleich Kant das sogenannte »Reflexionsmodell« des Selbstbewusstseins, wie es im englischen Empirismus sowie von Leibniz vertreten wurde, kritisiert. Nach diesem identifiziere »ich« mich mit »mir« selbst, wenn ich sage: »Ich bin ich«. Wie könnte das eine Ich dieses Satzes aber aus der Reflexion erkennen, dass es auch das andere ist, wenn es dies nicht schon vorher gewusst hat? Das Reflexionsmodell ist also zirkulär oder führt in einen infiniten Regress.

Die Fundierung jeglicher Erkenntnis der Welt, die Kant nach Auffassung der nachfolgenden philosophischen Generation des Deutschen Idealismus nicht hinreichend geleistet habe, suchte Fichte mit seinem Rekurs auf eine ursprüngliche »Tathandlung« zu liefern: »Wir haben den absolut ersten, schlechthin unbedingten Grundsatz alles menschlichen Wissens aufzusuchen. Beweisen oder bestimmen lässt er sich nicht, wenn er absolut erster Grundsatz seyn soll. Er soll diejenige Thathandlung ausdrücken, welche unter den empirischen Bestimmungen unseres Bewußtseyns nicht vorkommt, noch vorkommen kann, sondern vielmehr allem Bewußtseyn zu Grunde liegt, und allein es möglich macht.«89

Das Wesen des Ich besteht nach Fichte also in einer Handlung, einer Setzung seiner selbst, in der allein es existiert; es »setzt sich als Ich und Nicht-Ich« (das gleichursprünglich mitgegeben sein soll). Wie aber kann sich etwas selbst »setzen«, wenn es nicht schon im Voraus »gesetzt« ist? Ähnlich wie eine Erkenntnis des Ich in der Reflexion auf sich selbst nur möglich ist, wenn es bereits ein präreflexives Wissen von sich hat, kann es sich auch nicht selbst erschaffen, sondern allenfalls im Dasein erhalten, wenn ihm dieses bereits gegeben ist.

Die Frühromantiker versuchten, diesem präreflexiven Sich-Selbst-Vorhergehen des Ich spekulativ und poetisch nachzuspüren; vor allem Novalis ist hier zu nennen, der in seinen »Fichte-Studien« kurz und bündig festgestellt hat: »Die Filosofie ist ursprünglich ein Gefühl.«90 Jedem Denken, auch dem Nachdenken über Ich und Identität, geht ein Selbstgefühl, ein primäres Bei-sich-selbst-Sein, voraus. Novalis rekurriert auf den Begriff des »sensus sui«, der, über die Scholastik vermittelt, bis auf die Stoa zurückgeht und dort neben dem Gefühl eines Lebewesens, es selbst zu sein, auch seinen Willen zur Selbstbehauptung bezeichnete. »Was jedem Lebewesen zuerst eigen ist, ist seine eigene Konstitution und deren Selbstbewusstsein.«91 Und »warum sollte die Natur es von sich selbst entfremden oder es erst erschaffen und dann weder von sich entfremden noch es sich zueignen? So müsse man sagen, dass mit der Konstitution eines Lebewesens die Natur es ihm selbst übereignet – oder es mit sich selbst vertraut gemacht hat. Mithin wehrt das Lebewesen ab, was ihm schadet, und nimmt an, was ihm zu eigen ist.«92

Es handelt sich beim Selbstbewusstsein, dem Bewusstsein der eigenen Identität, also zunächst um ein Selbstgefühl, das erst sekundär auf begriffliche Weise ausgestaltet und nachkonstruiert wird. Novalis ist sich mit Fichte dahingehend einig, dass Selbstbewusstsein nicht aus einer Reflexion abgeleitet werden kann, aber er sieht das ursprüngliche Wissen des Ich von sich selbst nicht in einem Tun, sondern in einem Nichttun und Nichtwollen gegeben. Das Gefühl des Ich verweist auf ein Sein, das ihm immer schon vorausgeht, auf eine »schlechthinnige Abhängigkeit« (Schleiermacher); es kann nicht aus der Beobachtung eines Objektes durch ein Subjekt erklärt werden, sondern ist sich, wie im 20. Jahrhundert z.B. Sartre dargelegt hat, immer schon präreflexiv durchsichtig. Der Philosoph Manfred Frank illustriert diese Gegebenheit mit der Erfahrung von Schmerzen: Wenn ich z.B. Zahnschmerzen habe, weiß ich immer schon, dass ich selbst es bin, der Schmerzen hat; niemals werden zuerst die Schmerzen wahrgenommen und dann einem Ich zugeordnet – womöglich noch so, dass man sich dabei auch täuschen und nachträglich korrigieren könnte.

 

Jedem Gefühl haftet ein »Ich-Indikator« an. Selbstbewusstsein ist als Selbstgefühl »immer adäquat« (Husserl) oder »unfehlbar«; das im Gefühl »Präsentierte« ist restlos »präsent«, wenngleich sich seine Interpretation im Laufe der Zeit ändern kann – so kann etwa ein vergangenes Erlebnis vor dem Hintergrund einer neuen Erfahrung an Bedeutung verlieren, aber jedes Erlebnis ist im Augenblick seines Erlebtwerdens ganz und gar gegeben. Ein Gefühl lässt sich als solches auch nicht z.B. auf neurologische Veränderungen im Gehirn zurückführen, da zwischen objektiver Beschreibung und subjektivem inneren Gewahrsein eine grundsätzliche Differenz besteht. Jedes äußerlich wahrgenommene Objekt kann sich bei näherer Betrachtung als etwas anderes erweisen als zunächst angenommen wurde, aber niemals kann etwas Schmerz sein, ohne sich auch schmerzhaft anzufühlen. Sein und Erscheinen fallen im Erlebnis also zusammen, und mit beiden ist immer schon ein Ich, in seiner Identität mit sich selbst, gegeben. Sucht man dieses Sein aber begrifflich zu fassen, entzieht es sich immer wieder und verliert sich in einem unendlichen Werden.

Die Rückführung der Subjektivität auf ihre Voraussetzungen führt also zu deren »Verzeitlichung« – analog zur »Objektseite«: Da Kant die Zeit als »Anschauungsform« allein dem Subjekt zugemessen hat, musste er sein »Ding an sich« konsequenterweise als zeitlos und statisch auffassen. Schopenhauer, der das Kantische Ding an sich als eine Art kosmischen Willen interpretierte, tat damit einen Schritt hin zu dessen Temporalisierung, die jedoch erst mit Nietzsche wirklich vollzogen wurde, der die Welt insgesamt als »Willen zur Macht« verstand, als unaufhörliches Werden und Vergehen einzelner »Willenszentren«.93

Um die Jahrhundertwende wurde diese Tendenz sodann einerseits von den modernen Naturwissenschaften, die jedoch nur einen quantitativen Zeitbegriff kennen, und andererseits von der Lebensphilosophie, insbesondere von Henri Bergson und Ludwig Klages, fortgesetzt.94 Beide sahen die Welt als fortwährenden Prozess an, in den erst sekundär statische Elemente hineininterpretiert werden, was Bergson aus einer Neigung unseres Verstandes zur Verräumlichung der Zeit erklärte, während Klages darin eine Verfehlung des Kontinuums des Werdens durch seine »Punktualisierung« erkannte. Entscheidend ist aber der Aspekt der Temporalisierung: Es gibt keinen ewigen, immer gegebenen Wesenskern, sondern jedes Wesen zeigt sich allein in seiner Entwicklung.

Diese ontologische Temporalisierung korrespondiert mit der »Entdeckung des Zeitlichen« auch auf anderen, konkreteren Ebenen: Das späte 19. Jahrhundert war die Epoche des Historismus und der historischen Sprachwissenschaften, der Evolutionstheorie, die die Biologie durch ihre These von der Entstehung und Entwicklung der Arten verzeitlichte, und schließlich der aufkommenden Psychoanalyse, die sich der – individuellen, später auch kollektiven – »Vorgeschichte« des Bewusstseins widmete.

Sowohl die historische Forschung als auch Kolonialismus und Ethnologie führten dazu, dass statische Identitätsmodelle infrage gestellt wurden; Identität wurde entweder, wie beim frühen Nietzsche, als Täuschung zurückgewesen bzw. allenfalls als nützliches Konstrukt des Verstandes aufgefasst, dem aber in der Realität nichts entspräche, oder sie wird als Kontinuität neu verstanden: Das Kontinuum besteht nur aus seinen Veränderungen, aber es gibt in ihm keine Brüche; jede Veränderung folgt aus einer anderen, so dass die beliebte postmodernistische Kritik der Neuen Linken am Identitätsbegriff, die darauf abzielt, dass sich alles immer schon verändert habe und auch weiter verändere, danebengeht. Veränderungen gibt es in der Tat, aber es ist ein Unterschied, ob sie, wie das organische Wachstum, bruchlos verlaufen (und dadurch als Veränderungen eines Selbst erlebt werden können) oder mit Disruption, Fragmentierung, Destruktion und künstlicher Rekonstruktion des Zerstörten einhergehen.

Die Temporalisierung der Identität im Zeitalter des Historismus führte zu einer Neubewertung von Kultur und Sprache als Voraussetzungen und Medien jeder Identität. Das Ich ist zwar im Sinne eines präreflexiven »Cogito« immer schon gegeben, aber sobald man es begrifflich zu erfassen sucht, greift man auf das sprachliche Erbe zurück, das sich in der Vorgeschichte verliert. Und jede Versprachlichung eines Sachverhalts ist, wie Nietzsche sowie die moderne Sprachphilosophie und Hermeneutik immer wieder dargelegt haben, zugleich ein interpretatorischer Akt. Selbst ein Satz wie »Ich denke« enthält unhinterfragte Voraussetzungen und impliziert bereits durch seine Subjekt-Objekt-Struktur eine Interpretation der Welt, die möglicherweise mit der Substanz-Akzidenz-Struktur der klassischen Ontologie korrespondiert. So stellt Nietzsche in Frage, dass es überhaupt ein Ich gibt, das neben anderen Tätigkeiten auch denkt. Vielleicht ist das Denken primär gegeben, das erst sekundär ein Ich hervorbringt? Und denke ich überhaupt selbst? Ist das Denken ein aktiver Vorgang oder nicht in den meisten Fällen ein passives Geschehen? Kommt ein Gedanke, wenn ich will oder wenn er selber will?95

Vom Ich zum Wir

Das Ich lässt sich nicht erfassen. Dies hat manche Denker sogar zu der Annahme veranlasst, dass es ein Ich überhaupt nicht gäbe. In buddhistischen Sutras wird danach gefragt, wo das Ich oder das Selbst in Körper, Geist oder Seele denn anzutreffen sei, und aus der Unmöglichkeit einer klaren Angabe wird dann der Schluss gezogen, dass ein Ich überhaupt nicht existiere. Ähnlich könnte man aber auch behaupten, dass es keine abstrakten Gegenstände wie »die Wahrheit«, »die Gerechtigkeit«, »die Liebe«, noch nicht einmal »den Tisch« und »den Baum« gäbe, weil wir immer nur etwas Konkretes wahrnehmen oder empfinden. Was in jenen buddhistischen Schriften dargelegt wird, ist allein die Nichtexistenz eines bestimmten »Gegenstandes«, den wir als »das Ich« nicht fixieren können und der daher für sich genommen unsere Identität nicht ausmachen kann. Wir müssen daraus jedoch nicht auf einen Mangel, sondern können auch, in der Tradition der Romantik, auf eine Fülle schließen: Unser wirkliches Ich ist unendlich viel mehr als das, was wir von ihm erfassen.