Sinfonie der Lust | Erotischer Roman

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Z serii: Erotik Romane
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Als Marc an diesem Abend in seine Sommerbehausung am See kam, setzte er sich sofort an sein Keyboard. Obwohl sich beruflich alles geordnet hatte, spukte in seinem Hinterkopf immer noch die missglückte Verbindungsaufnahme durch Juliette herum. Er hatte noch zwei-, dreimal versucht, zurückzurufen, aber erfolglos. Was wollte sie wieder von ihm? Würde es eine neue Runde in ihrer eigenartigen Beziehung geben? Er wollte diesen lästigen Gedanken vertreiben und begann zu spielen.

Die Klaviermusik war schon immer seine große Liebe gewesen. Er hatte sich vor ein paar Jahren ein teures Keyboard für sein Sommerdomizil gekauft, auf dem er fast ausschließlich die Piano-Funktion nutzte. Immer wenn er das Verlangen hatte, seinen Kopf freizubekommen, setzte er sich an das Instrument und spielte eine Sonate, einen Blues oder einen Ragtime. Manchmal improvisierte er auch einfach und hin und wieder entstand daraus sogar eine neue Nummer für das »Al Gusto«. Doch darum ging es ihm in diesen Momenten gar nicht vordergründig.

Heute spielten seine Finger wie von selbst die Anfangsakkorde einer einfachen, aber sehr zu Herzen gehenden Melodie. »Die Träumerei« von Robert Schumann war genau das Stück Musik, das ihn in diesem Augenblick auf den Boden zurückholte. Schumann hatte dieses Stück damals seiner Frau Clara gewidmet, die selbst eine sehr talentierte Musikerin gewesen war, aber sich ihrem Mann zuliebe mit der Rolle der Ehefrau beschieden hatte. So waren die Zeiten damals, es gab keine Alternative. Clara! Da war doch was. Er hatte Ben versprochen, sich in diesem Forum umzuschauen. Ein bisschen neugierig war er ja doch. Nachdem der Schlussakkord verhallt war, begab er sich zu seinem Schreibtisch und startete seinen neuen Computer.

Marc rief das Diskussions-Board »Opus« mit dem blauen Noten-Hintergrund auf, das ihm Ben am Tag zuvor gezeigt hatte. Er setzte ein Lesezeichen auf die Seite und klickte in das Feld mit der Bezeichnung Username. Seine Finger legten sich auf die Tastatur und tippten das Wort »JohnnyB«. Dann wählte er das Passwort-Feld und gab die achtstellige Zeichenfolge ein.

Zunächst war das Ganze etwas unübersichtlich für ihn, aber schon bald fand er sich zurecht und stöberte durch alle Bereiche und Rubriken, schrieb selbst Kommentare und beteiligte sich an Diskussionen zu allen möglichen Themen. Er war voll in seinem Element, »Opus« könnte für ihn tatsächlich eine interessante Freizeitbeschäftigung werden. Auf diese »Clara« traf er dabei ganz von selbst, ohne gezielt suchen zu müssen. Diese Benutzerin, deren Hauptinteresse der Klaviermusik galt, fiel ihm sofort durch intelligente Beiträge auf, die sprachlich wie inhaltlich sehr gedankenscharf waren und fast immer seinen Nerv trafen.

Ein Thema in der Rubrik »Musik allgemein« stand unter dem provozierenden Titel: »Klassik ist langweilig!« Marc las einige Beiträge und verfolgte ein wenig amüsiert, wie sich Klassik-Gegner und -Befürworter in den Haaren lagen, manchmal ging das für seinen Geschmack ein wenig unter die Gürtellinie. Und mittendrin die Meinung von Clara, die ihre Liebe zu dieser Art von Musik deutlich machte, ohne dass sie diese Arroganz zeigte, die manchen Klassik-Fans anhaftete, weil sie glaubten, sie hörten die wertvollere Musik. Clara wagte es sogar, diese Meinungen zu kritisieren, obwohl sie eigentlich Pro-Klassik postete und dem Initiator des Threads auch gehörig die Meinung geigte. Marc fühlte sich gemüßigt, auch einen Beitrag zu schreiben. Er versuchte die Streitereien auszugleichen und führte ins Feld, dass jede Art von Musik ihre Reize habe und dass es ziemlich überflüssig wäre, auf diese Art aufeinander herumzuhacken.

Dann entdeckte er den Thread über die neue CD der Metal-Band »Psychokill«, in dem der Benutzer »Hammer« schrieb: »Jeder Mann, der Eier hat, wird diese Scheibe lieben.« Ihm fiel wieder der Lärm ein, den Ben gestern angeschleppt hatte. Das ging gar nicht! Aber sofort ermahnte er sich, an seinen eigenen Beitrag von eben zu denken. Jeder soll das hören, was ihm gefällt, es macht keinen Sinn, seinen eigenen Musikgeschmack über den anderer zu stellen. Clara hatte als Reaktion auf Bens Äußerung mit einem frechen Post geantwortet: »Kann ich das auch gut finden, wenn ich eine Frau bin, die Hirn hat?« Darauf die Antwort von Ben: »Frauen und Hirn …?«, dazu ein Smiley, der versucht, sich den Kopf an einer Wand einzuschlagen. Er konnte nicht begreifen, dass Ben offenbar glaubte, mit dieser Masche eine Frau wie Clara zu beeindrucken.

Marc registrierte plötzlich, dass sich das Briefsymbol in der oberen rechten Ecke von blassgelb auf rot umgefärbt hatte. Er klickte darauf und las:

Sie haben 1 neue persönliche Nachricht(en)

Clara: Willkommen JohnnyB!

Das würde Ben gefallen, er war kaum eine Stunde online und schon hatte er eine private Nachricht von dieser geheimnisvollen Fremden, die es seinem Kumpel augenscheinlich so angetan hatte, in seinem Postkasten. Neugierig klickte er auf den Link:

27.05. 20:02

Betr.: Willkommen JohnnyB!

Hallo,

ich begrüße dich bei uns im »Opus«, JohnnyB. Du hast dich mit deiner Äußerung ja gleich sehr »beliebt« gemacht ;-)! Aber du sprichst mir voll aus dem Herzen!

Liebe Grüße und viel Spaß noch bei uns

Clara

Er betätigte den Button »Antworten« und schrieb:

Liebe Clara,

herzlichen Dank für deine nette Begrüßung. Ein Freund hat mir von diesem Forum erzählt, aber der ist auch ziemlich leicht begeisterungsfähig ;). Eigentlich wollte ich nur aus Neugier einmal kurz reinschauen, um mich zu vergewissern, dass ich bisher nichts verpasst habe. Doch nun muss ich feststellen, dass ich mich hier sehr gut aufgehoben fühle. Nicht nur, dass es eine Menge Informationen gibt, die man woanders nur schwer bekommt, nein, es tummeln sich hier auch sehr kompetente Musikliebhaber und nette Menschen. Das trifft übrigens ganz besonders auf dich zu. Deshalb komme ich sehr gern wieder mal vorbei.

Liebe Grüße

JohnnyB

Marc drückte auf den »Absenden«-Knopf, ohne lange darüber nachzudenken, ob sein Kompliment vielleicht nicht gleich zu persönlich war. Ben hatte recht. Diese Benutzerin war etwas ganz Besonderes. Das spürte er bei jeder Zeile, die sie schrieb, bei jedem Gedanken, den sie formulierte. Warum sollte er ihr das nicht mitteilen? Im echten Leben würde er selten schon beim ersten Kontakt so ungezwungen seine Sympathie äußern. Da würde er so etwas als widerliches Geschleime ablehnen. Aber im Internet galten andere Regeln. Wenn es peinlich wurde, konnte man verschwinden oder sich einfach ignorieren. Das ging im realen Leben leider nicht so leicht. Oder zum Glück? Schon war er gedanklich wieder bei Juliette, die dieses Verschwinden auch im realen Leben praktizierte.

Doch als er erneut in sein Postfach schaute, verschwanden diese Gedanken. Er hatte eine neue Nachricht von Clara erhalten. Diese bestand lediglich aus einem Zwinkersmiley. Marc kam es so vor, als würde ihm diese winzige Pixelgrafik verschwörerisch zublinzeln. Sein Herz machte einen Hüpfer, aber er musste sogleich über diesen absurden Gedanken lächeln und wegen seiner überschwänglichen Freude den Kopf schütteln. Wie konnte er sich mit so wenigen Informationen über sie so sehr verleiten lassen. Er klappte den Rechner zu und beschloss, noch mal runter ans Wasser zu gehen, um die wundervolle Abendstimmung der realen Natur zu genießen.

Zwei Stunden später war er wieder zurück und seine Finger juckten, den Rechner doch noch mal einzuschalten. Clara war noch online. Ohne lange darüber nachzudenken, schickte er ihr einen Smiley mit einer kleinen Rose und – um das etwas abzumildern – einem erneuten Zwinkersmiley.

Clara antwortete prompt, sie bedankte sich artig und lenkte das Gespräch auf den »Anti-Klassik-Thread«. Es gingen ein paar weitere Nachrichten hin und her, und als Marc am späten Abend im Bett lag, erfüllte ihn eine eigenartige Freude. Was machte dieses Internet mit ihm? War er dabei, den Bezug zur Realität zu verlieren?

Am darauffolgenden Tag ertappte er sich dabei, dass er im Büro immer wieder mit dem Gedanken spielte, auf seinem Dienstrechner das Forum zu besuchen, um nach Clara zu schauen. Aber er blieb streng zu sich selbst, als Chef musste er Vorbild sein: Privates hatte in der Arbeitszeit zu Hause zu bleiben. Das verlangte er von seinen Mitarbeitern und deshalb musste er an sich selbst dieselben Maßstäbe stellen.

Aber als er am Abend nach Hause kam, führte ihn sein erster Weg wieder an den neuen Computer. Clara war erneut online. Hatte sie vielleicht bereits auf ihn gewartet? Kaum dass er sich eingeloggt hatte, erhielt er eine Nachricht von ihr:

28.05. 19:05

Betr.: Hallo JohnnyB

Da bist du ja endlich ;-)

Clara

Schon wieder machte sich diese irrationale Freude breit. Er musste das Gefühl einfach in den Griff kriegen. Trotzdem schrieb er ihr eine überschwängliche Nachricht:

28.05. 19:25

Betr.: Ein Kompliment

Es ist schon verrückt, ich kenne dich gar nicht, aber wenn ich deine Beiträge lese, fühle ich, dass ich in dir eine verwandte Seele gefunden habe.

Unser Musikgeschmack liegt so ziemlich auf der gleichen Welle. Du liebst klassische Klaviermusik, leichten Jazz und du verschmähst auch nicht gut gemachte Popmusik. Wenn du zu bestimmten Themen etwas schreibst, hat das immer Hand und Fuß und oft ist es sogar so, dass du genau das sagst, was ich denke.

Deine Meinung in dem unmöglichen Anti-Klassik-Thread zum Beispiel oder deine Empfehlungen für vergessene Klavierstücke (denen ich auf jeden Fall nachgehe) oder wie du in dem Metal-Thread diesem »Hammer« Paroli geboten hast … Ich freue mich sehr darauf, mit dir meine Gedanken auszutauschen. Deinen Beitrag in dem Thread »Hatte Robert Schumanns Frau was mit dem jungen Brahms?« fand ich sehr interessant. Ich sehe das wie du, es war sicher nur eine platonische Liebe und in einer anderen Zeit hätte Clara Schumann möglicherweise tatsächlich etwas mit ihm angefangen. Ist meine Vermutung richtig, dass dein Spitzname von ihr stammt? Oder heißt du im wahren Leben auch so? Man merkt aber, du hast eine große Hochachtung vor dieser Frau, die es mit ihrem extravaganten Gatten nicht immer einfach hatte.

 

So, jetzt werde ich aber noch ein wenig stöbern. Ich freue mich auf deine Antwort.

JohnnyB

Hatte er jetzt vielleicht ein wenig übertrieben? Er vertrieb aber diesen Gedanken schnell wieder und beschloss, sich erst einmal von der Fixierung auf Clara zu lösen. Er schaute sich noch ein wenig in dem Bereich des Forums um, der mit »Ich spiele selbst« überschrieben war. Er antwortete einem Anfänger des Klavierspiels auf simple Fragen zur Spieltechnik. Im wahren Leben hätte er sich nie dazu berufen gefühlt, anderen etwas von seiner Erfahrung mitzuteilen. Als Lehrer war er eigentlich nicht geeignet. Aber hier war das etwas anderes.

Eine neue Nachricht befand sich in seinem Postkasten. Aufgeregt klickte er auf die Antwort:

29.05. 20:42

Betr.: Re: Ein Kompliment

Lieber JohnnyB,

ich habe mich über deine lange Nachricht sehr gefreut und musste bei der Erwähnung des Users »Hammer« richtig schmunzeln. Leider habe ich von dir noch nicht so viel lesen können, aber du scheinst recht zu haben, wir haben offensichtlich wirklich einen ähnlichen Musikgeschmack. Es ist schön, wenn man im Forum auf Gleichgesinnte trifft. Zumal ich momentan kaum jemanden kenne, mit dem ich mich privat über Musik austauschen kann. Du willst wissen, ob mein Name Clara ist? Na, mehr oder weniger schon ;-). Vielleicht löst du das Geheimnis ja irgendwann einmal … Clara Schumann ist mein größtes Vorbild, ich hätte sie gerne persönlich gekannt, und wenn man ihr Leben mit meinem vergleicht, so gibt es wirklich gewisse Parallelen. Aber reden wir nicht davon, das macht mich nur unnötig traurig. Sprechen wir von etwas Unterhaltsameren: »Hammer« ist schon ein wahrer Prachtkerl von Macho. So etwas hatten wir, soweit ich mich zurückerinnern kann, noch nie im Forum. Wenn du wüsstest, was er mir schon für anzügliche Nachrichten geschickt hat … Eigentlich hätte ich ihn einfach der Forumsleitung melden sollen. Andererseits finde ich seine direkte Art, die Dinge anzugehen, sogar auf eine gewisse Weise interessant. Es macht Spaß, sich mit ihm Schlagabtausche zu liefern. Dadurch wird mein eintöniges Leben irgendwie etwas bunter. Aber mal ganz im Ernst, ich glaube, wenn man »Hammer« im wahren Leben begegnet, würde er wohl schnell auf ein ziemlich normales Maß zusammenschrumpfen. Wahrscheinlich ist er ein kleines, verbittertes Männlein, das keine Frau abbekommen hat ;-). So, es klingelt, ich muss arbeiten. Vielleicht bis später?

Höchst erfreute Grüße von

Clara

Marc musste lauthals auflachen, als er Claras Theorie über Ben las. Sollte er sie darüber aufklären, dass er »Hammer« alias Ben ziemlich gut kannte? Und was er für ein Baum von einem Mann war, der sich im Forum genau so präsentierte, wie er wirklich war? Nein, es war wohl besser, wenn sie ihn nicht mit ihm in Verbindung brachte. Außerdem wollte er, dass ihre Aufmerksamkeit künftig ganz allein ihm gehörte. Er wollte für sie im besten Licht erscheinen. Da konnte er sich einen groben Klotz wie Ben nicht leisten.

Er schrieb Clara noch ein weiteres Mal zurück, äußerte sein Unverständnis in Bezug auf »Hammer« und bestärkte sie in ihrer Meinung. Dann leitete er wieder zu musikalischen Themen über. Er hatte in ihrem Profil gelesen, dass sie ebenfalls Klavier spielte, und erkundigte sich nach näheren Einzelheiten. Aber sie hatte angekündigt, dass sie arbeiten müsse. Es war spät am Abend. Was konnte sie da arbeiten? Er rechnete eigentlich nicht mehr mit einer Antwort, aber gerade in dem Moment, als er seinen ersten Ausflug in das Forum »Opus« beenden wollte, färbte sich das E-Mail-Symbol wieder rot.

Freudig erregt öffnete er die neue Nachricht. Sie berichtete von ihrer Tätigkeit als Klavierlehrerin und erzählte ihm offenherzig von ihrer gescheiterten Pianistinnen-Karriere. Offenbar schmerzte sie der Gedanke daran noch immer. Clara fragte ihn dann noch nach der großen Miles-Davis-Tribute-Show, die in Kürze in der Max-Schmeling-Halle stattfinden sollte. Sie wollte von ihm wissen, ob er Genaueres über das Programm wüsste und welche Künstler daran beteiligt sein würden. Was sollte er dazu schreiben? Seit seinem Absturz vom Felsen hatte er sich nicht mehr um die Konzertszene gekümmert. Clara hatte ihn auf dem falschen Fuß erwischt. Diese Show hatte es schon im vorigen Jahr gegeben. Die Konzertkarten, die er damals für Juliette und sich gekauft hatte, hingen aber immer noch am Kühlschrank. Sie waren verfallen, ohne dass einer von ihnen anwesend gewesen war. Eigentlich hätte das ein toller Abend werden sollen, aber wieder einmal hatte sie ihn kurzfristig versetzt. Er hatte dann auch keine Lust gehabt, allein dort hinzugehen, zumal das eigentlich mehr ihre, als seine Musik war. Nein, auf absehbare Zeit war das Thema für ihn tabu. Er antwortete ihr in knappen Worten, dass er ihr da leider nicht helfen könne.

Es war spät geworden. Er fuhr den Rechner herunter und begab sich in sein Bett. Aber der Schlaf wollte sich nicht einstellen. War er zu schroff zu ihr gewesen? Vielleicht hatte er Clara durch seine kurz angebundene Antwort verärgert? Die Unterhaltungen mit ihr könnten für ihn eine willkommene Ablenkung sein. Vielleicht konnte er seine hoffnungslose Liebe zu Juliette dadurch vergessen? Marc war neugierig, was für eine Person sich hinter dieser Clara verbarg. Er rätselte immer noch, was sie damit meinte, dass ihr Forumsname mehr oder weniger auch mit ihrem richtigen übereinstimmte. Er war der Lösung aber keinen Schritt näher gekommen. Würde sie noch mehr von sich preisgeben? Oder war diese Chance bereits vertan? Nein, vielleicht konnte er das noch korrigieren. Er schwang sich nochmals auf, begab sich zu seinem Schreibtisch und schaltete das Notebook ein.

***

Lara hatte gerade den Geschirrspüler ausgeräumt und noch eine Maschine Wäsche angestellt, bevor sie entschied, dass es für heute genug war. Als sie die Rollos herunterließ, war es draußen schon stockdunkel. Ein Gefühl der Einsamkeit breitete sich in ihr aus. Im erleuchteten Fenster des Hauses gegenüber erblickte sie die frisch eingezogenen Nachbarn, ein junges Paar, das sich innig umarmte. Sie seufzte tief. Michael hatte sich kurz gemeldet, das Projekt würde optimal anlaufen, berichtete er und es ginge ihm gut. Sie kam kaum dazu, etwas zu fragen, da hatte er schon wieder aufgelegt. Vanessa hatte auch keine Zeit für ein Treffen gehabt, weil sie ein weiteres Mal irgendein Date mit einem Typen hatte. Überhaupt sprach Vanessa in letzter Zeit eigentlich kaum noch über ihre Eroberungen. Früher hatte sie ihre Sexpartner wie Unterwäsche gewechselt und ihr über alles haarklein Bericht erstattet. Ob sie sich vielleicht jetzt doch mal verknallt hatte und es sich nicht eingestehen wollte? Manchmal war ihre Freundin für sie ein einziges Rätsel.

Nicht einmal das Klavierspiel hatte sie von den trüben Gedanken ablenken können. Gefrustet hatte sie deshalb eine Flasche Wein geöffnet und sich ein weiteres Mal bei »Opus« umgesehen. Das wievielte Mal am heutigen Tag? Das schien im Moment das Einzige zu sein, was ihre Stimmung aufhellen konnte. Aber heute war es eine Enttäuschung gewesen. Ein ums andere Mal hatte sie sich eingeloggt, nur um zu sehen, ob sich etwas verändert hatte. Fast hatte sie beim Warten auf das, was dann doch nicht eintrat, völlig die Zeit vergessen, aber dann war noch der lästige Haushalt zu erledigen gewesen. Nachdem sie das Licht in der Küche gelöscht hatte, ging sie ins Bad. Vielleicht sollte sie einfach zu Bett gehen, um dieses leere Gefühl für heute mit einer Portion Schlaf und einem ihrer heißen Träume zu verdrängen. Oder sollte sie doch noch mal für ein paar Minuten ins Forum gehen, um …

»Ja, um was zu tun, Lara?«, fragte sie sich selbst und schaute in den Spiegel. Um nachzusehen, ob dieser JohnnyB vielleicht doch noch zurückgeschrieben hatte? Ihr Herz klopfte etwas schneller und ihre Wangen färbten sich rosa. Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hielt sich die Haare über den Kopf und machte einen Kussmund. »Ja, genau so ist es doch, oder Lara? Du findest ihn interessant.« Er hat dich schon zu unvernünftigen Gedanken verleitet, obwohl du ihn erst seit gestern kennst. Kann man das überhaupt als »Kennen« bezeichnen? Und der Traum letzte Nacht, war das vielleicht ein Omen gewesen? Hatte der Typ da nicht geheißen wie er? »Johnny«, flüsterte sie probehalber. Verdammt, er könnte ihr wirklich gefährlich werden. Die Aussage, dass er das Forum in erster Linie wegen ihr wieder besuchen wolle, hatte ihr Selbstbewusstsein gepusht. Wie er wohl aussah? Ob seine Stimme so klang, wie sie es sich ausmalte? Oh je, vermutlich war sie total bescheuert! Oder einfach nur beschwipst. Was redete sie sich da bloß ein? War sie wirklich so hungrig nach Komplimenten und männlichem Zuspruch, dass sie sich von einer unbekannten Person, die bisher für sie lediglich aus ein paar geschriebenen Sätzen bestand, so angezogen fühlte?

Der Rechner war noch an. Sollte sie doch einen weiteren Blick riskieren? Vielleicht war er ja auch weiterhin im Forum unterwegs, sehnsüchtig ausharrend auf der Suche nach ihr? Sie nahm den Laptop mit ins Bett. Er war nicht online. Aber er hatte ihr gestern diese kurze Nachricht hinterlassen. Über seine knappen bedauernden Worte war sie sehr enttäuscht gewesen. Sie hatte sich so auf eine persönlichere Nachricht von ihm gefreut. Sollte sie das jetzt auf sich beruhen lassen? War sie ihm womöglich schon zu nahe getreten? Nein, das konnte sie nicht glauben. Eine Nachricht wollte sie ihm noch zukommen lassen, wenn er darauf nicht antwortete, egal. Es war den Versuch wert. Sie fing an zu tippen:

29.05. 22:56

Betr.: Wo bist du?

Hallo JohnnyB,

ich vermisse dich, schade, dass du nicht da bist. Ich hatte mich eigentlich auf eine lange Antwort gefreut, aber gestern kam nur diese kurze Nachricht. Und heute habe ich dich noch gar nicht entdeckt. Vielleicht hattest du ja keine Zeit, mir ausführlicher zu schreiben. Ich hätte mich sehr gefreut, mehr von dir zu lesen.

Ich fühle mich schrecklich einsam. Die Hoffnung, mit dir ein paar Worte zu wechseln, treibt mich immer wieder ins Forum zurück. Leider vergeblich. Ich weiß, dass wir bislang nur über Musik gesprochen haben, aber irgendwie brauche ich auch mal jemanden, dem ich mein Herz ausschütten kann. Natürlich habe ich auch eine Freundin, mit der ich darüber rede, aber es ist etwas anderes, mit einem Fremden zu reden, der nicht voreingenommen ist. Oh je, ich will dich nicht damit belasten, vermutlich hast du selbst genug Probleme.

Aber egal, also es geht um Folgendes: Mein Mann ist vor ein paar Tagen für knapp zwei Monate geschäftlich verreist, aber statt mich darüber zu ärgern, bin ich irgendwie erleichtert. Nun ja, es läuft gerade nicht so gut zwischen uns. Obwohl ich die Freiheit ohne ihn genießen wollte, fühle ich mich jetzt aber total leer und einsam. Das Verrückte ist jedoch, nicht ihn vermisse ich, sondern … Ich weiß es nicht! Nicht einmal mein Klavier kann mich trösten. Vielleicht sollte ich besser ins Bett gehen, in meinem Kopf dreht sich alles.

Einen lieben Gruß von

Clara

***

Marc hatte den Rechner endlich hochgefahren. Es war spät geworden, ganz überraschend hatte er heute einen von auswärts gekommenen wichtigen Kunden belustigen müssen. Dabei konnte er sich gar nicht auf den Small Talk konzentrieren, er dachte ständig darüber nach, ob Clara ihm wohl geschrieben hatte. Und jetzt war er endlich wieder zu Hause – und tatsächlich: Eine neue Nachricht war in seinem Postkasten. Clara hatte ihm seine unpersönliche E-Mail nicht übel genommen. Stattdessen war sie ihm sogar einen Schritt entgegengekommen. Sie wollte mit ihm über Privates reden. Eine Chance, ihr näherzukommen, die er jetzt nicht ungenutzt verstreichen lassen durfte. Er schrieb:

29.05. 23:27

Betr.: Bitte geh noch nicht ins Bett

Liebe Clara,

ich rede dich so an, weil ich das Gefühl habe, dich schon ewig zu kennen. Die Art, wie du deine Gedanken zum Ausdruck bringst, vermittelt mir ein Gefühl von Vertrautheit und Nähe. Auch wenn wir bisher nicht über persönliche Dinge geredet haben, so spüre ich doch deine eindrucksvolle Persönlichkeit in jedem einzelnen Wort, das du schreibst, und ich merke, dass es höchste Zeit für uns zwei ist, dass wir mehr teilen als nur die von uns beiden gleichermaßen über alles geliebte Musik.

 

Du hast mich nach diesem Konzert gefragt und ich hab’ dir nur sehr dürftig geantwortet. Konzertbesuche sind für mich aktuell kein Thema. Das hat aber nichts damit zu tun, dass es mich nicht interessieren würde. Bitte verstehe, dass ich dir die Gründe dafür heute noch nicht ausführlich erklären kann.

Das Gefühl, dass man nach etwas sucht, von dem man nicht weiß, was es eigentlich ist, kenne ich nur zu gut. Vielleicht erzählst du mir noch ein bisschen mehr darüber. Ich fühle mich dadurch auch überhaupt nicht belästigt, im Gegenteil. Nur zu! Ich bin ein guter Zuhörer ;-).

Liebe Grüße, bis gleich?

JohnnyB

29.05. 23:44

Betr.: Re: Bitte geh noch nicht ins Bett

Lieber Johnny,

ich darf dich doch so nennen, oder? JohnnyB ist so unpersönlich, aber wenn ich dir damit zu nah trete, dann sag es bitte. Wenn ich richtig tippe, dann habe ich das Rätsel deines Nicks bereits gelöst. Hooters, richtig? Es ist dieses Lied »Johnny B«, oder? Bedeutet dir der Name oder der Songtext etwas oder ist dir einfach nichts Besseres eingefallen? Wie gesagt, es ist eine Vermutung, vielleicht liege ich ja richtig und du erklärst mir den tieferen Sinn, wenn es denn einen gibt. Soviel dazu, danke für dein Angebot, dir mein Herz ausschütten zu dürfen. Ich weiß gar nicht, womit ich anfangen soll. Aber möglicherweise sollte ich dich nicht mit meinen Problemen behelligen … Allerdings befinde ich mich zurzeit in einer Situation, die mich emotional überfordert und du bist der Einzige, mit dem ich darüber reden kann. Nein, du bist der Einzige, mit dem ich das möchte, denn bei dir fühle ich mich zum ersten Mal seit Langem ernst genommen und verstanden. Ich bin so schrecklich einsam, und damit meine ich nicht nur, dass ich allein bin. So richtig kann ich das nicht erklären. Mir gehen so viele Gedanken durch den Kopf, und manchmal frage ich mich, ob das Ganze noch einen Sinn hat. Die Kluft zwischen meinem Mann und mir scheint unüberwindbar. Er zieht sein Ding durch und ich habe das Gefühl, dabei auf der Strecke zu bleiben. Wenn ich etwas älter wäre, dann würde ich sagen, ich befinde mich auf dem direkten Weg in eine Midlife-Crisis oder ich stecke schon mittendrin. Ist so etwas überhaupt altersabhängig? Manchmal denke ich, ich verpasse etwas, in jeglicher Hinsicht. Also in jeglicher … Du weißt schon, was ich damit meine, oder? Und zwar das ganze Leben mit seinen spannenden und aufregenden Facetten. Es ist das Gefühl, in einem goldenen Käfig gefangen zu sein und nicht ausbrechen zu können … Vermutlich bin ich undankbar, denn er ermöglicht mir ein sorgenfreies Leben und wünscht sich eine Familie mit mir als liebevoller Hausfrau, Kindern, Hund, Garten und allem Drum und Dran. Aber mir reicht das alles nicht, ich fühle mich eingeengt. Ich will mich beruflich weiterentwickeln, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben, dass ich jemanden vernachlässige. Mein Mann ist ja, wie ich bereits schrieb, momentan für mindestens zwei Monate im Zuge eines Auslandseinsatzes unterwegs. Irgendwie habe ich das Gefühl, ich könnte die Zeit besser verbringen, als nur auf seine Rückkehr zu warten. Was meinst du?

Warte sehnsüchtig auf eine Nachricht von dir.

Deine Clara

Marc starrte ungläubig auf den Bildschirm. Was hatte er getan, dass diese Fremde ihm so vertrauensvoll das Herz ausschüttete? Er horchte in sich hinein. Es schmeichelte ihm, dass er nur durch die Art und Weise, wie er schrieb, für diese Frau ein Vertrauenspartner geworden war. Und wie hatte er diese Andeutungen zu verstehen? War sie auf ein Abenteuer mit ihm, einem Wildfremden, aus? Er schaute in sich hinein. Vor ein paar Tagen, die Sache mit Dorothee Melzer, das war doch eine selten günstige Gelegenheit gewesen, mal wieder zu vögeln. Sie war vielleicht nicht unbedingt sein Traum von einer Frau gewesen, aber zumindest war sie doch anziehend genug, um ein wenig Spaß zu haben. Aber seine Libido war offenbar komplett eingetrocknet, abgesehen von den immer wieder auftauchenden feuchten Träumen, in denen ihm Juliette erschien. Wenn sie ihn reizte und aufgeilte, ohne dass es ihm jemals gelang, zur Erfüllung zu kommen, denn immer wenn er glaubte, sie endlich bei sich zu haben, verschwand sie wie eine Fata Morgana. Marc fragte sich, wie die Person, die hinter dieser Clara steckte, wohl aussehen mochte. Er stellte sich das Bild von Clara Schumann als junge, hübsche, dunkelhaarige Frau vor, so wie sie auf dem einstigen Hundertmarkschein zu sehen gewesen war. Es gelang ihm auch nicht, ein anderes Bild von ihr in seinen Kopf zu bekommen. Vielleicht war sie ja ganz anders? Vielleicht war sie gar nicht hübsch und zart, sondern eher kräftig und burschikos? Vielleicht war das Ganze ja auch eine Falle. Man hörte ja so viel von Internetbetrügereien, in denen leichtgläubigen Opfern die haarsträubendsten Geschichten erzählt wurden, um sich deren Vertrauen zu erschleichen. Möglicherweise war Clara nicht einmal eine Frau, sondern das Pseudonym eines einsamen Mannes, eines Schwulen vielleicht. Er konnte es sich nur schwer vorstellen, denn ihre Beiträge im Forum zeugten von so viel Herz, Witz und Engagement – das wäre für ihn nicht stimmig. Er beschloss dennoch, vorsichtig zu sein. Solange er nicht mehr von sich preisgab, konnte ihm ja nichts passieren. Aber es reizte ihn, dieses Spiel weiterzutreiben. Ja, nicht nur mitzuspielen, er wollte sehen, wie weit sie ihm vertrauen würde. Ein aufregendes Kribbeln bemächtigte sich seiner, als er die nächste Antwort an Clara formulierte.