Die Selbstzerstörung der Demokratie

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Erstere wurden bereits in der Antike wahrgenommen und von den Kritikern der attischen Demokratie problematisiert. Diese Philosophen gingen davon aus, dass die verschiedenen politischen Verfassungen aufgrund jeweils charakteristischer Verfallstendenzen spezifische »Entartungsformen« hervorbringen, auf die dann andere Staatsformen folgen. Insgesamt solle es dadurch zu einer Art Kreislauf der Verfassungen kommen, der dem Zyklus des Werdens und Vergehens in der Natur entspreche. Ausgehend von der Zahl der jeweils Herrschenden wurden bereits die drei Grundtypen der Monarchie, Aristokratie und Demokratie unterschieden und aus ihnen die jeweiligen Verfallsformen abgeleitet, in denen nicht mehr das Interesse der Allgemeinheit, sondern das eines Einzelnen oder einer Gruppe vorherrsche.

Wenn dies zutrifft, ist also auch die Demokratie auf eine ihr immanente Weise aus sich selbst heraus bedroht und fragil. Um ihre problematischen Züge einzudämmen, hat Aristoteles eine Kombination demokratischer Elemente mit solchen anderer Staatsformen, also eine »gemischte Verfassung«, vorgeschlagen.

Neben diesen Faktoren, die für die Demokratie überhaupt kennzeichnend sein sollen, gibt es solche, die aus den jeweiligen nationalen und historischen Eigentümlichkeiten folgen. So kann ein Land etwa aufgrund seiner heterogenen Bevölkerungsstruktur, konfessionellen Gegensätze, historischen Erblasten (Sklaverei, Totalitarismus, Massenmorde etc.), sozialen Spannungen, ökonomischen Probleme, aber auch wegen seiner exponierten Lage und feindlicher Aggressionen am Aufbau einer Demokratie scheitern oder überhaupt daran gehindert werden, eine eigene Staatlichkeit auszubilden. Bekanntlich galt Deutschland lange Zeit als »verspätete Nation«, bei der die Demokratisierung aufgrund einer besonderen Neigung zu Militarismus, autoritärem Untertanengeist und reaktionärem Romantizismus verzögert verlaufen und erst spät – und nicht zuletzt unter äußerem Zwang – erfolgt sei.

Im heutigen Deutschland, um das es hier vor allem geht, sind als problematische interne Faktoren paradoxerweise die geistigen Folgen der totalen Niederlage von 1945 zu nennen, obwohl diese zunächst einmal die Vor­aussetzung der (Re-)Demokratisierung nach dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus gewesen ist. Einerseits sollte durch die Reeducation die nationalsozialistische Gesinnung ausgemerzt und der Boden für eine demokratische Entwicklung bereitet werden; andererseits handelte es sich bei der Demokratisierung durch die amerikanische Siegermacht aber um einen passiv erduldeten Vorgang, der langfristig zu einem Identitätsverlust führte, der heute sowohl den ethnischen Fortbestand Deutschlands als auch seine demokratische Verfasstheit bedroht. Geistig verinnerlicht wurde die äußerlich betriebene »Umerziehung« erst durch die von der Frankfurter Schule intellektuell begründete »Kulturrevolution« von 1968. Diese pflegte zwar einen oberflächlichen Antiamerikanismus und richtete sich vordergründig gegen den US-Imperialismus, übernahm aber die intellektuellen Moden, die später zur Herrschaft der Political Correctness (PC) als einem der wichtigsten psychosozialen Aspekte der Entdemokratisierung führten.

Unter dem Diktat der Politischen Korrektheit verkam die Demokratie von einem Verfahren, Legitimität durch eine mehrheitsgebundene Fundierung der Regierungsgewalt sowie durch die Konstruktion einer Gleichheit von Herrschenden und Beherrschten zu erzeugen, zu einer Weltanschauung mit totalitären Zügen. Als demokratisch gilt seitdem nicht mehr in erster Linie die korrekte Durchführung von Wahlen, um den Willen der Bevölkerungsmehrheit zu ermitteln und durchzusetzen, sondern das ritualisierte Bekunden der »richtigen«, d.h. öffentlich akzeptierten Meinung bzw. die Einhaltung bestimmter Tabus. Abweichungen werden mit dem Ausschluss aus dem Diskurs der selbsternannten Demokraten sanktioniert. Die konkreten Inhalte der PC können dabei durchaus – und zuweilen überraschend schnell – wechseln, wenn sich die gesellschaftlichen Mehrheits- und Opportunitätsverhältnisse ändern; so konnte in den letzten Jahren eine deutliche Verlagerung der ideologischen Schwerpunkte der PC von der »Vergangenheitsbewältigung« in Bezug auf die Verbrechen des Dritten Reiches hin zu den Wünschen und Befindlichkeiten von Einwanderern beobachtet werden, wobei die Ignoranz gegenüber islamischem Antisemitismus, an der auch einige oberflächliche Distanzierungen wenig ändern, vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte irritiert.

Trotzdem sind gewisse Grundideologeme der PC wie »Gleichheit« (z.B. als angebliche Gleichartigkeit von Mann und Frau oder als postulierte Gleichwertigkeit unterschiedlicher Kulturen), »Vielfalt« (als Zusammen- oder eher Nebeneinanderleben von Menschen unterschiedlicher Kulturen), der soziale Primat (nach dem alle Konflikte lediglich soziale Ursachen haben sollen) und »Toleranz« (die stets Fremden, nicht aber dem Selbstbehauptungswillen des eigenen Volkes gilt) bislang erhalten geblieben. Veränderungen, wie etwa Abstriche bei den Frauenrechten zugunsten der »Toleranz« gegenüber dem Islam, sind in absehbarer Zeit aber möglich und zu erwarten. Die Politische Korrektheit ist, trotz des vollmundigen Pathos angeblicher »Demokraten«, die diesen totalitären Ungeist pflegen, ein Nährboden der Entdemokratisierung, die sich in ihrem Drang zu immer neuen repressiven Quoten, Verordnungen, Überwachungs- und Erziehungsmaßnahmen zeigt.

Unter den externen Faktoren, die auf die Demokratie in Deutschland schädlichen Einfluss nehmen, kann der Druck verstanden werden, der von anderen Nationen, weltumspannenden Konzernen und supranationalen Organisationen ausgeübt wird. Hier sind vor allem der Verzicht auf demokratische Souveränitätsrechte im Rahmen der EU, die aus ökonomischen Interessen vorangetriebene Globalisierung, die imperiale Machtpolitik der USA – und zunehmend Chinas –, die Zerstörung der deutschen Gesellschaft durch ungeregelte Einwanderung sowie die von in- und ausländischen Institutionen geförderte und längst zum demographischen Selbstläufer gewordene Islamisierung zu nennen.

Aufgrund der generellen Unschärfe gesellschaftlicher und kultureller Begriffe und Relationen, die niemals in exakte mathematische Verhältnisse zu übersetzen sind, hat die Unterscheidung interner und externer Faktoren nur einen Orientierungswert, da sich diese wechselseitig beeinflussen und verstärken können. Alles ist in ständiger Bewegung, und jede Betrachtung beruht auf standpunktbezogener, interessegeleiteter Selektion und Fixierung des unendlich Komplexen und Veränderlichen.

Schließlich kann die Zerstörung der Demokratie auch vor dem Hintergrund einer geistigen Selbstauflösung des abendländisch-europäischen Bewusstseins gesehen werden. Der Philosoph Frank Lisson hat mehrere Ursachen des »kulturellen Selbsthasses« benannt, der für das späte Abendland – und nur für dieses – charakteristisch sei. Seinen Ursprung sieht er bereits in der Übernahme des Christentums und der Aneignung der antiken Kultur durch die germanischen Völker, die dadurch in einer doppelten Weise »überfremdet« und von ihren eigenen Wurzeln abgeschnitten worden seien.2 Aber auch das Christentum selbst sei bereits eine hybride Mischung aus Judentum und antikem Geist gewesen und an der Unvereinbarkeit von Glauben und Wissen, bzw. dem Widerspruch zwischen der Unterordnung unter göttliche Gebote und kirchliche Dogmen und dem freiheitlichen Geist der klassischen Philosophie zugrunde gegangen. Insbesondere gelte dies für den Protestantismus, der die christliche Tendenz zu Weltschmerz, Unbehaustheit und »transzendentaler Obdachlosigkeit« auf die Spitze getrieben habe.3

Auch wenn die Zerrissenheit der abendländischen Kultur enorme Energien freigesetzt und den jahrhundertelangen Vorrang des neuzeitlichen Europa in Philosophie, Kunst, Wissenschaft, Technologie, Politik und Ökonomie begründet habe, sei sie letztlich die Triebfeder hinter der Selbstaufgabe der europäischen Völker und der Nivellierung ihrer vielfältigen Kulturen in der technokratischen Zivilisation des Globalismus gewesen.

Diese Gedankengänge weisen über das Thema dieses Buches hinaus und können nicht im Einzelnen weitergeführt werden. Sie sind allerdings im Hinterkopf zu behalten, wenn wir an vielen Beispielen feststellen müssen, dass die Verfallserscheinungen unserer Demokratie ebenso wie die Zerstörung unserer deutschen Identität ihre Parallelen in ganz Nord- und Westeuropa sowie in Nordamerika haben – also überall dort, wo die vorherrschende Kultur vor allem auf germanisch-protestantischen Fundamenten ruht. In den katholischen Ländern Südeuropas und Südamerikas sowie vor allem im orthodoxen Osteuropa sind diese Tendenzen weniger gravierend. Die deutsche Situation nach zwei Weltkriegen, Nationalsozialismus und amerikanischer Reeducation ist also als besonders dramatische Ausprägung dieses Prozesses innerhalb eines umfassenden westlichen oder »abendländischen« Kontextes zu sehen.

Die Gliederung dieses Buches ergibt sich aus den sachlichen und historischen Zusammenhängen: Wenn wir die Ursachen der Selbstzerstörung der Demokratie erfassen wollen, müssen wir zunächst klären, worin deren Prinzipien und spezifische Gefährdungen liegen. Unsere Überlegungen führen uns zu den Fragen nach der Aufgabe der Politik überhaupt sowie nach dem Wesen der Souveränität. Von Volkssouveränität kann allerdings nur gesprochen werden, wenn es überhaupt ein Volk gibt, so dass wir nach dessen Identität fragen müssen. Von diesen allgemeinen Betrachtungen gehen wir zur Identität des deutschen Volkes über und beschreiben diese insbesondere in politischer Hinsicht. Wenn wir uns sodann von den mentalitätsgeschichtlichen Konsequenzen der Weltkriege über die Schilderungen der Einflüsse von Reeducation, 68er-Bewegung, Politischer Korrektheit und der Funktionsweisen der modernen Medien bis in unsere Gegenwart vorarbeiten, bewegen wir uns zugleich auf einer abschüssigen Bahn der Konkretisierung unseres deutschen Schicksals. Unter den zahlreichen Aspekten, die den Verfall der Demokratie und, damit einhergehend und sich wechselseitig bedingend, die Zerstörung der deutschen Identität ausmachen, habe ich Merkels »Flüchtlingskrise« und die aus ihr folgenden tiefgreifenden Umwälzungen besonders behandelt. Die massenhafte Migration nach Europa wiegt schwerer als alle anderen Faktoren: Ein wirtschaftlich verarmtes und ruiniertes Land kann sich wieder aufrichten; sogar nach den Zerstörungen eines Weltkriegs ist ein Wiederaufstieg möglich, aber die Voraussetzung einer jeden Regeneration ist noch immer die Existenz des geschlagenen und gedemütigten Volkes selbst.

 

Heute ist nicht nur die Demokratie, sondern auch die Existenz des deutschen Volkes bedroht wie kaum jemals zuvor in seiner Geschichte. Es ist alles andere als wahrscheinlich, dass es, vielleicht über geistige Nischen und Rückzugsräume hinaus, noch eine deutsche Zukunft in Deutschland geben wird; ja, dass unsere Enkel überhaupt noch verstehen werden, was damit gemeint war. Und doch ist immer eine plötzliche Wendung der Geschichte möglich. Sollte diese nicht eintreten, werden sich künftige Historiker mit der schwierigen und komplexen Frage befassen, wie es dazu kommen konnte, dass ein Volk sich auf demokratische Weise Schritt für Schritt selbst abgeschafft hat. Auch für sie ist dieses Buch geschrieben – vor allem aber für diejenigen, die sich heute bereits diese Frage stellen und daran arbeiten, dass doch noch eine große Umkehr stattfindet.

1 Entsprechendes Zahlenmaterial liefert das Statistische Bundesamt unter https://www.destatis.de/DE/Service/Statistik-Campus/Datenreport/Downloads/datenreport-2018-kap-9.html oder das Online-Portal Statista: https://de.statista.com/statistik/daten/studie/153854/umfrage/zufriedenheit-mit-der-demokratie-in-deutschland/

2 »Daher ist das Phänomen des kulturellen Selbsthasses in seiner ganzen Tiefe […] gar nicht zu begreifen oder auch nur hinreichend faßbar, ohne die Verstörungen zu berücksichtigen und in Erinnerung zu rufen, die das Christentum im Abendland ausgelöst hat. […] Der Gott der Christen zwingt zur Unterwerfung und droht permanent mit Bestrafung, der sich eigentlich niemand entziehen könne, weil der Mensch durch sein Menschsein bereits ›sündig‹ sei.« (Frank Lisson: Die Verachtung des Eigenen. Ursachen und Verlauf des kulturellen Selbsthasses in Europa, Schnellroda 2012, S. 61.) »Erst mit der Christianisierung, also mit der Übernahme jener ›Kultur aus zweiter Hand‹, verbreitete sich der Gedanke des Schuldigseins in Europa – und damit der eines ganz neuen Moralverständnisses.« (ebd.)

3 Ebd., S. 77ff.

I. DEMOKRATIE UND DEKADENZ

Was ist Demokratie?

Als der glücklose Bundespräsident Christian Wulff nach monatelanger Kritik an seiner Amtsführung zurücktrat, sagte er zu Beginn seiner Rücktrittserklärung:1

»Alle sollen sich zugehörig fühlen, die hier bei uns in Deutschland leben, eine Ausbildung machen, studieren und arbeiten – ganz gleich, welche Wurzeln sie haben.«

Und am Schluss seiner Rede wünschte er »unserem Land von ganzem Herzen eine politische Kultur, in der die Menschen die Demokratie als unendlich wertvoll erkennen und vor allem, das ist mir das Wichtigste, sich gerne für die Demokratie engagiert einsetzen.«

Da wir uns an die Banalität solcher Floskeln gewöhnt haben, die jeden Tag in den Medien vorüberrauschen, fällt einem ihr Unsinn oft gar nicht mehr auf. Die Kernaussagen dieser dürftigen Ausführungen lauten: Alle, die sich gerade in Deutschland aufhalten, egal warum, wie lange und woher sie kommen, sollen sich zugehörig fühlen, und: die Demokratie ist unendlich wertvoll.

Rekapitulieren wir einige zentrale Gedanken, die in zweieinhalb Jahrtausenden abendländischer Geistesgeschichte über die Demokratie formuliert wurden, und überlegen wir, was wir wirklich mit diesem Begriff verbinden, so sind diese – nicht unpassenderweise im Dokument des Scheiterns eines unbeliebten, überforderten Durchschnittspolitikers geäußerten – Phrasen alles andere als selbstverständlich. Etwas »unendlich Wertvolles« gehört einer metaphysischen Sphäre an; das Göttliche ist seinem Gläubigen unendlich wertvoll, aber eine politische Verfassung entstammt der Welt der irdischen Dinge. Offensichtlich wird ein politischer Begriff sakral überhöht. Dazu passt, dass auch die Zugehörigkeit zur Gesellschaft hier nicht real gegeben ist, sondern als moralisches Postulat erscheint: Man soll sich zugehörig fühlen – konkrete Voraussetzungen des Zugehörigkeitsgefühls, etwa Herkunft, Abstammung, Sprache, Wahrnehmung einer historischen Identität und Verwurzelung, Staatsangehörigkeit und Rechtstreue werden nicht genannt. Tatsächlich geht jedoch sogar die Bundesrepublik in ihrer Dekadenzphase nicht so lax mit ihren Zugehörigkeitskriterien um; selbst heute noch muss die deutsche Staatsangehörigkeit besitzen, wer sämtliche bürgerliche Rechte genießen will – und Bürger, die sich »engagiert für die Demokratie einsetzen«, indem sie z.B. Demonstrationen gegen illegale Einwanderung besuchen, machen schnell die Erfahrung, dass sie von dem Establishment, dem Wulff angehört, als nicht so »zugehörig« angesehen werden wie der Islam, von dem Wulff glaubte sagen zu müssen, dass er »zu Deutschland gehört«.

Die sakralisierte Bekenntnisdemokratie als »Zivilreligion« der westlichen Welt ist natürlich nicht dasselbe wie die Theokratie eines Papstes oder Kalifen oder das Regiment eines Kaisers »von Gottes Gnaden«. Sie ist das Säkularisierungsprodukt einer Gesellschaft, der das Religiöse weitgehend abhandengekommen ist und die doch nicht darauf verzichten kann, da sie von Grundwerten lebt, die sie selbst nicht zu erzeugen vermag. Versucht die säkulare Gesellschaft dennoch, sich selbst zu begründen, kommen modernistisch-totalitäre Kopfgeburten heraus wie die »Vernunftreligion« der Französischen Revolution oder der neopharaonische Kult der Sowjetunion um die einbalsamierte Leiche Lenins.

Die Demokratie ist nicht »unendlich wertvoll« – aber auch keineswegs wertlos –, sondern zunächst einmal eine Staatsform wie andere auch. Sie hat ihre spezifischen Vor- und Nachteile, und da sie im Laufe der Menschheitsgeschichte relativ selten vorkam, ist empirisch schwer zu ermitteln, ob langfristig ihre Vorteile oder Nachteile überwiegen. Um diese Frage beantworten zu können, muss man sich zudem darüber im Klaren sein, worum es in der Politik – und sodann in der Demokratie – überhaupt geht.

Vom Wesen der Politik

Politik kann der Durchsetzung aller möglichen Ziele dienen: Die Lobbyverbände von Frauen, Homosexuellen, Unternehmern, Abtreibungsgegnern, Muslimen, Sportfischern und Prostituierten setzen sich jeweils für die Durchsetzung der Interessen ihrer Klientel ein und versuchen dabei mehr oder weniger, diesen einen allgemeingültigen Charakter zu verleihen, um eine möglichst breite Unterstützung zu erlangen. Bei einigen, wie z.B. bestimmten Berufsgruppen, ist das partikulare Interesse offensichtlich; andere, etwa religiöse Gemeinschaften, setzen allgemeiner an der Natur des Menschen an und suchen ihn scheinbar als ganzen in den Blick zu nehmen.

Der Staatsrechtler Carl Schmitt ging davon aus, dass das Politische »seine Kraft aus den verschiedensten Bereichen menschlichen Lebens ziehen [kann], aus religiösen, ökonomischen, moralischen und andern Gegensätzen; es bezeichnet kein eigenes Sachgebiet, sondern nur den Intensitätsgrad einer Assoziation oder Dissoziation von Menschen, deren Motive religiöser, nationaler (im ethnischen oder kulturellen Sinne), wirtschaftlicher oder anderer Art sein können und zu verschiedenen Zeiten verschiedene Verbindungen und Trennungen bewirken. […] Politisch ist jedenfalls immer die Gruppierung, die sich an dem Ernstfall orientiert. Sie ist deshalb immer die maßgebende menschliche Gruppierung, die politische Einheit infolgedessen immer, wenn sie überhaupt vorhanden ist, die maßgebende Einheit und ›souverän‹ in dem Sinne, dass die Entscheidung über den maßgebenden Fall, auch wenn das der Ausnahmefall ist, begriffsnotwendig immer bei ihr stehen muss.«2

Alles kann also politisch werden, auch das Privateste, wenn man es öffentlich proklamiert und auf Durchsetzung seiner Forderungen drängt. Soweit ist Schmitt zuzustimmen. Doch scheint der entschiedene Kritiker der modernen, in zahlreiche Milieus, Interessengemeinschaften und Lobbygruppen zersplitterten Gesellschaft dieser näher zu stehen, als ihm selbst bewusst war, wenn er dem Politischen keine eigene Sachsphäre zuwies. Dabei hat er doch selbst mit seiner berühmten Freund-Feind-Unterscheidung die wesentlichen Hinweise gegeben:

»Das Politische hat nämlich seine eigenen Kriterien, die gegenüber den verschiedenen, relativ selbständigen Sachgebieten menschlichen Denkens und Handelns, insbesondere dem Moralischen, Ästhetischen, Ökonomischen in eigenartiger Weise wirksam werden. […] Nehmen wir an, dass auf dem Gebiet des Moralischen die letzten Unterscheidungen Gut und Böse sind; im Ästhetischen Schön und Hässlich; im Ökonomischen Nützlich und Schädlich oder beispielsweise Rentabel und Nicht-Rentabel. […] Die spezifisch politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.«3

Man hat Carl Schmitt wegen solcher und anderer Äußerungen4 eine militaristische und bellizistische Haltung vorgeworfen, ihn zeitweise auf den »Kronjuristen des Dritten Reiches« reduziert, und er hat solchen Vorwürfen durchaus Vorschub geleistet, wenn er seine Kategorien selbst mit bestimmten ideologischen Inhalten füllte (etwa mit dem »assimilierten Juden« oder dem »Antichristen« als Archetypus des Feindes); seine entscheidenden Gedanken meinen aber etwas anderes: »Freund« und »Feind« sind gerade keine beliebigen, individuell ausdeutbaren Begriffe, sie werden nicht von Privatleuten nach deren jeweiligen Sympathien bestimmt, sondern es handelt sich um existenzielle Kategorien politischer Gemeinschaften. »Existenziell« heißt, dass es um Sein oder Nichtsein geht, um Bedrohung und Fortleben oder Auslöschung. Und unter »politischen Gemeinschaften« sind sinnvollerweise solche zu verstehen, die einerseits so groß sind, dass sie ihren Daseinswillen mit maximaler Wirkungskraft vertreten können, und andererseits so klein, dass sie dem Einzelnen eine kollektive Identifikationsmöglichkeit bieten, damit er sein Ich als Teil eines Wir empfindet.

Familien weisen aufgrund natürlicher Verwandtschaft die gewöhnlich stärksten gemeinschaftlichen Bindungen auf und sind die in vielen Sprachen im »Familiennamen« zum Ausdruck kommende kleinste gemeinsame Identität über der des Individuums mit sich selbst, aber die Kernfamilie einer Abstammungsgemeinschaft von drei Generationen kann sich kaum allein gegen äußere Feinde behaupten.5 Familien bildeten jedoch Sippen, Sippen verbanden sich zu Stämmen, und Stämme konnten zu Völkern anwachsen, zu großen Gemeinschaften von Menschen, die durch – entfernte, aber statistisch signifikante – genetische Verwandtschaft sowie durch gemeinsame Sprache, Kultur, historische Erinnerungen und kollektive Mythen verbunden sind. Meist wird, was aufgrund solcher Gemeinsamkeiten vage und intuitiv zusammengehört, durch äußeren Druck zusammengeschweißt: durch Feinde, deren Bedrohung die Verwandten und Ähnlichen aufgrund des gemeinsam gefährdeten Lebenswillens einander als »gleich« erkennen lässt. Völker sind daher wesentlich Schicksalsgemeinschaften.

Natürlich kann auch der Privatmann seine »Feinde« haben, etwa den ökonomischen Konkurrenten, den mobbenden Kollegen oder den Nachbarn, der ihm die Ehefrau ausspannt, aber diese Verhältnisse betreffen nur seinen privaten Lebensbereich, selbst wenn der Gegner ihm nach dem Leben trachtet. Der Mörder ist ein Verbrecher, da er derselben Gemeinschaft entstammt, der feindliche Krieger nicht. Politische Feindschaft richtet sich auf politische Gemeinschaften.6

Ab einer gewissen Entwicklungsstufe, auf der sowohl archaische Tribalismen als auch religiös bestimmte Theokratien überwunden waren und die Emanzipation des Staates von den Religionsgemeinschaften einen hinreichenden Grad erreicht hatte, ist der Nationalstaat die vorrangige politische Entität. In Mitteleuropa vollzog sich diese Entwicklung seit Beginn der Neuzeit in mehreren, von enormen Umwälzungen geprägten Etappen, unter denen besonders der Dreißigjährige Krieg und der Westfälische Frieden, der Absolutismus und die Französische Revolution herausragen. Der Nationalstaat verkörpert deshalb die politische Einheit par excellence, weil er zwischen dem Kleinen – Familie, Sippe und Clan – und dem Allzugroßen – dem supranationalen Imperium – die Waage hält. Er ist, wie der Soziologe Jost Bauch hervorhebt, so klein, dass er »Betroffenheit, soziale Kohärenz und Solidarität ermöglicht. Auf der anderen Seite ist der Nationalstaat groß genug, um die Rationalität der Selbstbehauptung als Regulativ des Politischen durchzusetzen. Ohne Selbstbehauptung ist keine Souveränität eines Volkes oder Gemeinwesens zu haben, und ohne Souveränität gibt es keine Freiheit, höchstens Fremdherrschaft. Soziale Aggregierungsformen unterhalb des Nationalstaates sind schlicht zu klein, um diese Souveränitätsrechte durchzusetzen, im Ernstfall sind sie fremden Mächten schutzlos ausgeliefert. Und soziale Aggregierungsformen oberhalb des Nationalstaates (also jede Form des Supra-Nationalismus) sind nicht dazu in der Lage – die Situation der Europäischen Union zeigt dies eindringlich –, Identifikations- und Solidarisierungsprozesse bei den unterschiedlichen nationalen Bevölkerungen auszulösen.«7 Dieses Fehlen kompensieren sie durch eine inhärente Tendenz zum Totalitarismus.

 

Der Staatsrechtler Herrmann Heller hat den Vorzug des nationalen Prinzips zum Ausdruck gebracht, indem er sagte, er liebe die Nation, »weil sie die weiteste menschliche Gemeinschaft ist, für die unmittelbar erlebte Verantwortung zu tragen ich durch meine Tat fähig und bereit bin.«8

Und Verantwortung für ein Gemeinwesen zu tragen, heißt letztlich nichts anderes, als sich auch langfristig für sein Wohlergehen, für seine gedeihliche Zukunft, einzusetzen.

Das Zoon politikon

Nicht nur einzelne Menschen, sondern auch menschliche Gemeinschaften haben den Willen, im Dasein fortzudauern – jedenfalls im Normalfall. Leben heißt Leben-Wollen, auch wenn dem Einzelnen wie der Gemeinschaft der Lebenswille nicht in reflektierter Form bewusst sein muss. Man spürt ihn vor allem im Ernstfall, wenn es um das Dasein selbst geht und sich zeigt, ob der Lebenswille und die Kräfte, das Leben zu erhalten, ausreichen oder nicht.

Der Lebenswille eines Volkes erschafft sich den Staat als Gesamtheit aller Mittel zum Daseinserhalt. Das Wort »Staat« bezeichnet seit der Antike »ein Gebilde, dessen Sinn letzten Endes nur als rational organisierte Selbsterhaltung eines geschichtlich irgendwie zustande gekommenen Zusammenhangs von Territorium und Bevölkerung bestimmt werden kann. […] Die Selbsterhaltung schließt die geistige Behauptung und das Bekenntnis einer Nation zu sich selbst vor aller Welt ebenso ein, wie die Sicherheit im großpolitischen Sinne, und diese besteht in der Macht eines Volkes, den physischen wie den moralischen Angriff auf sich unmöglich zu machen.«9

Neben dieser existenziellen Funktion hat der Staat, nach klassisch-antiker, bis in die Neuzeit nachwirkender Vorstellung, noch eine umfassende ethische Dimension, die sich aus der sozialen Natur des Menschen ergibt. Der Mensch ist, laut der bekannten Definition des Aristoteles, ein »Zoon politikon«, ein gesellschaftliches Wesen; er strebt von Natur aus nach Gemeinschaft. Er tut dies nach aristotelischer Auffassung also nicht nur aus praktischen Gründen – etwa um seine Überlebenschancen zu erhöhen, die Vorteile einer arbeitsteiligen Gesellschaft zu genießen und seinen Geschlechtstrieb zu befriedigen –, sondern vor allem aus einem sittlichen Streben heraus: Nur im tätigen Miteinander könne er ein glückliches und moralisch gutes Leben führen, indem er anderen Menschen hilft und sie insbesondere auch in ihrem Streben nach Weisheit unterstützt.

Diese ethische Staatsauffassung war für die abendländische Antike charakteristisch, während in anderen Kulturräumen Weisheit eher in der Abgeschiedenheit gesucht wurde. Prinz Siddharta entfloh der Gemeinschaft von Familie und Volk und »erwachte« in einem menschenleeren Hain zum Buddha, und noch die frühchristlichen Wüstenväter zogen sich in die Einsamkeit zurück. Zwar gaben auch die Weisen des Orients ihre Erkenntnisse später, oft widerwillig, an die Gesellschaft weiter, aber um zur Erleuchtung zu gelangen, war der Weg in Einöde und Wildnis notwendig.10

Der Philosoph ist nach klassisch-antiker Anschauung ein am Gemeinwesen teilhabender Staatsbürger, auch wenn seine Aufgabe nicht in politischer Tätigkeit bestehen muss, sondern in der Erforschung des menschlichen Zusammenlebens liegt. Das »philosophische Staunen« – seine Grundhaltung, nichts fraglos als gegeben anzunehmen, sondern nach Ursachen und Wirkungen, Motiven und Zielen zu fragen – kann ihn zuweilen in Konflikte mit seinen Mitmenschen führen, die sich durch das In-Frage-Stellen des allgemein Gültigen und Akzeptierten provoziert fühlen. Sokrates musste seine Frageleidenschaft mit dem Leben bezahlen, nachdem er – im demokratischen Athen – zum Tode verurteilt worden war, da er angeblich Gottlosigkeit propagiert und die Jugend verdorben habe. Obwohl seine Anhänger ihm die Flucht hätten ermöglichen können, bestand er aus Ehrfurcht vor den Gesetzen auf den Vollzug des Todesurteils. Auch schlechte Gesetze dürfe man nicht übertreten, sondern nur auf legalem Wege ändern, da sonst die Staatlichkeit überhaupt negiert würde.

Zweifellos hatte Sokrates’ Schüler Platon dieses Urteil und die – für die abendländische Rechtsauffassung künftig maßgebliche – strenge Objektivität seines Lehrers trotz persönlicher Betroffenheit bei der Ausarbeitung seiner Lehre vom zyklischen Verfall der Staatsordnungen vor Augen.

Ein Zyklus ist dieser Prozess, weil er als immer wiederkehrend gedacht wird, und der Verfall vollzieht sich in einem gesetzmäßigen Übergang von einer Staatsform zur nächsten:

»Der Mensch der Aristokratie sei gut und gerecht (545a), er folge den Gesetzen und bemühe sich um Tüchtigkeit und ein ehrbares Leben. Aus der Aristokratie erwachse die Timokratie, da die nachfolgende Generation der Machthaber die Sitten ihrer Väter missachte und sich in zügelloser Streitlust und Ehrsucht übe. Ihr folge die Oligarchie, die alle Regierungskompetenzen in den Händen weniger Reicher konzentriere. Ihr Übergang in die Demokratie sei gesetzmäßig und erfolge wegen der Unersättlichkeit des Verlangens nach Reichtum. Es sei offensichtlich, schreibt Platon, ›dass man in einer Stadt unmöglich den Reichtum ehren und zugleich Besonnenheit unter den Bürgern erlangen kann. Entweder das eine oder das andere muss man drangeben‹ (555c). Eine Demokratie entstehe immer dann, wenn die Armen in der Stadt die Oberhand gewinnen und ihre Gegner entweder umbringen oder verbannen, um schließlich die Ämter unter sich zu verlosen (557a). […] Die Umwandlung der Demokratie schließlich führe zur Tyrannis (562a ff.), und zwar wegen der übersteigerten Freiheit. Da die Menschen der Demokratie ›darin unersättlich und gegen alles andere gleichgültig‹ sind, ertöne irgendwann der Ruf nach einer starken Hand, die wieder Ordnung in die aufgewühlte Gesellschaft bringt. Damit schließt sich der Kreis. Der Tyrann erzwingt die innere Ruhe, gewöhnt die Bürger wieder an Recht und Ordnung und schafft so die Voraussetzungen für die Rückkehr zur Monarchie bzw. zur gemäßigten Aristokratie usw.«11

Über die Demokratie weiß Platon also wenig Gutes mitzuteilen. Sie sei chaotisch und instabil, der in ihr vorherrschende Menschentypus des von Neid und Ressentiment beherrschten, bildungslosen Proletariers durch die Wechselhaftigkeit seiner Begierden und Launen charakterisiert. Alkibiades, ein anderer Schüler Sokrates’ und Neffe des Perikles, sprach im selben Sinne von der »Zuchtlosigkeit« der Demokratie.