Die Selbstzerstörung der Demokratie

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»Ich bin überzeugt, dass es leichter ist, eine absolute und despotische Regierung in einem Volk zu errichten, in dem die gesellschaftlichen Bedingungen gleich sind, als in einem anderen, und ich glaube, eine derartige Regierung würde – einmal in einem solchen Volk errichtet – die Menschen nicht nur unterdrücken, sondern auf die Dauer jedem einige der wesentlichen Attribute der Menschheit entreißen. Der Despotismus erscheint mir daher in den demokratischen Zeiten als eine besondere Gefahr.« (DA 348)

Tocqueville hat auch ein wesentliches Kriterium des demokratischen Despotismus darin erkannt, dass es sich um eine neuartige, »milde« und »weiche« Herrschaft handelt, die mit den traditionellen Formen auf Gewalt gestützter Tyrannei wenig zu tun hat:

»Es scheint, als werde der Despotismus, sollte er bei den heutigen demokratischen Nationen sein Lager aufschlagen, andere Züge tragen; er dürfte ausgedehnter und milder sein und die Menschen erniedrigen, ohne sie zu quälen. Ich hege keinen Zweifel, dass es den Herrschern in Zeiten der Aufklärung und der Gleichheit – wie den unsrigen – viel leichter fallen wird, die gesamte öffentliche Gewalt in ihrer Hand zu vereinigen und beständiger und tiefer in den Kreis der privaten Interessen einzudringen, als irgendein Herrscher der Antike das jemals vermochte.« (DA 341f.)

Dieser Gefahr könne allenfalls, wie in den Federalist Papers dargelegt, durch ein System ausgleichender Gegenkräfte, eine Verteilung der Macht auf unterschiedliche Institutionen, entgegengewirkt werden. Nötig seien ferner eine Rechtskultur mit aristokratischer Tendenz, die patriotischen Bürgersinn fördere, und ein religiöser Geist, der die allgemeine Moral stärke.

Hier klingt bereits das »Böckenförde-Theorem« an, dass »der freiheitliche, säkularisierte Staat von Voraussetzungen [lebt], die er selbst nicht garantieren kann. […] Als freiheitlicher Staat kann er einerseits nur bestehen, wenn sich die Freiheit, die er seinen Bürgern gewährt, von innen her, aus der moralischen Substanz des einzelnen und der Homogenität der Gesellschaft, reguliert. Anderseits kann er diese inneren Regulierungskräfte nicht von sich aus, das heißt mit den Mitteln des Rechtszwanges und autoritativen Gebots zu garantieren suchen, ohne seine Freiheitlichkeit aufzugeben und – auf säkularisierter Ebene – in jenen Totalitätsanspruch zurückzufallen, aus dem er in den konfessionellen Bürgerkriegen herausgeführt hat.«37

Der säkulare, demokratische Staat bedarf Voraussetzungen, die er, wie noch weit energischer seine libertären und »reaktionären« Kritiker hervorheben, nicht nur nicht garantieren, sondern auch nicht erzeugen kann – ja sogar beständig abbaut. Sucht er sie allerdings im Gewande einer »Zivilreligion«, also einer politischen Ersatzreligion, wiederherzustellen, droht die totalitäre Gefahr.

Bedenkt man, dass Tocqueville eine Gesellschaftsform beschreibt, die in Europa noch alles andere als selbstverständlich war, so mutet seine Antizipation späterer Entwicklungen, trotz seiner nüchternen, empirischen Grundhaltung, visionär an. Tocqueville erscheint dadurch als »Prophet des Massenzeitalters«, in dem zahllose Einzelne umso mehr in der Masse verschwinden, je mehr sie die herrschende Ideologie des Individualismus verinnerlichen:

»Ich will entwerfen, unter welchen neuen Zügen der Despotismus sich in der Welt einstellen könnte: Ich sehe eine unübersehbare Menge ähnlicher und gleicher Menschen, die sich rastlos um sich selbst drehen, um sich kleine und gewöhnliche Freuden zu verschaffen, die ihr Herz ausfüllen. Jeder von ihnen ist, ganz auf sich zurückgezogen, dem Schicksal aller anderen gegenüber wie unbeteiligt […] und wenn ihm auch noch eine Familie bleibt, so kann man doch zumindest sagen, ein Vaterland hat er nicht mehr.« (DA 343)

Nietzsches »letzter Mensch« blinzelt bereits um die Ecke, wenn Tocqueville schreibt:

»Die Charaktere sind nicht kraftvoll; die Sitten dafür mild und die Gesetze menschlich. Begegnet man kaum großer Opferbereitschaft, kaum sehr hoher, strahlender und reiner Tugend, so sind dafür die Gewohnheiten geordnet, die Gewalttätigkeit selten und die Grausamkeit so gut wie unbekannt. Die Menschen leben länger, ihr Eigentum ist gesicherter. Das Leben ist nicht sehr glanzvoll, aber sehr behaglich und friedlich. Es gibt wenig sehr zarte und wenig sehr grobe Freuden, wenig Höflichkeit in den Umgangsformen und wenig Rohheit des Geschmacks. Sehr gelehrte Männer trifft man kaum, dafür aber auch kaum sehr unwissende Bevölkerungsschichten. Genie wird selten, dafür die Bildung allgemeiner. Der menschliche Geist entwickelt sich durch die gemeinsamen kleinen Bemühungen aller, nicht durch den mächtigen Vorstoß einzelner. Es gibt weniger Vollkommenheit, aber größere Produktion. Die Bande der Rasse, Klasse und Nation werden locker; das große Band der Menschheit strafft sich. […] Fast alle Extreme schleifen sich ab; fast alles Hervorragende schwindet, um irgendeiner Mittelmäßigkeit Platz zu machen, die zugleich minder hoch und minder tief, minder glanzvoll und minder armselig ist, als was die Welt bisher sah.

Ich lasse meine Blicke über die zahllose Menge gleicher Wesen schweifen, wo nichts sich erhebt, nichts sich senkt. Das Schauspiel dieser universellen Einförmigkeit stimmt mich traurig und kalt, und ich fühle mich versucht, die Gesellschaft zu bedauern, die nicht mehr ist.« (DA 361f.)

Und damals wie heute fragt sich der »letzte Mensch«, der »homo (social-)democraticus«, was denn an dieser Utopie der Behaglichkeit und Sorglosigkeit so traurig sein soll – schließlich genießen alle nicht nur dieselben Rechte, sondern sind auch sonst ziemlich gleichgestellt. Mehr als hundertfünfzig Jahre vor Francis Fukuyama scheint das »Ende der Geschichte« bereits eingetreten – zumindest im geistigen Sinne: Alle großen Fragen sind angeblich geklärt, alles Übrige ist nur noch eine Frage der technischen Umsetzung. Wenn es trotzdem noch Probleme gibt, sind diese »sozialer Natur« oder beruhen auf »mangelnder Aufklärung« – entsprechend sind sie durch Tarifabschlüsse, Sozialleistungen, Integrationskurse und Bildungsgutscheine zu lösen. Wenn nur nicht immer noch die wären, die sich der Schönen Neuen Welt beharrlich verschließen und ihre Segnungen ablehnen, die unbelehrbaren Rechtspopulisten, Ewiggestrigen oder religiösen Fanatiker! Notfalls muss der sanften Gewalt des Sozialstaates eben die Härte des Rechtsstaates nachdrücklich an die Seite treten …

Laut Tocqueville hat die Demokratie ein Janushaupt mit zwei Gesichtern. Eines trägt die ebenmäßigen Züge sittlichen, tatkräftigen Bürgersinns; das andere schneidet Grimassen und grinst despotisch. Gerade dieses Gesicht ist es aber, das in die Zukunft schaut. Tocquevilles Beschreibung der damals erst am geschichtlichen Horizont heraufdämmernden Massengesellschaft und des in ihr vorherrschenden hedonistischen Menschentypus erscheint in ihrer Hellsichtigkeit kaum bestreitbar – aber gilt dies auch von ihrer demokratischen Verfasstheit? Vermengt er nicht die moderne Zivilisation – und speziell ihre Auswüchse – mit der Demokratie? Macht er letztere für Phänomene verantwortlich, die mit ihr nichts zu tun haben, ihr sogar entgegengesetzt sind? Bedeutet Demokratie nicht gerade Freiheit? Schließlich haben die Bürger einer Demokratie die Freiheit, sich zwischen verschiedenen Alternativen zu entscheiden; sie können ihre Regierung wählen und auch wieder abwählen.38 In einer Monarchie oder gar in einem tyrannischen System geht das nicht; ein Regierungswechsel ist nur durch eine meist blutige Revolution möglich.

So lautet jedenfalls die vorherrschende Meinung. Sie hat sich jedoch in Europa erst allmählich im 20. Jahrhundert durchgesetzt. Anfang des 19. Jahrhunderts waren Demokratie und Republikanismus, trotz der hochfahrenden Erwartungen einiger Intellektueller, durch das jakobinische Terrorregime der Französischen Revolution gründlich diskreditiert und nach der Niederlage Napoleons und der Neuordnung Europas durch den Wiener Kongress 1815 scheinbar überwunden. Dennoch gingen die Auseinandersetzungen um die richtige Staatsform weiter: In Frankreich brach 1830 die Julirevolution aus, die Bourbonen wurden gestürzt, und der Herzog von Orléans ließ sich zum »Bürgerkönig« Louis Philippe I. krönen. Durch die Februarrevolution von 1848 wurde Frankreich wieder eine Republik, deren Präsident Charles Louis Napoléon Bonaparte sich ein Jahr nach seinem Staatsstreich am 2. Dezember 1851 zum Kaiser Napoléon III. ausrufen ließ. 1870 wurde er im Deutsch-Französischen Krieg gefangen genommen, und es begann die Zeit der Dritten Republik (bis 1940).

In Deutschland war nach den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 Napoleon zwar besiegt und die französische Fremdherrschaft beseitigt worden, aber die Niederwerfung des Usurpators erfüllte längst nicht alle Hoffnungen der Freiheitskämpfer, Patrioten und Demokraten. Insbesondere forderten sie eine Überwindung der Kleinstaaterei und die Einigung aller deutschen Staaten entweder unter einem kaiserlichen Monarchen oder unter demokratischem Vorzeichen oder auch in einer konstitutionellen Monarchie als einer Mischung aus beidem. Sie wurden als »Demagogen« verfolgt, versammelten sich 1817 auf der Wartburg und 1832 in Hambach, erlebten 1848/49 Triumph und Niederlage. 1871 wurde der preußische König Wilhelm I. – widerwillig – zum deutschen Kaiser gekrönt, sein Haupt war aber nicht »mit demokratischem Öl gesalbt«, wie es der Dichter und Paulskirchenabgeordnete Ludwig Uhland gefordert hatte. Deutschland war, im Sinne der kleindeutschen Lösung, ohne Österreich vereint, aber noch keine Demokratie mit allgemeinem, freiem und geheimem Wahlrecht; stattdessen bestand u.a. in Preußen ein Zensuswahlrecht (Dreiklassenwahlreicht), das sich an der Steuerleistung orientierte. Dennoch gab es durch den Reichstag, der die Budget-Hoheit innehatte, bereits eine republikanische Institution; und insbesondere die Sozialdemokratie wurde, trotz der von 1878 bis 1890 geltenden Sozialistengesetze, zur Keimzelle der Weimarer Republik, in deren Reichsverfassung von 1919 erstmals das uneingeschränkte, gleiche Wahlrecht für Frauen und Männer eingeführt wurde.

 

Einerseits wiesen das ganze 19. Jahrhundert hindurch mächtige Tendenzen auf die Demokratisierung voraus, und die Kreise der Wahlberechtigten wurden bereits in der Spätphase der Monarchie schrittweise erweitert; andererseits deutete am Vorabend des Ersten Weltkriegs noch wenig auf den baldigen Untergang der meisten großen Monarchien des Kontinents hin. 1914 waren unter den europäischen Staaten lediglich Frankreich und die Schweiz Republiken; 1917 wurden die Romanows, im folgenden Jahr die Hohenzollern und die Habsburger gestürzt, und aus den Konkursmassen Russlands, Deutschlands, Österreich-Ungarns sowie des Osmanischen Reiches entstanden – bis auf das neugeschaffene kurzlebige Königreich Jugoslawien – demokratische Republiken bzw. in der Sowjetunion eine kommunistische Diktatur. Auch die verbliebenen europäischen Monarchien sind heute de facto Demokratien mit einem Monarchen an der Spitze, der im Wesentlichen nur noch repräsentative Funktionen ausübt.

Die Demokratie hat auf ganzer Linie gesiegt – in Deutschland aber wurde sie 1918 von weiten Teilen der Bevölkerung als Danaergeschenk der Sieger betrachtet. Nicht nur auf der äußersten Rechten galten demokratische Politiker oft bloß als Erfüllungsgehilfen der Siegermächte, die Deutschland nach dem Diktat von Versailles unterjocht hatten, mit unerfüllbaren Forderungen demütigten und mit gigantischen Reparationserpressungen gnadenlos ausbeuteten. Das neue demokratische System stand für Fremdherrschaft, Hunger und Inflation.

Ganz anders in Amerika: Dort vermied man zwar noch den Begriff der Demokratie, aber die im Unabhängigkeitskrieg erstrittene Republik trug über die sezessionistischen Südstaaten mit ihrem »reaktionären« Gesellschaftssystem den Sieg davon, und der Triumph des neuen republikanischen Gedankens verband sich mit dem älteren frontier-Bewusstsein der Kolonisten, die in ein – ihrer Auffassung nach – nur von rechtlosen Wilden dünn besiedeltes Gebiet vorstießen und dabei die Grenze der »Zivilisation« immer weiter nach Westen verschoben. »Sie kamen«, so der Theologe und Kulturhistoriker Thomas Berry, »ihrem Selbstverständnis nach mit der besten Religion der Welt, mit dem höchsten intellektuellen, ästhetischen und moralischen Entwicklungsstand und mit der besten Rechtsprechung; folglich brauchten sie den Kontinent lediglich als politisches Refugium und als Region, die sie ausbeuten konnten.«39

Auch nachdem unter der Präsidentschaft Theodore Roosevelts das letzte Stück freien Landes vergeben worden war, blieb das Bewusstsein vorherrschend, nicht nur an einer Grenze von Zivilisation und Barbarei zu leben, sondern die zivilisierte Welt durch stetige Expansion vergrößern zu müssen. Dieser missionarische Geist, der in dem religiösen Eifer der frühen Siedler wurzelt, wurde auch in seiner säkularisierten Gestalt zu einem wesentlichen Bestandteil des amerikanischen Selbstbewusstseins. Ihm stand der Isolationismus der 1823 durch den US-Präsidenten James Monroe begründeten Monroe-Doktrin entgegen, die jede Einmischung der europäischen Kolonialländer in amerikanische Angelegenheiten zurückwies. Der Erste Weltkrieg brachte schließlich den expansionistischen Kräften den Durchbruch. Der Krieg wurde als Geburtshelfer einer »globalen Demokratisierungsbewegung« inszeniert. Unter Demokratie verstand man nun nicht mehr den skeptisch-konservativen, durch ein System von checks and balances austarierten Republikanismus der Federal Papers, sondern eine missionarische Heilsidee. Ihr oberster Verkünder, Präsident Woodrow Wilson, nahm es jedoch, wie viele Prediger, mit seinen eigenen Lehren nicht ganz so genau. Das lautstark propagierte Prinzip der Volkssouveränität sollte für die besiegten Feindstaaten Deutschland und Österreich bekanntlich nicht gelten; die von der Mehrheit beider Länder gewünschte Vereinigung wurde 1919 durch die Anschlussverbote der Verträge von Versailles und Saint-Germain unterbunden. Selbstbestimmung wurde nur den Völkern gewährt, die geltend machen konnten, von den Mittelmächten unterdrückt worden zu sein, nicht aber den Deutschen und Österreichern selbst oder den Völkern in den Kolonien europäischer Mächte.

Die Mehrheit des deutschen Volkes, das naiv auf Wilsons 12-PunkteProgramm vertraut hatte und sich »im Felde unbesiegt« wähnte, sah sich nun im Frieden betrogen und konnte in der aus Niederlage und Zusammenbruch geborenen Demokratie wenig anderes als fremde Herrschaft und eigenen Verrat erkennen: den sogenannten »Dolchstoß« in den Rücken der kämpfenden Nation durch international ausgerichtete, »pazifistische« Kreise, die in Wahrheit das Geschäft des Feindes besorgten.

Die Demokratie hatte in Deutschland also denkbar schlechte Ausgangsbedingungen, und ihr erster Versuch scheiterte nach einer kurzen, scheinbaren Stabilisierung in den »goldenen Zwanzigern« mit der nationalsozialistischen Machtergreifung.

War es aber nicht nur ein Zerrbild der Demokratie, das hier unter ungünstigsten Verhältnissen oktroyiert wurde?

Einerseits war das neue demokratische System ein Ergebnis der Niederlage – aber auch der schmählichen Flucht des Kaisers und des katastrophalen Versagens der alten Eliten –; andererseits vollzog sich der Regimewechsel aber frei von unmittelbaren Maßnahmen der Siegermächte. Die morsche alte Ordnung fiel in sich zusammen.

Es erscheint als ein merkwürdiges Paradoxon, wenn Demokratie durch militärische Sieger vorgeschrieben wird. Dennoch kann man auch hier wieder das Janushaupt der modernen Massendemokratie erkennen. Ihr despotisches Antlitz zeigte sich nun in der diktatorischen Willkür der Siegerstaaten.

Betrachtet man die Außenpolitik der USA in neuerer Zeit – etwa die Instrumentalisierung der NATO nach dem Untergang der Sowjetunion als Mittel amerikanischer Expansion, die Förderung oder gewaltsam betriebene Absetzung orientalischer Machthaber je nach tagespolitischem Kalkül und die Bündnisse mit despotischen Regimen wie denen der Golfstaaten –, dann erkennt man, dass es sich beim Gebaren der »einzigen Weltmacht« (Zbigniew Brzezinski) nicht nur um Missverständnisse und Selbstverfehlungen handelt. Kann es tatsächlich sein, dass der Demokratie totalitäre Züge innewohnen? Oder ist sie nicht doch das Gegenmodell zu jedem Totalitarismus?

Kein Gott?

Bekanntlich ist die Demokratie heute nahezu sakrosankt. Wer sie kritisiert, bemängelt nur ihre jeweilige Umsetzung, nicht die Demokratie an sich. Abgesehen von sehr schmalen politischen Rändern gilt dies auch für Kritiker der Political Correctness und Vertreter alternativer Bewegungen. Nahezu jede Kritik zielt auf »mehr Demokratie« ab, nicht auf weniger. Die politische Gesäß-Differenzierung nach »links« oder »rechts« spielt dabei eine geringere Rolle als die Zugehörigkeit zum Establishment oder zur jeweiligen außerparlamantarischen Opposition. So traten die Grünen in den achtziger Jahren für mehr direkte Demokratie ein, wollten davon aber nicht mehr viel wissen, als sie 1998 mit der SPD die erste rot-grüne Koalition auf Bundesebene bildeten. Die auf eine Subkultur im Umfeld diverser Zeitungen und Zeitschriften beschränkte Neue Rechte der neunziger Jahre wiederum pflegte gerne einen elitären Habitus, und manche ihrer Autoren kokettierten mit der Konservativen Revolution der zwanziger und frühen dreißiger Jahre;40 aber spätestens seit dem Aufkommen der AfD und verschiedener Bürgerbewegungen in ihrem Umfeld kann auch in Deutschland von einer rechtskonservativen Massenbewegung gesprochen werden, zu deren Kernforderungen die Ausweitung plebiszitärer Elemente gehört. Natürlich sind diese Forderungen z.T. auch taktisch motiviert, da man auf schweigende Mehrheiten hofft; allerdings artikulieren sie auch die nicht unbegründete Wahrnehmung vieler Menschen, von den Funktionseliten ignoriert zu werden, sowie ihre Überzeugung, dass nur eine Erneuerung und Stärkung der Demokratie Abhilfe schaffen könne. Entsprechend groß ist das ratlose Unbehagen, mit dem Mainstream-Politiker auf Demonstranten schauen, die mit dem Wende-Slogan »Wir sind das Volk« (oder dessen Aktualisierung »Vollende die Wende«)41 durch die Straßen ziehen. Anstatt Fehler zuzugeben und zu korrigieren, setzen sie auf Härte und Repression, geißeln Forderungen nach »mehr Demokratie« als populistisch und beklagen einen »Missbrauch« der Meinungsfreiheit durch »Fake News« und »Hassrede«. Sogar einem demokratisch gewählten Staatsoberhaupt, das seit vielen Jahren Mehrheiten hinter sich versammelt, von denen die einstigen Volksparteien in Deutschland nur träumen können, werfen sie vor, es würde das Volk »aufwiegeln«, weil es dieses – anders als in Deutschland üblich – in einer existenziellen Angelegenheit befragen lässt.42 Dennoch führen die Gouvernanten der »öffentlichen« bzw. veröffentlichten Meinung jeden Tag demokratische Lippenbekenntnisse im verkniffenen Munde, auch wenn es sich dabei nur um Bekenntnisse zu einer humanitären democracy, eine Ansammlung von Moralvorschriften, handelt.

Ein Autor, der die vom politisch-medialen Komplex grimmig überwachten Tabus souverän ignoriert, ist der an der Universität von Nevada in Las Vegas lehrende Ökonom Hans-Hermann Hoppe, dessen Buch »Demokratie – Der Gott, der keiner ist« sicher zu den bedeutendsten und provokantesten politisch-philosophischen Arbeiten seit der Jahrtausendwende zählt. In Deutschland wäre es derzeit schwer vorstellbar, dass ein derart freigeistiger Wissenschaftler an einer Hochschule tätig sein könnte.

Hoppe zählt zu den wichtigsten Repräsentanten der Österreichischen Schule der Nationalökonomie, die nach der Emigration Ludwig von Mises’ 1940 in den USA Fuß fasste, dort von Murray N. Rothbard u.a. weiterentwickelt wurde und in neuerer Zeit, durch die libertäre Bewegung popularisiert, auch in Europa wieder Anhänger fand. Der Libertarianism, der vor allem durch die philosophische Schriftstellerin Ayn Rand populär wurde, ist ein radikaler Liberalismus – böse Zungen würden sagen, mit sozialdarwinistischen Zügen –, der jedoch den sozial(istisch)-demokratischen Vorwurf, er nehme asoziales Verhalten und die Ausbeutung der Schwachen und Armen in Kauf, mit der Behauptung zurückweist, es sei im Gegenteil gerade die Demokratie – und deren sozialistische Steigerung –, die Menschen in staatlichem Interesse ausbeute und bevormunde.

Schlagworte, die über die libertäre Bewegung im Umlauf sind, lauten »Privateigentumsanarchie«, »Anarchokapitalismus« oder »Privatrechtsgesellschaft«; Hoppe selbst bevorzugt die Bezeichnung »natürliche Ordnung«, gilt aber auch, da sein »Anarchismus« ausgeprägte konservative oder »reaktionäre« Züge aufweist, als »Paläo-Konservativer«.

Allgemein ist der klassische Liberalismus staatsskeptisch, will den Staat auf seine inneren und äußeren Schutzfunktionen beschränken, das Leistungsprinzip fördern, den Leistungsträger vor den Begehrlichkeiten der minder Leistungsfähigen schützen und den staatlichen Anteil an der Volkswirtschaft senken; der Markt soll sich möglichst frei entfalten und nur durch solche Gesetze geregelt werden, die sein Funktionieren gewährleisten, indem sie kriminelles Gebaren konkurrierender Marktteilnehmer und eventuell auch die Bildung von Monopolen, durch die der Markt sich selbst aufhebt, ausschließen. Hoppes Radikalismus geht über diese Vorstellungen vom Staat als »Nachtwächter« allerdings weit hinaus: Er lehnt nicht nur den Staat überhaupt, sondern insbesondere auch die Demokratie ab und bekundet, dieser im Zweifelsfall die Monarchie als kleineres Übel vorzuziehen. Sämtliche Anschauungen des demokratischen common sense werden von ihm ins Gegenteil gewendet: Die Demokratie garantiere die Freiheit nicht, sondern schränke sie ein; die Monarchie sei immerhin noch freiheitlicher als die Demokratie; der Monarch sorge sich, wenn auch nur aus Eigennutz, mehr um das Wohl seiner Bürger als eine demokratische Regierung; staatliche Sozialgesetzgebung schaffe Armut, anstatt sie zu bekämpfen, und der gesellschaftliche Fortschritt der Demokratisierung sei in Wirklichkeit ein Prozess der Entzivilisierung.

Hoppes Ausgangspunkte sind ökonomische und anthropologische Überlegungen:

»Indem er handelt, zielt ein Handelnder immer darauf ab, einen weniger zufriedenstellenden Zustand durch einen zufriedenstellenderen zu ersetzen. Er zeigt dadurch eine Präferenz für mehr statt weniger Güter. Darüber hinaus zieht er immer auch in Betracht, sowohl wann in der Zukunft er seine Ziele erreicht haben wird, d.h. die zur Erreichung der Ziele notwendige Zeit, als auch die Haltbarkeit eines Gutes. Damit zeigt er außerdem eine universelle Präferenz für frühere statt spätere und für mehr statt weniger haltbare Güter. Dies letztere ist das Phänomen der Zeitpräferenz.«43

 

Güter sind immer knapp, die Lebenszeit ist endlich; man genießt einen Besitz lieber jetzt als später und verzichtet auf einen möglichst baldigen Konsum nur um der Aussicht willen, dass Konsumbeschränkung zum Zwecke der Investition einen größeren künftigen Besitz hervorbringt. Die Neigungen und Voraussetzungen dazu sind höchst unterschiedlich: Kinder und Jugendliche tendieren, da es ihnen aufgrund ihrer bislang kurzen Lebenszeit an Investitions- und Besitzakkumulationserfahrungen weitgehend mangelt, zu schnellem Konsum; sie haben also eine hohe Zeitpräferenz. Dies gilt auch für Arme, deren Bedürfnisse hoch und deren Rücklagekapazitäten gering sind, für bildungsferne Menschen ohne Einblick in ökonomische Zusammenhänge, für Söhne und Töchter aus reichem Hause, die niemals sparen mussten, um sich Wünsche zu erfüllen, für Milieus, die stark an Mode und Lifestyle orientiert sind, sowie für Gesellschaften, die sich vorwiegend an kurzlebigen Trends ausrichten, und erst recht für solche, in denen politische und ökonomische Unsicherheit langfristige Planungen erschwert. Sind künftige Risiken (etwa infolge von Arbeitslosigkeit, Berufsunfähigkeit, Alter und Krankheit) kalkulierbar, ist man an einer Vorsorge interessiert; werden Krisen aber zu Dauerzuständen, gibt man lieber aus, was man jetzt noch hat. Umgekehrt weisen Menschen im mittleren Alter, insbesondere wenn sie eine Familie haben, Bessergestellte mit höherem Einkommen und Gebildete eine niedrigere Zeitpräferenz auf. Im höheren Alter kann sich diese Tendenz umkehren, da nur noch wenig Lebenszeit zur Verfügung steht – es sei denn, der ältere Mensch spart und investiert für seine Kinder und Enkel, macht sich also deren Zukunft gleichsam zu eigen. Sicherlich kann man auch Geld in andere Zwecke investieren, aber die biologische Gewissheit, in Kindern und Enkeln fortzuleben, wirkt stärker als das gute Gefühl, z.B. einem Tierschutzverein etwas vererbt zu haben.

Nicht nur ökonomische Krisen haben Einfluss auf die Zeitpräferenz, sondern auch stabile gesellschaftliche Faktoren – vor allem kontinuierlich wachsende staatliche Enteignung. Jede Regierung monopolisiert Enteignungen in einem bestimmten Territorium, insbesondere durch Steuern; in Monarchien ist dies aber in deutlich geringerem Maße der Fall: Noch am Vorabend des Ersten Weltkriegs überstieg die Steuerlast in den europäischen Monarchien kaum irgendwo zehn Prozent (»den Zehnten«). Der Monarch hat schließlich als »privater Regierungseigentümer«, der sein Land als seinen Besitz betrachtet, über den er allein oder in Abstimmung mit seiner Familie verfügt, ein Interesse daran, es möglichst schonend auszubeuten:

»Daher wird ein Privateigentümer der Regierung (ein König) es z.B. vermeiden, seine Untertanen so stark zu besteuern, dass seine zukünftigen Einnahmen und mithin der gegenwärtige Wert seines Besitztums (des Königreichs) an Wert verlieren. Stattdessen wird er sich, um den Wert seines Eigentums zu erhalten oder gar zu mehren, in seiner Steuerpolitik systematisch zurückhalten, da die Untertanen umso produktiver sein werden, je geringer der Grad der Besteuerung ist, und je produktiver die Bevölkerung ist, umso höher steigt der Wert des parasitären Enteignungsmonopols des Herrschers. Natürlich wird er sein monopolistisches Privileg ausnützen. Er wird nicht nicht besteuern. Aber als Privateigentümer der Regierung ist es in seinem Interesse, parasitär von einer wachsenden, zunehmend produktiven und blühenden Wirtschaft zu leben, da dies – immer und ohne Anstrengung auf seiner Seite – auch sein eigenes Vermögen und seinen Wohlstand erhöht. Steuerquoten werden daher eher niedrig sein.«44

Auch die Kriegführung war in monarchischer Zeit im neuzeitlichen Europa – nachdem die ideologische Phase der Glaubenskriege überwunden war – »eingehegt« und folgte festgelegten Codices. Sie war ein »erweitertes Duell« der Könige, das die Völker wenig betraf, und die Herrscher suchten ihrem Gegner möglichst ohne große Verluste ihren Willen aufzuzwingen. Eine allzu große Schwächung des Feindes wurde dabei vermieden, da sie die monarchische Herrschaft insgesamt diskreditiert hätte. Am liebsten vergrößerte man sein Territorium durch geschickte Heiratspolitik. Mit der Französischen Revolution sowie der aus dieser folgenden napoleonischen Epoche trat dann das Zeitalter der Ideologien und ideologischen Kriege in die Geschichte ein. Mit ihm kamen Massen- und Volkskriege auf, die sich in den beiden Weltkriegen fortsetzten und noch das moral bombing des Westens seit den neunziger Jahren, als Kampf »des Guten« gegen »das Böse«, grundieren.

Erst im Zeitalter der Demokratie, zu der das verzerrte Spiegelbild des Totalitarismus gehörte, entwickelten sich Kriege zu »totalen Kriegen«, in denen der militärische Gegner zum Feind schlechthin – sogar der gesamten Menschheit – erklärt wurde, den es ein für alle Mal auszurotten gelte, damit endlich das Gute – Frieden, Demokratie, Menschenrechte usw. – siegen würde.

Das maßvolle Verhalten des Monarchen zeigt sich nach Hoppe ebenso in Moral und Gesetzeswesen wie an einer allgemeinen Orientierung am Überlieferten. Tradierte Sitten wurden gepflegt, Neuerungen meist nur ungern eingeführt, und man beließ es bei einem relativ einfachen, klaren Gesetzeskorpus, anstatt, wie in unserer Zeit, immer neue unüberschaubare Gesetze zu verabschieden und damit das Vertrauen in den Rechtsstaat zu unterhöhlen – was heute Recht ist, kann morgen zu Unrecht erklärt werden oder umgekehrt, und selbst hochspezialisierte Fachanwälte können ihren Mandanten oft nur vage Schätzungen anbieten.

»Im Gegensatz zur internen und externen Mäßigung einer Monarchie impliziert eine demokratische (im öffentlichen Besitz befindliche) Regierung zunehmende Auswüchse, und vom Übergang einer Welt der Könige zu einer Welt demokratisch gewählter Präsidenten muss erwartet werden, dass es zu einem systematischen Wachstum der Intensität und des Ausmaßes der Regierungsmacht und einer deutlich verstärkten Tendenz zur Entzivilisierung kommt. Ein demokratischer Herrscher kann den Regierungsapparat zu seinem persönlichen Vorteil benutzen, aber er gehört ihm nicht. Weder kann er Regierungsressourcen verkaufen und den Erlös davon privat einstecken, noch kann er Regierungseigentum an seinen persönlichen Erben weitergeben. Ihm gehört die laufende Verwendung der Regierungsressourcen (Nießbrauch), aber nicht ihr Kapitalwert. In deutlichem Unterschied zu einem König wird ein Präsident nicht den Gesamtwert des Regierungsvermögens (Kapitalwerte und laufendes Einkommen) maximieren wollen, sondern das laufende Einkommen (unabhängig und auf Kosten von Kapitalwerten). […] Entsprechend muss es als unvermeidbar betrachtet werden, dass öffentliches Besitztum zu kontinuierlichem Kapitalkonsum führt. Anstatt den Wert des Regierungseigentums zu erhalten oder gar zu mehren, wie es ein König tun würde, wird ein Präsident (der vorübergehende Verwalter oder Beauftragte der Regierung) die Regierungsressourcen so schnell wie möglich verbrauchen, denn was er nicht jetzt verbraucht, wird er womöglich niemals verbrauchen können. Insbesondere hat ein Präsident (im Unterschied zu einem König) kein Interesse daran, sein Land nicht zu ruinieren.«45