Die Selbstzerstörung der Demokratie

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Als heutiger Leser neigt man dazu, Platons Position mit seiner aristokratischen Herkunft und der Zerrissenheit der athenischen Demokratie in der Zeit ihres Niedergangs zu erklären, doch eine Reduktion auf das Biographische verfehlt die strenge Objektivität eines Denkens, das im Besonderen stets das Allgemeine, die ewige Idee, zu erkennen sucht. Die eigentliche Problematik liegt eher darin, dass Platon, wie die griechische Philosophie generell, von einem mathematisch-naturwissenschaftlichen Modell der Welt ausging und dieses auf den Bereich der menschlichen Geschichte übertrug. Den kosmischen Zyklen, die die Planeten am Himmel vollziehen, entsprechen in diesem, noch von naturhaften Mythen geprägten Denken historische Zyklen des Aufstiegs und Verfalls der Staatsformen. Heute aber müssen wir davon ausgehen, dass sich, bei allen Ähnlichkeiten menschlichen Verhaltens, in der Geschichte nichts wiederholt und die Versuche, ihr gesetzmäßige Abläufe unterzuschieben, gescheitert sind. Die Ursachen dafür liegen in der unberechenbaren Freiheit des Menschen wie in seiner »technischen« Existenzweise: Seit Anbeginn hat der Mensch seine Umwelt umgestaltet und im Laufe seiner Geschichte immer stärker verändert – so sehr, dass man mittlerweile vom »Anthropozän« als der vom Menschen bestimmten Epoche der Erdgeschichte spricht.12 Zwar kann er der ihn umgreifenden Natur, ihren Kreisläufen des Werdens und Vergehens, nicht entfliehen, aber er hat sich doch mit der Kultur eine »zweite Natur« mit eigener Gesetzmäßigkeit geschaffen, die allenfalls Abschätzungen verschiedener Entwicklungsmöglichkeiten, nicht aber eine exakte Vorhersage künftiger Ereignisse erlaubt. So plausibel Platons Lehre vom Kreislauf der Verfassungen klingt, so wenig darf doch davon ausgegangen werden, dass die Entwicklung tatsächlich immer so verläuft. Die Geschichte lässt sich nicht, wie später besonders der Marxismus propagierte, unter reduktionistischen, die untersuchten Ereignisse isolierenden Laborbedingungen beobachten und anhand immanenter Gesetzlichkeiten vorausberechnen. Zudem genügt die kurze menschliche Lebensspanne nicht, um aus eigenen Beobachtungen auf historische Gesetzmäßigkeiten zu schließen.

Aristoteles greift diese negative Einschätzung der Demokratie durch seinen Lehrer auf, ergänzt Platons zeitlos-typisierende Darstellung jedoch später durch empirisch orientierte Analysen konkreter Gegebenheiten. Zunächst, in seiner Ersten Staatsformenlehre, geht er ebenfalls noch von insgesamt sechs idealtypischen Staatsformen aus, die nach der Zahl der Regierenden sowie im Hinblick darauf unterschieden werden, ob jeweils der allgemeine Nutzen oder nur der Vorteil der Regierenden im Mittelpunkt steht. Auf der »guten« Seite finden sich die Monarchie als Herrschaft eines Regenten, die Aristokratie als Herrschaft weniger, die entweder aufgrund von Herkunft und Tugenden oder wegen ihrer Orientierung am Gemeinwohl »die Besten« seien, und schließlich die »Politie«, »Timokratie« oder Republik, in der viele Bürger – allerdings auch nach Maßgabe ihrer Verdienste, einschließlich der steuerlichen Leistungen – regieren. Negativ entsprechen diesen Verfassungen die Tyrannis als despotisches Regiment eines Einzelnen, die Oligarchie oder Plutokratie als Herrschaft der Reichen zu deren persönlichem Vorteil und schließlich die Demokratie als Herrschaft der Vielen, genauer gesagt, der armen oder gänzlich besitzlosen Freien.

Trotz der Einbeziehung der gesamten Bürgerschaft kann von einer Partizipation des Volkes im modernen Sinne im Athen des 5. Jahrhunderts noch keine Rede sein. Man schätzt die damalige Einwohnerzahl Attikas insgesamt auf 250.000 bis 300.000 Menschen. Zieht man von den ca. 170.000 bis 200.000 Erwachsenen die Hälfte, nämlich die Frauen, die prinzipiell keine Bürgerrechte hatten, die Sklaven (ca. 80.000), die etwa 25.000 ortsansässigen Fremden (Metöken) und diejenigen Bürger, die ihre Rechte verwirkt hatten, ab, so bleibt nur noch eine Minderheit von jedem siebten bis maximal jedem vierten Erwachsenen übrig, der zum Demos, zur Gemeinschaft der Bürger, gehörte.13 Die athenische Demokratie war also, nach heutigen Maßstäben, eine sehr exklusive Angelegenheit. Bürger des Demos konnte nur der freie Mann sein und dies auch nur, wenn er waffenfähig war und väter- wie mütterlicherseits von athenischen Familien abstammte. Wenn heute betont wird, dass die athenische Demokratie nicht ethnisch, sondern vom Demos her bestimmt war, wird dieser Aspekt gerne vergessen. Für Herodot bildete das Griechentum aufgrund von »Blut« und Sprache eine Einheit und war zudem durch dieselbe Religion sowie dieselben Sitten und Gebräuche gekennzeichnet. Die Exklusion fand also noch weit unterhalb der ethnischen Ebene, innerhalb des – sich gegenüber den »Barbaren« als Einheit verstehenden – griechischen Volkes, statt und schied die Bürger des Stadtstaates streng und prinzipiell von allen Fremden. Insofern war die Zugehörigkeit zum selben Ethnos selbstverständlich.

Wodurch war diese Staatsform nun im Einzelnen gekennzeichnet?

»Die Demokratie im Staat der Athener ist die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit der quantitativen Gleichheit, der Freiheit und der Souveränität des Demos in der Legislative, der Exekutive und der Judikative.«14

Der mächtige Demos war Inhaber aller drei staatlichen Gewalten. »Die Magistrate werden von allen aus allen gewählt. Alle herrschen über jeden und jeder im Turnus über alle.« (Platon: Politik VI 2 1317b) Sämtliche Ämter – oder wenigstens die meisten, für die keine bestimme Qualifikation erforderlich war – wurden durch das Los besetzt; sie durften normalerweise nicht durch denselben Mann mehrfach besetzt werden, und die Amtsperioden waren sehr kurz. Dadurch hat ein Großteil der Bürger im Laufe seines Lebens einmal ein Amt innegehabt, die allgemeine Teilhabe an den Staatsangelegenheiten war entsprechend ausgeprägt. Der Volksversammlung kam das höchste Gewicht zu, es gab keine Berufspolitiker und keine Parteien. Gleichwohl hatte selbstverständlich nicht jeder dieselben Wirkungsmöglichkeiten; der bäuerlich lebenden Bevölkerung auf dem Land mangelte es an Zeit, sich zu beteiligen, und insgesamt hatten manche Bevölkerungsschichten – in der Stadt Ansässige, Ältere und Wohlhabende – mehr Partizipationsmöglichkeiten als andere. Verwandtschaftliche Beziehungen spielten eine große Rolle, und einzelne begabte Redner konnten sehr großen Einfluss erlangen. Dementsprechend war die Rhetorik eine geschätzte, vielgepflegte Disziplin, was die Kritik der demokratieskeptischen Philosophen auf den Plan rief, die der Überredungskunst den Logos als wahre Rede entgegensetzten.

Trotz – oder wegen – seiner Distanz zur Demokratie (die sich biographisch schon durch seine Außenseiterstellung bzw. »Beobachterposition« als Metöke ergab) hat Aristoteles diese mit größtmöglicher analytischer Präzision beurteilt. Besonders in seiner Zweiten Staatsformenlehre wendet er sich von den idealtypischen Formen ihren konkreten Realisierungen zu; keine Staatsform existiere nämlich in der Realität in reiner Gestalt, sondern aufgrund der jeweils gegebenen soziokulturellen Verhältnisse ließen sich unterschiedliche Ausprägungen und Mischungen unterscheiden:15 An erster Stelle sowie am zeitlichen Ursprung stehe die »gemäßigte Demokratie«, in der das Vermögen bzw. die Steuerlast für Regierungsämter qualifiziere und der Demos hauptsächlich aus Ackerbauern bestünde, die sich mit der Wahl der Exekutive weitgehend zufriedengäben. Auf der nächsten Stufe spiele der Vermögenszensus keine Rolle mehr, und als Qualifikation genüge die Abstammung; da die Amtsträger kein Honorar erhielten, sei allerdings weiterhin nur den Wohlhabenden über einen längeren Zeitraum eine Amtsführung möglich. In der dritten Demokratieform werde der Kreis der Bürger noch mehr ausgeweitet, aber erst auf der vierten Stufe komme es zur vollständigen Teilhabe aller Bürger. Diese »extreme« Form beruhe auf der völligen Gleichheit aller Bürger und der Besoldung ihrer politischen Tätigkeit, die es auch den Armen ermögliche, sich längere Zeit der Politik zu widmen. Deren finanzielle Interessen stünden nun auf Kosten der Reichen im Mittelpunkt; Demagogen – heute würden wir sagen »Populisten« – , die das Volk bald zu diesen, bald zu jenen Beschlüssen verleiteten, hätten großen Einfluss, und statt der langfristig bewährten Gesetze herrsche eine kurzfristige tagespolitische Orientierung.

Um dieser Tendenz entgegenzusteuern, empfiehlt Aristoteles eine gemischte Verfassung, die sich aus Elementen der Demokratie und der Oli­garchie, möglichst in ihren mildesten Formen, zusammensetzen sollte. Neige sie mehr zur Demokratie, sei sie eine »Politie« bzw. Republik; neige sie stärker zur Oligarchie, so sei sie eine Aristokratie. So könnte etwa die Vergabe der Staatsämter auf der Grundlage von Wahlen statt aufgrund des egalitären Losverfahrens erfolgen, wodurch die individuelle Tüchtigkeit der »Besten« (aristoi) stärker hervortrete; dafür dürfe vom Zensusprinzip, das die Reichen begünstige, abgesehen werden.

Aristoteles gehörte zu den moderaten Kritikern der Demokratie besonders in ihrer radikalen, populistisch-egalitären Form – von vielen Autoren ist sie bis ins 20. Jahrhundert hinein weit schärfer kritisiert worden. Prinzipielle Ablehnung der Demokratie – und nicht nur ihrer unzureichenden Umsetzung – mutet den meisten Menschen heute befremdlich oder extremistisch an, da man sich daran gewöhnt hat, in der Demokratie wie selbstverständlich die beste aller möglichen Staatsformen, ja die einzig menschenwürdige, zu sehen, in der allein Freiheit und Rechtsstaatlichkeit verwirklicht seien. Bereits 1849 stellte der französische Politiker Guillaume Guizot zumindest für Frankreich fest, der Begriff »Demokratie« übe eine derartige Macht aus, »dass keine Regierung, keine Partei zu leben wagt – und es zu können glaubt –, ohne dieses Wort auf ihre Fahnen zu schreiben«.16 Und ein gutes Jahrhundert später – im Jahre 1957 – schrieb George Orwell: »Jeder, der eine Regierungsform verteidigt, erklärt sie, wie sie auch sein mag, für demokratisch.«17

 

Diese Position hatte sich Mitte des 20. Jahrhunderts im Westen vollständig durchgesetzt. Es ist daher erstaunlich, dass sich die Demokratie – dreißig Jahre nach ihrem Siegeszug auch in den Staaten des ehemaligen sowjetischen Machtbereichs sowie Südamerikas und weiter Teile der Dritten Welt – in einer Dauerkrise befindet und zunehmend infrage gestellt wird. Zwar beanstandet auch gegenwärtig kaum jemand öffentlich das Prinzip der Volksherrschaft an sich, sondern fast jede Kritik – heute zumeist von rechts – an der »real existierenden« Demokratie betont, dass diese durch Volksentscheide gestärkt oder durch ein Zurückdrängen etablierter Parteienkartelle in vollem Umfang wiederhergestellt werden müsse.18 Aber zuweilen wird auch eine neue »funktionalistische« Kritik an der Demokratie geäußert und deren Lösungskompetenz zumindest bei existenziellen Fragen bestritten, die schneller Entscheidungen ohne langwierige parlamentarische Verfahren bedürften19 – ganz abgesehen von ihrer fundamentalistischen Ablehnung etwa durch den Islamismus.

Die traditionellen Demokratieskeptiker trieb vor allem die Sorge um, dass sich die Demokratie zu einer Herrschaft der »Massen« bzw. zur Diktatur charismatischer Demagogen radikalisieren könne, und empfahlen, wie Aristoteles, ihre Mäßigung und Einhegung. Manfred G. Schmidt zählt insbesondere folgende klassische Topoi der Kritik an der athenischen Demokratie auf, die wir im Anschluss an die jeweilige Behauptung kommentieren:20

• Das Gleichheitsprinzip missachte die unterschiedlichen Fähigkeiten und Verdienste der Bürger, sei daher ungerecht und im Sinne einer klugen, weitblickenden Staatsführung kontraproduktiv.

In der Tat war die Athener Demokratie aufgrund des Losverfahrens ausgesprochen egalitär, konnte dieses Prinzip aber nicht in allen Bereichen, insbesondere in der Außenpolitik und der Kriegführung, bei der die Existenz des Gemeinwesens auf dem Spiel stand, durchhalten. Es erscheint daher naheliegend, eine derart egalitäre Demokratie als Schönwetterverfassung bzw. als Staatsform für ruhige Zeiten (die selten eintreten) anzusehen. Wesentlich häufiger kommt in der Geschichte das Gegenteil vor: So hatte die römische Republik für Notstandsphasen die Möglichkeit einer zeitlich befristeten Diktatur vorgesehen; natürlich nimmt eine solche Bestimmung aber die Gefahr einer bleibenden Machtkonzentration oder eines Bürgerkriegs in Kauf.

• Das egalitäre Prinzip führe vor allem in der Rechtsprechung zu häufig kritisierten Fehlurteilen durch ungeschulte, parteiisch agierende Richter oder zu deren Abhängigkeit von der Volksmeinung.

Dies ist möglich, jedoch besteht bei einer stark exkludierenden, elitären Besetzung des Richteramtes umgekehrt die Gefahr, dass die Judikative in Abhängigkeit von der Exekutive gerät.

• Während heute meist – oberflächlich – davon ausgegangen wird, dass Demokratien friedfertiger als andere Staatsformen seien, wurde von antiken Kritikern gerade die Kriegführung des demokratischen Athen verurteilt: So seien Kriege mit besonderer Grausamkeit geführt und vom Attischen Seebund abgefallene Verbündete oder neutrale Staaten mit brutaler Härte bestraft worden. Vor allem der Peloponnesische Krieg sei auf athenischer Seite durch katastrophale Fehlentscheidungen gekennzeichnet gewesen. Insbesondere die besitzlosen Schichten hätten eine aggressive Militärpolitik befürwortet, während Wohlhabende eher zur Zurückhaltung gemahnt hätten.

Abgesehen von ihrer Saturiertheit mag den Angehörigen der besitzenden Klassen das Risiko des totalen Verlustes von Vermögen, Ansehen und gesellschaftlichem Einfluss vor Augen gestanden haben. Wer viel zu verlieren hat, wird sich schon deshalb anders verhalten als derjenige, der nichts zu verlieren, aber viel zu gewinnen hat, zumal wenn letzterer die militärischen Verhältnisse kaum überblickt.

• In den Volksversammlungen und Geschworenengerichten sei es aufgrund von Unwissenheit und Verführung durch eigensüchtige Redner immer wieder zu schweren, systemisch bedingten Fehlurteilen gekommen. Die große Mehrheit sei eben leicht beeinflussbar, wankelmütig, launisch, uneinsichtig und nicht zur Weisheit begabt. Die Masse könne kein Philosoph sein (so Platon: Der Staat 494a 4); am besten sei es daher, wenn besonders geschulte und begabte »Philosophenkönige« den Staat führten, wie Platon, nach der allgemein üblichen Interpretation, in seiner »Politeia« dargelegt hat.21

Ein solcher Staat blieb allerdings immer eine Utopie, und Platons eigener Versuch, in Syrakus in die Politik einzugreifen, schlug bekanntlich fehl. In der repräsentativen Demokratie der Neuzeit wurde das demokratische Grundproblem mangelnder Kompetenz der Entscheidungen durch die »aristokratische« Instanz gewählter Vertreter ausgeglichen. Dem Bürger obliegt nicht mehr die Entscheidung selbst, sondern die Wahl der mit den Entscheidungen Betrauten.

• Aufgrund der vorherrschenden Interessenlage würden die Wohlhabenden übermäßig besteuert, Neid und Hass gediehen, die Spannungen zwischen Arm und Reich nähmen zu, und es herrsche eine Atmosphäre des Klassenkampfes.

Die Frage, inwiefern die Demokratie per se sozialistische Tendenzen aufweist, wird uns weiter unten noch beschäftigen, wenn wir das Verhältnis von Demokratie und ökonomischer Freiheit diskutieren. Es ist anzunehmen, dass die klassenkämpferischen, revolutionären Aspekte vor allem in der Übergangsphase der Demokratisierung eine Rolle spielen, wenn die Vertreter der vorangegangenen Ordnung gerade abgesetzt wurden. Später bilden sich wieder neue ökonomische Eliten, die dann auch die Möglichkeiten der Demokratie zur Bereicherung nutzen. Die ökonomische Ungleichheit ist auch in demokratischen Gesellschaften immens. Und Neid und Hass aufgrund sozialer Unterschiede gab es auch in vordemokratischen Gesellschaften.

• Schließlich sei die Demokratie aus diesen Gründen insgesamt ein instabiles und unberechenbares System und ihre Anfälligkeit für Krisen erheblich größer als die der traditionalen Regierungsformen der Monarchie und Aristokratie.

Gegenwärtig erscheinen die größtenteils im 20. Jahrhundert etablierten Demokratien allerdings noch relativ stabil im Vergleich mit den späten Monarchien oder Diktaturen in der Zeit des »Weltbürgerkriegs« von 1914 bis 1945. Es ist allerdings die Frage, ob deren Untergang aus ihrer Instabilität folgte oder nicht vielmehr ein Ergebnis des verlorenen Ersten bzw. Zweiten Weltkrieges war. Da Demokratien in der Weltgeschichte Ausnahmeerscheinungen waren, beruht ein Vergleich mit anderen Staatsformen auf unzureichenden Grundlagen. Allein die weitaus längere Dauer monarchischer Systeme würde eher für deren Stabilität sprechen, jedoch ist auch dieses Urteil aufgrund der Vielzahl anderer relevanter, etwa ökonomischer und technologischer Faktoren fragwürdig.

Die Unterschiede der direkten, gleichermaßen egalitären wie exklusiven – große Bevölkerungsgruppen ausschließenden – attischen Demokratie und der modernen, mehr oder weniger repräsentativen – und tendenziell inklusiven – Demokratie sind offensichtlich groß: Es gab im demokratischen Athen keine Gewaltenteilung, keine Parteien oder sonstigen »Filter« der Willensbildung, keine Klasse von Berufspolitikern und keine Massenmedien, sondern nur persönliche Kommunikation oder öffentliche Bekanntmachungen. Aufgrund der unmittelbaren Partizipation bildete sich die Demokratie lediglich in kleinen Stadtstaaten aus und wäre mit den damaligen Kommunikationsmitteln schwerlich auf größere Flächenstaaten übertragbar gewesen. Dementsprechend war sie, obwohl Perikles in seiner von Thukydides überlieferten sogenannten »Leichenrede« ihre Vorbildlichkeit für andere Völker betonte, nicht universalistisch ausgerichtet und kannte keine allgemeinen Menschenrechte, sondern nur die durch Geburt und Abstammung erworbenen Rechte des autochthonen männlichen Bürgers. Zu ihren Voraussetzungen gehörten Homogenität (das ethnische Prinzip wurde, wie schon gesagt, nicht eigens betont, sondern als selbstverständlich vorausgesetzt, da sowieso nur Autochthone bürgerrechtsfähig waren), eine gewisse Übereinstimmung der Interessen, die aufgrund der Vermögensunterschiede jedoch nur teilweise gegeben war, gemeinsame und Gemeinschaft stiftende religiöse Kulte und Sportveranstaltungen (Olympiaden) – also eine unhinterfragbare »Leitkultur« –, eine breite, partizipationsfähige und -willige Mittelschicht, außenpolitische Souveränität und demographische wie territoriale Überschaubarkeit.

Mit der Eroberung Griechenlands durch die Makedonier und der Eingliederung der griechischen Stadtstaaten in das Reich Alexanders des Großen fand die antike Demokratie ihr Ende. Die römische Republik war, trotz einiger demokratischer Elemente, bis zur Einführung des Prinzipats unter Kaiser Augustus eine aristokratische Gesellschaft.

Das Alexanderreich und seine Diadochenstaaten, das römische Imperium und viele andere Reiche zeigen, dass große Flächenstaaten in der Antike monarchischer oder aristokratischer Regierungsformen bedurften. Die Demokratie war eine Ordnung kleiner, überschaubarer Gemeinwesen, in denen direkte Kommunikation und unmittelbare Partizipation ohne mediale Vermittlung möglich waren.

Hervorzuheben ist auch der Zusammenhang zwischen Universalismus und imperialer Herrschaft: Universalistische Philosophien, wie die der Stoiker und Epikureer, kamen erst in »globalen« Großreichen auf und lieferten mit ihrem Prinzip ubi bene ibi patria (»wo es gut ist, ist die Heimat«), das in der Kopfgeburt des »Verfassungspatriotismus« unserer Tage wiederkehrt, die »kosmopolitische« ideologische Verklärung der imperialen Machtverhältnisse: Multiethnische und »multikulturelle« Imperien wurden – und werden auch heute mit schleichender Tendenz – totalitär beherrscht. Im Gegensatz zur modernen Demokratie – die sich kaum noch als Herrschaft des Volkes, sondern als lokale Ausprägung globaler Prinzipien versteht und eher die universalen, fast nur noch individualistisch verstandenen Menschenrechte als die Rechte von Völkern auf ihre Eigenart und Eigenständigkeit vertritt – hob die griechische Demokratie ihre besonderen Eigentümlichkeiten hervor. Wenn Perikles ihre Vorbildlichkeit herausstellte, tat er dies aus Patriotismus und nicht, weil er eine Übertragung der athenischen Demokratie auf andere Staaten für möglich und wünschenswert hielt.

Die spätantiken imperialen Ordnungen mit ihrer globalen Perspektive und dem Universalismus, der im Römischen Reich – 212 n.Chr. in der Constitutio Antoniniana unter Kaiser Caracalla – zur Erweiterung der Bürgerrechte auf alle freien Bewohner des Imperiums führte, sodann die Christianisierung Europas in Spätantike und Frühmittelalter und schließlich die Anknüpfung an das römische Vorbild durch die Theorie einer Translatio imperii von Rom auf die mittelalterlich-christlichen Reiche boten für eine Erneuerung der Demokratie, abgesehen von gemischten Formen wie der Wahlmonarchie, wenig Voraussetzungen.22 Lediglich in ländlichen Gebieten außerhalb der sich allein für zivilisiert haltenden Welt konnten (noch heidnisch geprägte) Gesellschaften, in denen Volksversammlungen (etwa beim »Thing«) eine bedeutsame Funktion zukam, bis ins Hochmittelalter überdauern, d.h. bis diese bäuerlichen Kulturen nach meist zähem Widerstand in größere christliche Reiche eingegliedert wurden.

Zwar war das Christentum in politischer Hinsicht stets flexibel und favorisierte, anders als der Islam, keine bestimmte gesellschaftliche Ordnung; dennoch gibt es, wie Odo Marquard in seinem »Lob des Polytheismus« hervorgehoben hat, eine deutliche Analogie zwischen metaphysischem Monotheismus und Monarchie bzw. Polytheismus und demokratischen Staatsformen. Und nicht zufällig führten die Reformation, wenngleich dies nicht in ihrer Absicht lag, der Humanismus, die Aufklärung und die Demokratisierung schrittweise zur Abwendung von der Idee einer monotheistischen Fundierung der Weltordnung.

Moderne Vertragslehren – Hobbes, Locke, Montesquieu

Im England des 17. Jahrhunderts war die Gesellschaft durch die Reformation aus den Fugen geraten. Das Land war religiös tief gespalten, und König Jakob I. und sein Nachfolger Karl I. versuchten, am Parlament vorbei einen neuartigen Absolutismus durchzusetzen, was schließlich zum Bürgerkrieg und zur Enthauptung Karls I. führte. Unter dem Eindruck dieser Umbrüche formulierte Thomas Hobbes in seinem Werk »Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates« (1651) eine Grundlegung des Absolutismus.

Im Gegensatz zu Aristoteles war es für ihn nicht mehr selbstverständlich, dass der Mensch ein gesellschaftliches und gesellschaftsfähiges Wesen ist, sondern in seiner pessimistischen Anschauung erscheint jeder seinen Mitmenschen im hypothetischen Naturzustand bekanntlich als einsamer Wolf (homo homini lupus). Der Mensch sei seinem Wesen nach egoistisch, asozial und von Leidenschaften getrieben; sein größtes Bestreben liege im Selbsterhaltungstrieb. Da im Naturzustand keine übergeordnete Gewalt wirke, kämpfe jeder in totaler Freiheit gegen jeden – zugleich leide der Mensch aber auch an diesem Daseinskampf, und seine Vernunft wie sein Drang zum Daseinserhalt veranlassten ihn, auf seine ursprünglichen Rechte zu verzichten, um Frieden und Sicherheit zu erlangen, bzw. einer allgemein akzeptierten Instanz die Wahrnehmung seiner Daseinsrechte zu übertragen:

 

»Jedermann soll freiwillig, wenn andere ebenfalls dazu bereit sind, auf sein Recht auf alles verzichten, soweit er dies um des Friedens und der Selbsterhaltung willen für notwendig hält, und er soll sich mit soviel Freiheit gegenüber anderen zufrieden geben, wie er anderen gegen sich selbst einräumen würde« (L 14, 100).

Die Aufrechnung der Freiheit des einen gegen die des anderen lässt Hobbes als Wegbereiter des Liberalismus erscheinen; gleichzeitig ist er auch der Vordenker des Absolutismus sowie der Begründer des Souveränitätsgedankens. Souveränität resultiere nicht aus einer göttlichen Gnade, sondern werde dem Herrscher – im Prinzip wenigstens – von den Bürgern übertragen, um dafür Ruhe und Ordnung zu erlangen. Versäume er es, seine Untertanen effektiv zu beschützen, verwirke er seine Rechte ihnen gegenüber. Das Herrschaftsverhältnis ist also ein Vertrag, der von beiden Seiten einzuhalten ist.

Zweifellos ist Hobbes kein Demokrat, aber seine Vertragslehre erwies sich später für die Lehre von der Volkssouveränität als anschlussfähig. Am Anfang soll es ja ein Vertrag freier und gleicher Individuen gewesen sein, als diese beschlossen haben, einem von ihnen die Souveränität über alle anderen in dem dadurch begründeten Staat zu übertragen – die Monarchie geht also auf eine ursprüngliche, einmalige Wahl zurück.

Ein ähnliches Modell vertritt einige Jahrzehnte später John Locke in seinen »Zwei Abhandlungen über die Regierung« (1690); sein Menschenbild ist jedoch ein gänzlich anderes und daher auch seine Theorie des Gesellschaftsvertrags. Wie Hobbes weist er die Idee einer göttlichen Legitimitätsquelle der Herrschaft ab und leitet jegliche Souveränität aus einem im angeblichen Naturzustand abgeschlossenen Vertrag her. Dieser ursprüngliche Zustand ist bei ihm jedoch kein bellum omnium contra omnem, sondern durch ein ungeschriebenes Naturrecht gekennzeichnet: Die Menschen hätten in Freiheit und Gleichheit zusammengelebt, was sich für Locke aus der biblischen Schöpfungsgeschichte ergibt. Jeder verfolge seine Interessen, insbesondere seinen Drang – bzw. seine göttliche Pflicht – zur Selbsterhaltung, und aus der menschlichen Arbeit ergebe sich auch das Recht auf Eigentum, aber die individuellen Grenzen lägen dort, wo man einem anderen Schaden zufüge. Vermöge seiner Vernunft sei der Mensch zwar in der Lage, die Rechte des Mitmenschen zu erkennen; dennoch sei eine übergeordnete Autorität notwendig, um gleiches Recht für alle durchzusetzen und den Einzelnen daran zu hindern, seine Grenzen zu überschreiten. Aus diesem Grunde hätten die Menschen im Urzustand eine Regierung gewählt und dieser ihre Souveränität übertragen. Sie hätten auf Selbstjustiz verzichtet und durch Mehrheitsbeschluss eine Legislative konstituiert, die dann, je nachdem, in wie viele Hände die Macht übertragen wird, die Form einer Monarchie, Oligarchie oder Demokratie annehme. Im Anschluss daran werde das ungeschriebene Naturrecht kodifiziert, und der Mensch trete in den Gesellschaftszustand ein.

Locke ist »ein Wegbereiter der liberal-repräsentativen Demokratie«.23 Insbesondere seine Lehre von der individuellen Freiheit und Gleichheit aller Menschen bereits im Naturzustand, das Mehrheitsprinzip als klassisch demokratisches Element, seine Theorie der Trennung staatlicher Gewalten, vor allem der Legislative und Exekutive, die Betonung der Rechtsbindung der Exekutive und schließlich des Widerstandsrechts der Bürger bei schweren Rechtsverstößen der Regierung weisen auf die moderne parlamentarisch-repräsentative Demokratie voraus. Einige Formulierungen Lockes wurden daher auch nahezu wörtlich in die Menschenrechtserklärungen Virginias und des amerikanischen Kongresses übernommen; auch in der Amerikanischen Unabhängigkeitserklärung finden sich seine Gedanken zum Widerstandsrecht.

Verglichen mit der bürgerkriegsgeschüttelten Zeit Thomas Hobbes’ haben sich durch die Glorious Revolution (1688/89) kurz vor der Veröffentlichung von Lockes »Zwei Abhandlungen« völlig andere Verhältnisse ergeben: Nach der Flucht Jakobs II. war Wilhelm von Oranien vom englischen Parlament berufen worden – das Parlament war nun Träger der staatlichen Souveränität.

Es ist bemerkenswert, dass Hobbes und Locke von der Konstruktion eines angeblichen Naturzustandes zu völlig unterschiedlichen Begründungen ihrer Gesellschaftsmodelle gelangten, und man kann lange darüber diskutieren, welches Menschenbild realistischer ist. Heutige Interpreten werden wohl dasjenige Lockes favorisieren, das auch der aristotelischen Auffassung vom Zoon politikon nähersteht. Auch in Urzeiten war der Mensch keine einsam in der Wildnis hausende Bestie, und es zeugt von der Weisheit des griechischen Mythos, dass er nur halbmenschliche Ungeheuer wie Zyklopen und Zentauren außerhalb der Zivilisation leben lässt. Dennoch ist die Einschätzung der Befähigung des Menschen zu einem geordneten, friedlichen Zusammenleben auch in unserer Zeit vom jeweiligen historisch-kulturellen Hintergrund beeinflusst. Es ist eine Konstante menschlichen Sozialverhaltens, sich in Kriegs- und Krisenzeiten starken Führungspersönlichkeiten anzuvertrauen, von denen man sich schnelle, rettende Entscheidungen erhofft. Selbst Montesquieu, der Theoretiker der Gewaltenteilung, sieht einen Vorteil der Monarchie darin, dass ein einzelner Herrscher im Notfall keinen langwierigen Entscheidungsprozessen unterworfen ist.

Ein anderes Problem besteht darin, ob es überhaupt realistisch ist, einen mehr oder weniger friedlichen Zustand als Normalität anzusehen und den Krieg nur als Ausnahmezustand zu betrachten. Carl Schmitt, der sich wesentlich auf Hobbes’ »Leviathan« berief, erklärte bekanntlich denjenigen für souverän, der über den Ernstfall gebietet bzw. nach dessen Eintreten fähig ist, seine Macht gegenüber Konkurrenten zu behaupten. Souveränität – d.h. die Möglichkeit und Bereitschaft, politische Entscheidungen zu fällen und gegen Widerstände durchzusetzen – erweist sich nicht in Titeln, Deklarationen und Inszenierungen. Populär formuliert: »Macht« kommt von »machen«.

Da Menschen und menschliche Gemeinschaften stets um Ressourcen konkurrieren, die in einem begrenzen Raum notwendig knapp sind,24 wird ein zumindest latenter Krieg solange der Normalfall bleiben, bis »unendliche« Quellen an Nahrung und Energie erschlossen werden können. Allerdings handelt es sich dabei nicht, wie Hobbes annahm, um einen »Krieg« einzelner Individuen gegeneinander, sondern um den Überlebenskampf der Gemeinschaften, in denen Menschen notwendig leben. Billige Sozialdarwinismus- und Militarismus-Vorwürfe sind hier selbstverständlich unangebracht; die Kunst des Krieges besteht zuallererst darin, ihn durch eine Politik des weitsichtigen Ausgleichs und der klugen Bündnisse zu vermeiden, und erst zweitens darin, ihn möglichst schnell siegreich zu beenden.