Die Selbstzerstörung der Demokratie

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Der Grundirrtum, dem Hobbes und Locke gleichermaßen unterlagen, besteht im Ausgang von einer abstrakten Konstruktion, die sie für den »Naturzustand« hielten. Verträge setzen jedoch Kultur und geteilte Werte – also eine »Leitkultur« – voraus. In der Natur werden keine Verträge geschlossen, und der Mensch lebte, soweit wir wissen, niemals in einem präkulturellen Zustand.

Zudem führt die Vertragshypothese zu merkwürdigen Fragen und Widersprüchen: Müssen alle künftigen Staatsbürger beim Vertragsschluss anwesend sein oder nur einige, und wenn ja, welche? Hat sich die Staatlichkeit grundsätzlich in allen Staaten auf diese Weise konstituiert, oder gibt es auch andere Möglichkeiten ihrer Begründung? Wer wählte die Vertragspartner nach welchen Kriterien aus? Woran bemisst sich, wer zum Vertragsschluss zugelassen wird, wenn die Staatlichkeit, die den Staatsbürger vom Nichtstaatsbürger trennt, erst durch den Vertragsschluss entstehen soll?

Der Zirkel, bei dem das zu Begründende immer schon vorausgesetzt wird, ist unvermeidlich. Wischt man diese Fragen aber mit dem Argument beiseite, dass es sich bei der Vertragshypothese nur um ein Denkmodell handle, so ist nicht nachvollziehbar, inwiefern es dann den »Naturzustand« beschreiben soll. Der Übergang vom impliziten naturrechtlichen zum expliziten kodifizierten Rechtszustand wird dadurch nicht einsichtig. Jede politische Ordnung setzt bereits eine andere voraus, und die Ursprünge verlieren sich im Dunkel der Vorgeschichte. Dieses ist aber nicht die Finsternis des Nichtwissens, sondern das Dunkel mythischer Unbegründbarkeit. Die Anfänge aller Staatlichkeit liegen im Mythos.

Mit einer anderen Annahme sucht Charles de Montesquieu in seinem Hauptwerk »Vom Geist der Gesetze« (1748) den Hiatus zwischen Natur- und Gesellschaftszustand zu schließen: Ihm geht es »um die Frage nach den dem menschlichen Leben inhärenten Naturgesetzen. Anders als etwa Thomas Hobbes ist nämlich für Montesquieu der Staat nicht ein Mittel, den natürlichen Krieg aller gegen alle zu beenden, vielmehr entspricht ein Staat, der nach den Naturgesetzen aufgebaut ist, der Natur des Menschen.«25

Montesquieu vertritt die für die Aufklärung typische deistische Gottesauffassung, nach der Gott nur Schöpfer, nicht aber Lenker des Universums sei. Er habe seine Schöpfung gleichsam in die Unabhängigkeit entlassen – aber nur in die Unabhängigkeit von ihm selbst, nicht von den Naturgesetzen, die im Kosmos wirken. In diesen – und allein in diesen, nicht in göttlichen Eingriffen bzw. »Wundern« – zeige sich seine Göttlichkeit. Da die gesamte Welt Gottes Schöpfung sei, wirkten letztlich auch dieselben Gesetze in der menschlichen Gesellschaft wie in der Natur. Die Frage nach dem Übergang vom Natur- zum Gesellschaftszustand stellt sich dann nicht mehr – allerdings bleibt die Frage offen, warum der Mensch sich manche Gesetze selbst gibt, während er andere nicht beeinflussen kann.

Montesquieus Interesse lag jedoch nicht primär im philosophischen Bereich; er war empirischer Forscher und wollte Handlungsanweisungen für die praktische Politik vorlegen. Gute Politik ist seiner Auffassung nach durch die Ausbalancierung der verschiedenen Gewalten und die Vermeidung einer zu großen Machtkonzentration in einer Hand gekennzeichnet. Alles wirke in der Natur zusammen, und auch in der Gesellschaft müssten die einzelnen Kräfte interagieren und sich ergänzen. So wurde Montesquieu zum eigentlichen Begründer der Lehre von der Gewaltenteilung, in der Exekutive, Legislative und Judikative jeweils ihr eigener Bereich zugemessen wird, um Despotismus einerseits und Anarchie andererseits zu verhindern. Damit nicht doch eine Gewalt die anderen aufsaugt, sollen verschiedene Sicherungsmaßnahmen wie die allgemeine Wahl von Abgeordneten, die Unterteilung der Legislative nach englischem Vorbild in Ober- und Unterhaus und die Bindung der Exekutive an die Gesetze für Stabilität und das »rechte Maß« im aristotelischen Sinne sorgen.

Montesquieu plädiert also für eine gemischte Verfassung nach dem Vorbild des Aristoteles und nicht für ein radikales Demokratiemodell, aber seine Lehre von der Gewaltenteilung hat die Ausbildung der modernen parlamentarischen Demokratie wesentlich beeinflusst. Auch diese ist de facto mehr oder weniger eine Mischverfassung. Zwar heißt es etwa im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, dass alle Gewalt vom Volke ausgeht, aber diese Gewalt wird nicht einheitlich vollzogen, sondern entäußert sich, wie in den antiken Verfassungslehren entworfen, in unterschiedlichen Formen. Die allgemeine, freie und geheime Wahl ist heute das vorherrschende demokratische Element (was nicht immer so war – man denke an das radikal elitäre Losverfahren bei den Athenern), aber die Repräsentation des Volkes in einem Parlament weist aristokratische Züge auf, und in der Institution eines Präsidenten, dem je nach Verfassung mehr oder weniger Rechte zugemessen werden, zeigt sich ein monarchisches Erbe. Auch das Bundesverfassungsgericht in Deutschland vertritt in gewisser Weise eine monarchische Instanz, insofern es nicht nur judikative Aufgaben wahrnimmt, sondern der Exekutive durch die Beurteilung der Verfassungsmäßigkeit ihres Handelns einen Rahmen setzt.

Die funktionale Begründung der staatlichen Gewalten entspricht bei Montesquieu den traditionellen Annahmen: Die monarchische Exekutive solle in der Hand von »Entscheidungsexperten« liegen; der Adel verfüge als gesellschaftliche Elite über wirtschaftliche Unabhängigkeit und größtmögliches Urteilsvermögen; und das Volk sei zwar der Souverän, könne seine Souveränität aber selbst nicht hinreichend artikulieren und ausschöpfen.

Souveränität und allgemeiner Wille

Hier sorgte nun Jean-Jacques Rousseau als radikaler Theoretiker der Volkssouveränität für einen Paradigmenwechsel. Der Schriftsteller, Gelehrte, Komponist, Hauslehrer, Privatsekretär und Liebhaber adliger Damen, die ihm mäzenatisch zugetan waren, war nicht nur wegen seiner »prekären Lebensverhältnisse« das Enfant terrible unter den französischen Intellektuellen seiner Zeit, sondern irritiert bis heute durch seine Widersprüchlichkeit. Man hat ihn als Aufklärer und zivilisationsfeindlichen Romantiker, Vordenker der Französischen Revolution und Stichwortgeber ihrer Kritiker, Basisdemokraten, Freiheitskämpfer und Wegbereiter des Totalitarismus gesehen – und alles nicht ohne Grund, wenn man jeweils einzelne Aspekte aus ihrem Zusammenhang herausgreift.

Auch Rousseau spekuliert über den mutmaßlichen Naturzustand des Menschen und kommt in seiner »Abhandlung über die Wissenschaften und Künste« (1750) sowie in der »Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen« (1755) zu dem für den damaligen Fortschrittsglauben vernichtenden Ergebnis, dass der menschliche Zivilisationsprozess lediglich zum Verfall der Moral geführt habe. Ursprünglich hätten die Menschen, abgesehen von physischen Unterschieden, in einem Zustand der Gleichheit und allgemeinen Empathie gelebt; erst das »Verbrechen«, Grenzen zu ziehen und Dinge, die von der Natur jedem gleichermaßen gewährt wurden, als persönliches Eigentum zu bezeichnen, habe zu Ungleichheit und Interessengegensätzen geführt, die später durch Gesetze fixiert worden seien. »Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten«, heißt es zu Beginn seines politischen Hauptwerkes »Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts« (1762).

Trotz des heute üblichen, fast selbstverständlich erscheinenden Lobes der Aufklärung sollte man nicht übersehen, dass es sich bei Rousseaus Ideen um Projektionen handelt, die von Archäologie, Ethnologie und historischer Forschung längst widerlegt wurden. Ihre kritischen Impulse sind damit jedoch nicht erledigt, sondern nur manche ihrer zeitbedingten Inhalte. Noch immer müssen wesentliche Anregungen der Aufklärung gegen ihre (z.B. religiös motivierten) Feinde und Verächter verteidigt und weitergeführt werden – vor allem der Mut, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, wie Kant die aufklärerische Maxime zusammenfasste –, aber ebenso ist es nötig, die falschen, selbsternannten Aufklärer aufzuklären. Wie die meisten politisch-intellektuellen Bewegungen war sie in der Kritik plausibler als in ihren eigenen positiven Entwürfen, und da sie dazu neigte, aus ihren rationalistischen Postulaten irrationale Ideologien abzuleiten, bedarf sie der Anwendung ihrer Prinzipien auf sich selbst. Um den kritischen Kern der Aufklärung zu retten, muss man sie auch gegen ihre Propagandisten verteidigen – ähnlich wie die Demokratie vor denen, die sich selbst am lautstärksten als Demokraten feiern, in Schutz zu nehmen ist.

Einer der unsinnigsten und doch einflussreichsten Gedanken der Aufklärung war das Tabula-rasa-Prinzip, das aus der kritischen Stoßrichtung gegen klerikale Bevormundung heraus verständlich, aber deswegen noch nicht richtig ist. Der Mensch kommt weder als unbeschriebenes Blatt »frei« und »gleich« zur Welt, noch tritt er so in die Geschichte ein. Immer trägt er eine Erbschaft mit sich, ist bestimmt durch Genetik und Kultur und kann sich nur in einem vorgegebenen Rahmen entfalten.

Ebenso, wenn auch nicht ganz so offenkundig wirklichkeitsfremd ist die Auffassung, Eigentum sei etwas »Unnatürliches«. Nur Tiere kennen kein Eigentum (auch wenn sie bereits ein Revierverhalten zeigen), aber der Mensch machte sich immer schon seine Umwelt zu eigen. Ob es sich dabei um individuelles oder kollektives Eigentum, etwa einer Familie oder eines Stammes, handelt, ist zweitrangig. »Unnatürlich« ist Eigentum nur, insofern es notwendig der Sphäre der Kultur angehört. Diese bildet jedoch die »zweite Natur« des Menschen und lässt ihn den rein biologischen Bereich transzendieren.

Zweifellos ist Eigentum auch keine zufällige, kontingente Erfindung, sondern ergibt sich aus der existenziellen Verfasstheit des Menschen, seinem In-der-Welt-Sein: Zum menschlichen Dasein gehört, wie insbesondere Martin Heidegger dargelegt hat, wesentlich seine Zeitlichkeit. Der Mensch lebt aus der Vergangenheit und entwirft sich auf seine Zukunft hin. Das Eigentumsprinzip ist daher Ausdruck seines existenziellen Bestrebens, auch morgen noch über das verfügen zu können, was sich gestern und heute als nützlich erwiesen hat. Da der Mensch durch Gedächtnis und Erinnerung ausgezeichnet ist und seine Zukunft plant, hat er einen Drang, das – mit Heidegger gesprochen – »Zuhandene«, bzw. der Benutzung Verfügbare, über den Augenblick des Nutzens hinaus für künftige Verwendungsmöglichkeiten aufzubewahren.26 Und aufgrund seines Bewusstseins der eigenen Identität (auf die wir unten näher eingehen) beansprucht er dieses Nützliche oder Sinnstiftende als individuelles oder gemeinschaftliches Eigentum. Eigentum ist also kein »Verbrechen«, sondern ein Existenzial, eine Grundkategorie der menschlichen Existenz.

 

Trotz der fortschrittskritischen Haltung, die Rousseau zu einem Ahnherrn des konservativen »Kulturpessimismus« (richtiger müsste es heißen: »Zivilisationspessimismus«) werden ließ, blieb er doch dem konstruktivistischen Gesellschaftsdiskurs seiner Zeit verhaftet: Am Anfang soll wieder einmal ein Vertrag gestanden haben. Offenbar erschien dieses Konzept einer sich nach Sicherheit und Befriedung sehnenden Epoche der Religions- und Bürgerkriege, aber auch eines aufstrebenden, sich durch Handel und Geschäftsbeziehungen definierenden Bürgertums so attraktiv wie selbstverständlich. Eine andere Linie führt von Rousseaus Kritik am Eigentum zur marxistischen Linken – er habe lediglich am Beginn der Menschheitsentwicklung gesucht, was eigentlich am Ende zu erreichen sei, lautet das spätere linke Verdikt.

Auch bei Rousseau zeigt sich, dass sein Vertragsbegriff äußerst ambivalent ist, denn durch den Vertragsschluss erfolgt für ihn die »Entäußerung jedes Mitglieds mit allen seinen weiteren Rechten an das Gemeinwesen als Ganzes« (GV I 6,17). Klingt dies noch ähnlich wie bei Thomas Hobbes, so besteht doch der entscheidende Unterschied darin, dass die Souveränität des Einzelnen, die er aus Schutz- und Sicherheitsgründen abgibt, nicht einem anderen Einzelnen, sondern der Gemeinschaft insgesamt »übertragen« wird, ohne dass jedoch ein tatsächlicher Souveränitätstransfer stattfindet.

»An die Stelle der Einzelpersonen tritt eine sittliche Gesamtkörperschaft, das Volk, dem die absolute Souveränität zukommt. Die einzelnen Glieder des Volkes nehmen eine doppelte Rolle ein – als Teilhaber an der Souveränität sind sie an der Gemeinwillenbildung beteiligt und werden Bürger genannt; gleichzeitig sind sie dazu verpflichtet, dem Gemeinwillen zu folgen, und somit Untertanen.«27

Das Individuum wird frei, indem es sich unterwirft; es wird souverän, indem es seine Macht abgibt; es wird zum Volk, indem es sich aufgibt. Die merkwürdigen Widersprüche sollen sich in der Konstruktion des volonté generale, des Gemeinwillens, auflösen. Dieser ist »das Kernstück in Rousseaus Volkssouveränitätslehre – durch ihn wird das Volk in der Ausübung der Souveränität angeleitet. Während der Gesamtwille (volonté de tous) von Rousseau als die Summe aller Sonderwillen (volonté particulière) definiert wird, zielt der Gemeinwille auf das Gemeinwohl. Die vom Gemeinwillen geleitete Souveränität sieht Rousseau als unveräußerlich und unteilbar an.«28

Wie stellt sich Rousseau nun diesen allgemeinen Willen vor? Um ihn zu erhalten, müsse man das »Mehr und Weniger« vom Gesamtwillen abziehen; er ist so etwas wie der kleinste gemeinsame Nenner, wenn man die berechtigten Wünsche der Individuen um ihre überzogenen egoistischen Sonderinteressen bereinigt. Rousseau geht also davon aus, dass dem Willen der Einzelnen ein vernünftiger Kern innewohnt, aber er bestimmt ihn – trotz seiner leidenschaftlichen Imaginationen des »edlen Wilden« im Banne des mathematisch-mechanistischen Denkens der Aufklärung – rein quantitativ. Es geht nur darum, das, was jeder Einzelne für sich zu viel fordert, abzuziehen – aber wer soll das tun? Eine repräsentative Instanz steht nicht zur Verfügung, da Souveränität für Rousseau »unveräußerlich« ist. Auch eine Gewaltenteilung wird explizit abgelehnt; dem Volk obliegt unmittelbar selbst die Legislatur als Wesen und Ausdruck seiner Souveränität, und ein Gesetz, »das das Volk nicht selbst beschlossen hat, ist nichtig; es ist überhaupt kein Gesetz« (GV III 15, 103). Exekutive und Judikative sind dementsprechend keine eigenständigen Gewalten, sondern nur nachgeordnete Funktionen, die von dazu beauftragten Organen – nicht aber von »Vertretern« des Volkes – auszuführen sind.

Folglich kann das Volk nur selbst, durch Abzug der überschießenden Einzelinteressen, seinen Gemeinwillen bestimmen; alle Bürger müssten dazu über jedes Gesetz abstimmen, was in der Praxis schwer zu bewerkstelligen ist. Dementsprechend kann Rousseau nur sehr kleine Gemeinwesen, die wie die griechischen Stadtstaaten die Bürgerrechte auf wenige Einwohner beschränken, als legitime Staaten anerkennen und muss eine demokratische Regierungsform für große Flächenstaaten als unmöglich zurückweisen. Dennoch ist selbst bei kleinsten Staatsgebilden davon auszugehen, dass repräsentative Elemente irgendwie durch die Hintertür eingeführt werden, sei es auch nur durch den größeren Einfluss politisch besonders begabter und/oder wohlhabender Individuen, die andere Bürger gleichsam informell repräsentieren.

Rousseau sieht sich trotz seiner emphatischen Betonung der Volkssouveränität daher auch nicht als Demokraten, sondern als Anhänger der Republik, worunter er das durch Gesetze definierte Gemeinwesen versteht. Im Grunde ist jeder legitime Staat also eine Republik – eine res publicans, die Sache der Allgemeinheit –, und die konkrete Regierungsform – Monarchie, Aristokratie oder Demokratie – resultiert aus der Anzahl der mit der Exekutive Beauftragten. Eine wirkliche Demokratie ist äußerst selten – »eine so vollkommene Regierung passt für Menschen nicht« (GV III 4,74) –, und in seinen Verfassungsentwürfen für Korsika und Polen schlägt er trotz seiner strikten Souveränitätslehre gemischte Systeme vor. Wie auch als Pädagoge,29 zeigt er sich hier von seiner pragmatischen Seite. Trotz der allgemein aus seinem Werk abgeleiteten Forderung »Rückkehr zur Natur!«30 erweist sich Rousseau als Theoretiker ohne Bodenhaftung und veranschaulicht in der Widersprüchlichkeit seiner Schriften ein wohlbekanntes Prinzip: Je umfassender der theoretische Anspruch und je strikter die Moral, desto stärker ist immer wieder der Wirklichkeitsschock.

Nicht ohne Grund klaffen Theorie und Praxis bei ihm weit auseinander: Sein Konzept einer durch faktische Selbstregierung erzeugten Identität von Herrschenden und Beherrschten ist, wenn überhaupt, nur in einem sehr kleinen Staat zu verwirklichen, und sein Begriff des Gemeinwillens bleibt merkwürdig unbestimmt. Im Prinzip kann der Gemeinwille alles verlangen, wenn die Mehrheit dies bestimmt – die Minderheit hat sich dann zu unterwerfen und genießt auch keinerlei Schutz etwa durch einen verfassungsmäßigen Rahmen. Und erst recht verfügt das Individuum über keinen Grundrechtsschutz oder sonstige gegen den Zugriff des Staates gerichtete Abwehrrechte, wie sie für die liberale Verfassungstradition charakteristisch sind. Rousseaus volonté generale krankt also an seiner rein zahlenmäßigen Bestimmung und kann, wie oft bemerkt wurde, totalitäre Züge annehmen. Letztlich ist nicht einsichtig, mit welchem Recht sich eine – oft knappe und schwankende – Mehrheit als Stimme des Gemeinwillens definieren, also eine höhere Qualität der Willensbildung in Anspruch nehmen darf, wenn sie doch nur quantitativ bestimmt ist.

Wir haben demgegenüber eine konkrete Bestimmung des Gemeinwohls vorgeschlagen, indem wir davon ausgehen, dass es politischen Entitäten – wie dem Volk als zentralem politischem Subjekt – um ihr Selbst geht: Sie streben danach, sich im Dasein zu erhalten, und dem Gemeinwohl ist alles förderlich, was diesem Ziel dient. Von daher lassen sich auch Rahmenbedingungen definieren, die das Wuchern schädlicher Gesetze ausschließen, in denen partielle Gruppen-, Lobby- und Minderheiteninteressen das Gemeinwohl usurpieren, wie es in den heutigen Demokratien durchgängig der Fall ist.

Das Individuum wird durch eine am Volk und dessen Wohlergehen orientierte Konzeption keinesfalls einem »völkisch« formierten Staatswesen geopfert, wie heute oft gedankenlos dahergeredet wird. Die individuelle Persönlichkeit und das Volk, dem sie angehört, stehen ja, da der Mensch ein gesellschaftliches Wesen ist, nicht in einem Gegensatz. Wenn man das Wesen der Politik darin sieht, Leben und Wohlergehen des Volkes zu sichern und zu erhalten, folgt daraus keine Unterdrückung des Einzelnen. Im Gegenteil: Der einzelne und allein hilflose Mensch wird vor kollektivistischen, gleichmacherischen und entwurzelnden – letztlich krank machenden und lebensfeindlichen – Ideologien geschützt, wenn er einem lebendigen, daseinswilligen, sich aus seiner Vergangenheit heraus für seine Zukunft erneuernden Gemeinwesen verbunden ist; und dem Fortbestand eines solchen sind starke, freie Individuen förderlicher als ferngesteuerte Konsumenten der jeweils modischen oder vorgeschriebenen Ideologie. Etwas salopp formuliert ist (gute) Politik die Medizin des Volkes. Der Politiker hilft dem Volk, sein Leben zu erhalten, im Idealfalle so wie ein Arzt dem Einzelmenschen. In der Realität ist heute leider oft das Gegenteil der Fall, wenn linksextreme Politiker und Aktivisten den »Volkstod« propagieren und Kritiker solcher Parolen als »Rechtsextremisten« verunglimpft werden.

Die Tatsache, dass Rousseau zwei Staaten dann doch gemischte Verfassungen empfohlen hat, zeigt, dass es sich bei seinen Ausführungen letztlich um – freilich sehr einflussreiche – Gedankenspiele handelte, die von äußerst gegensätzlichen politischen Richtungen aufgegriffen werden konnten, von den Befürwortern einer plebiszitären Demokratie ebenso wie von Vertretern eines identitären »Führerstaates«.

Ungeachtet dessen gewinnt Rousseaus kategorisches Eintreten für die unmittelbare Demokratie in gesellschaftlichen Umbruchphasen wie 1989 oder in der Spätphase der Merkel-Regierung immer wieder neue Aktualität. Demokratie ist, wie er sagt, letztlich die Verfassung eines Volkes von Göttern – man könnte dies, da Menschen keine Götter sind, aber auch zu dem Satz abwandeln: Demokratie ist die Verfassung eines Volkes in einem »göttlichen« Augenblick, einem herausragenden kairos seiner Geschichte. Wirkliche Demokratie ist ein historischer Moment, in dem ein Volk sich als es selbst begreift, unabhängig von seiner jeweiligen zeitbedingten Verfasstheit. Demokratie ist ein Ereignis – kein selbstverständlicher Zustand –, und die Staatskunst muss darin bestehen, diesem eine gewisse Dauer zu verschaffen bzw. es zu einem fortdauernden »täglichen Plebiszit« (Ernest Renan) werden zu lassen.

Rousseau war einer der bedeutendsten Köpfe der politischen Philosophie der Neuzeit, aber praktisch umgesetzt wurden seine Gedanken kaum – und als man sich während der Französischen Revolution auf sie berief, brachte man die Schreckensherrschaft des Tugendterrors hervor, auf die zunächst das napoleonische Kaisertum und sodann ein jahrzehntelanger Wechsel von Restaurationsbemühungen und demokratischen Eruptionen folgte.

Insgesamt sollte sich die moderne Verfassungswirklichkeit schließlich in die Tradition repräsentativer Demokratietheorien stellen.

Das Janushaupt der Massendemokratie

Ein wichtiger Meilenstein dieser Entwicklung war die Ratifizierung der amerikanischen Verfassung, die die Konföderationsverfassung des Unabhängigkeitskrieges (1775–1783) ersetzen sollte. Um die Akzeptanz dieser neuen Ordnung in der Öffentlichkeit zu fördern, veröffentlichten Alexander Hamilton, der spätere Finanzminister George Washingtons, James Madison, der 1809 Nachfolger Jeffersons als Präsident der USA wurde, und der Außenminister John Jay unter dem Pseudonym »Publius« von Oktober 1787 bis Mai 1788 eine Serie von 85 Zeitungsartikeln, die Federalist Papers, in denen sie das neuartige Projekt eines auf Volkssouveränität beruhenden Gemeinwesens in einem Flächenstaat entwarfen. Zum einen sollte die Union der dreizehn ehemaligen Kolonien politisch, ökonomisch und militärisch stärker zusammengeschlossen werden; zum anderen ging es aber auch darum, radikaldemokratische Bewegungen im Zaum zu halten. Vor allem aber sollte ein historisches Novum verwirklicht werden: eine Republik in einem großen Nationalstaat, die für alle maßgeblichen Theoretiker wie Montesquieu oder Rousseau undenkbar war. Es galt das Prinzip, dass eine demokratische Verfassung höchstens in sehr kleinen Staatsgebilden verwirklicht werden könne; Flächenstaaten müssten als Monarchien oder allenfalls als Mischsysteme verfasst sein. Und in der Tat gab es dafür auch kein historisches Vorbild, außer allenfalls die Republik der Sieben Vereinigten Niederlande, auf die sich die Gründerväter Benjamin Franklin und John Adams beriefen. Auch die Autoren der Federalist Papers vermeiden allerdings noch den Begriff »Demokratie«, unter dem sie in antiker Tradition nur die direkte Demokratie verstanden; stattdessen sprechen sie von einer Republik, meinen damit aber das, was wir heute als »repräsentative Demokratie« bezeichnen. Die direkte Demokratie tendiere zu Maßlosigkeit und sei nicht gegen die Möglichkeit einer Tyrannei der Mehrheit auf Kosten der Minderheit geschützt – einen solchen Schutz biete erst das Repräsentativsystem, das den Volkswillen bändige und kanalisiere. Mit ähnlichen Argumenten versuchen allerdings auch heute noch die Vertreter des politischen Mainstreams, ihre Macht angesichts der Herausforderung des sogenannten Populismus zu zementieren.

 

Und gegen das Argument der Anti-Federalists, dass die Größe eines Flächenstaates mit einer republikanischen Verfassung nicht vereinbar sei, wandten sie ein, dass gerade Größe und Bevölkerungszahl eine hinreichende gesellschaftliche Pluralität garantiere, die dem Machtegoismus einzelner Gruppen entgegenwirke und die für eine Republik erforderliche Gewaltenteilung stabilisiere.

Leider müssen wir jedoch oft genug feststellen, dass ein zu hohes Maß an Pluralität – im Jargon der Mainstream-Parteien »Vielfalt« – zum Zerfall von Gesellschaften führt und dass mit der Größe und Macht eines Landes auch die globalen Einflussmöglichkeiten seiner elitären Kreise wachsen.

So neuartig das Verfassungskonzept der Federalist Papers für einen von Kolonisten hervorgebrachten, jungen und weitgehend geschichtslosen Staat war, so sehr war es doch, trotz des Anspruchs der pilgrim fathers, God’s own country begründet zu haben, um Mäßigung und Ausgleich der Kräfte bemüht. Gleichwohl erkannte der scharfsichtigste Interpret der amerikanischen Demokratie des 19. Jahrhunderts, Alexis de Tocqueville, welches Potential künftiger, nicht zuletzt besorgniserregender Entwicklungen in ihm angelegt war. Wilhelm Dilthey sagte von dem französischen Denker, er sei »unter allen Analytikern der politischen Welt der größte seit Aristoteles und Macchi­avelli.«31

Tocqueville entstammte einem alten französisch-normannischen Adelsgeschlecht und war zunächst als Richter tätig, bis er 1831 zu einer langen Reise in die Vereinigten Staaten von Amerika aufbrach, offiziell um das amerikanische Gefängniswesen zu studieren – vor allem aber, um die neue, im alten Europa unbekannte, demokratische Gesellschaft der USA kennenzulernen. Nach seiner Rückkehr verfasste er sein Werk »De la Démocratie en Amérique«, dessen erster Band 1835 erschien und den erst Dreißigjährigen schlagartig berühmt machte. Fünf Jahre später folgte der zweite Band. Man hat ihn als liberalen Befürworter wie auch als aristokratisch-konservativen Gegner der Demokratie gesehen; tatsächlich verortet er sich selbst zwischen den Epochen und bezieht aus dieser Position des außenstehenden Beobachters seine besondere Fähigkeit zur methodisch-neutralen Analyse:

»Als ich anfing zu leben, war die Aristokratie schon gestorben und die Demokratie noch nicht geboren. Mein Instinkt konnte mich also nicht blind bestimmen, die eine oder die andere Partei zu ergreifen. Ich lebte in einem Lande, das seit vierzig Jahren an allem herumprobiert hatte, ohne sich endgültig für etwas zu entscheiden. Ich war also keineswegs für politische Illusionen zugänglich. Da ich selbst der alten Aristokratie meines Vaterlandes angehörte, hasste oder beneidete ich sie nicht und liebte sie auch nicht mehr besonders, als sie zerstört wurde; denn nur dem Lebendigen verbindet man sich gern. Ich war ihr nahe genug, um sie gut zu kennen, und stand ihr genügend fern, um sie ohne Leidenschaft beurteilen zu können. Über die Demokratie kann ich das gleiche sagen. Kein Interesse flößte mir für sie eine natürliche und notwendige Neigung ein; sie hatte mich auch persönlich nie beschimpft. Keine besonderen Motive bestimmen mich, sie zu lieben oder sie zu hassen, es seien denn die meiner eigenen Vernunft.«32

Tocqueville war seit Aristoteles der erste Analytiker, der die Demokratie aus einer weitgehend unvoreingenommenen Anschauung heraus »am lebenden Objekt« studieren konnte. Worin bestand nun sein besonderer Blickwinkel?

Erstens sieht er die Demokratie, trotz ihrer Seltenheit, nicht mehr als Ausnahme an, sondern als – künftige – Regel. Die Demokratie sei die politische Verfassung der Zukunft; sie sei, ob man dies wolle oder nicht, das Schicksal der modernen Welt.

Zweitens betrachtet er sie nicht mehr nur als verfassungsmäßige Ordnung, sondern als Gesellschafts- und Lebensform, die einen spezifischen Menschentypus hervorbringe. Dementsprechend wurde ihm auch, insbesondere von John Stuart Mill, vorgehalten, er habe einen allzu unscharfen Demokratiebegriff, bzw. er »verwechselt die Wirkungen der Demokratie mit den Wirkungen der Zivilisation. Er fasst in einem abstrakten Begriff alle Tendenzen der modernen kommerziellen Gesellschaft zusammen und gibt ihr einen Namen – ›Demokratie‹.«33 Was als Vorwurf gemeint war, trifft indes tatsächlich das Wesentliche von Tocquevilles Demokratieverständnis, auch wenn er neben seinem weiten Begriff einer »social democracy« u.a. auch den engeren der »political democracy« verwendet.34 »In dem weit gefassten Sinne ist Demokratie identisch mit dem Gesellschaftszustand der Gleichheit der Bedingungen und Sammelbegriff für all das, was nicht mehr ständische Gesellschaft und Politik ist.«35

Damit ist der dritte Punkt benannt: Demokratie besteht in der Herrschaft der Gleichheit.

Viertens bedeutet Demokratie für Tocqueville die Herrschaft der Mehrheit, auch wenn zu seiner Zeit in den USA de facto nur die Bevölkerungsminderheit der weißen Männer wahlberechtigt war.

Tocqueville hebt durchaus wohlwollend gewisse Aspekte der amerikanischen Demokratie hervor und spricht ihr zu, Wohlstand, Bürgersinn, Orientierung am Gemeinwohl, Fleiß und Tatkraft zu fördern, sieht ihre wesentlichen Tendenzen aber dennoch mit Sorge. Ihr größtes Problem zeige sich in einem grundlegenden Konflikt zwischen Gleichheit und Freiheit. Über den Bürgern »erhebt sich eine gewaltige Vormundschaftsgewalt, die es allein übernimmt, ihr Behagen sicherzustellen und über ihr Schicksal zu wachen. […] Sie arbeitet gern für ihr Glück, aber sie will allein daran arbeiten und allein darüber entscheiden. […] Auf diese Weise macht sie den Gebrauch des freien Willens immer überflüssiger und seltener, beschränkt die Willensbetätigung auf ein immer kleineres Feld und entwöhnt jeden Bürger allmählich der freien Selbstbestimmung. Auf all das hat die Gleichheit die Menschen vorbereitet: hat sie bereit gemacht, es zu erdulden, ja es häufig sogar für eine Wohltat zu halten.« (DA 343f.)36

Da die Durchschnittsmenschen eher nach Gleichheit der Lebensverhältnisse als nach Freiheit der geistigen Betätigung strebten, neige die Demokratie zu Nivellierung und Gleichmacherei. Besondere Begabungen würden gehemmt. Sie eröffne zwar vielen Menschen die Möglichkeit zur Teilhabe, aber kurze Amtsperioden und dürftige Besoldung machten eine Karriere in ihren Institutionen meist nur für mittelmäßige Talente attraktiv. Der Wähler sei mangelhaft über politische Zusammenhänge informiert, Regierungen wechselten schnell, und Gesetze würden daher oft überhastet ausgearbeitet. Generell sei der Zeithorizont politischer Entscheidungen aufgrund der häufigen Wahlen eng; der Demokratie ermangele die Nachhaltigkeit; ihre Entscheidungen hätten meist nur kurzfristige Dauer; und sie führe aufgrund der ihr eigenen Ineffizienz zu stets steigenden Ausgaben und unsoliden Staatshaushalten. Des Weiteren sei sie für Kriegs- und Krisenzeiten, die Opferbereitschaft und Hartnäckigkeit erforderten, wenig geeignet; überhaupt sei ihre Domäne eher die Innen- als die Außenpolitik, die der geschickten Diplomatie hinter verschlossenen Türen und nicht der öffentlichen Diskussion bedürfe. Schließlich biete sie wenig Sicherheit gegen eine Tyrannei der kurzsichtigen Mehrheit; ja, es müsse aufgrund des Gleichheitsstrebens stets mit einem Umschlagen in den Despotismus gerechnet werden.