Sinfonie der Lust | Erotischer Roman

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Z serii: Erotik Romane
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5

Wenn man Ben danach fragte, was er beruflich täte, sagte er für gewöhnlich, dass er Leiter eines Geheimdienstes sei. Diese Antwort war so absurd, dass keiner mehr genauer nachzufragen wagte. Vielleicht war es nicht nur seine spezielle Art von Humor, die ihn so etwas erwidern ließ, sondern auch die Tatsache, dass er im Leben gern mehr erreicht hätte, als nur die gute Seele einer Maschinenschlosserwerkstatt zu sein. Es gab keinen Grund, sich dieses Jobs zu schämen, schließlich war er Vorarbeiter und die rechte Hand seines Chefs. Bei ihm liefen viele Fäden zusammen. Seine lockere, aufgeschlossene Art seinen Mitmenschen gegenüber hatte ihn in eine Position gebracht, die keiner Ämter und Titel bedurfte. Jedenfalls hatte er in seinem Job ein mehr als gutes Auskommen und es gab keinen Grund zu klagen.

Ganz so weit hergeholt war die Sache mit dem Geheimdienst dann aber doch nicht. Er sammelte Informationen über Menschen und speicherte diese in einer kleinen privaten Datenbank ab. Rein informativ natürlich, wie er sich einredete, um sein Gewissen zu beruhigen, denn er würde dieses Wissen nur einsetzen, um sich selbst zu schützen. Niemals wieder wollte er als Opfer dastehen, weil er jemandem auf den Leim gegangen war, der sein Vertrauen nicht verdiente. Diese Lehre hatte er gezogen. Überraschungen in Bezug auf Menschen in seinem Umfeld konnte und wollte er sich nicht mehr leisten. Negative Erlebnisse der Art wie damals, als er ausgeraubt wurde, zum Beispiel. Oder auch bei der Sache mit Marc, als ihm gewisse Informationen gefehlt hatten und es fast zu einer Katastrophe gekommen wäre. Das alles bestärkte ihn in seinem Willen, jederzeit die Kontrolle zu behalten. Er wusste, dass es eine Macke war, aber es tat niemandem weh und es gab ihm ein gutes Gefühl.

Wegen Marc, dieser Knalltüte, saß Ben jetzt auch schon wieder vor seinem Notebook und beendete den Registrierungsvorgang in einem Online-Musikforum. »Hardrock« und »Metal« hatte er beim Ausfüllen des Profils als seine musikalischen Lieblingsgenres angegeben. Er hatte nicht so fürchterlich viel Ahnung davon, aber es würde ausreichen, um in dem Forum erst einmal Fuß zu fassen. Und dann würde er seine Fühler nach diesem verhuschten Fräulein ausstrecken, von dem ihm Vanessa erzählt hatte. Vanessa, diese entzückende Bitch, die einzige Frau, von der er sich manchmal etwas sagen ließ. Genau genommen konnte er ihr keinen Wunsch abschlagen. Aber das sollte sie – um Gottes willen – besser nie erfahren.

Vanessa hatte es sich offenbar in den Kopf gesetzt, ihrer kleinen Freundin vögeltechnisch etwas auf die Sprünge zu helfen. Er hätte ja auch nichts dagegen gehabt, hier etwas Nachhilfe zu geben, aber er war selbstlos genug, um auch an seinen besten Kumpel zu denken. Im Grunde genommen sein einziger Freund und auch das war eher eine ziemlich schräge Verbindung. Er musste immer noch schmunzeln, wenn er daran zurückdachte, wie sie zustande gekommen war.

Ben war ein passionierter Bergsteiger. Seine Urlaube verbrachte er in der Regel damit, in den bekannten Kletterregionen Deutschlands kleinere und größere Gipfel zu erklimmen. Besonders beliebt war bei ihm das Elbsandsteingebirge. Nur zwei Autostunden von Berlin entfernt konnte er dort auch mal ganz spontan seiner Leidenschaft frönen. Ein wahres Paradies für Kletterer. Er hatte auch vor einigen Jahren eine Lizenz als Bergführer erworben und veranstaltete mit interessierten Anfängern oder Neulingen Erlebniswochenenden. Es war im Laufe der Jahre bereits ein kleiner Nebenerwerb geworden, bei dem er das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden konnte.

Um seine Touren bekannt zu machen, hatte er eine Webseite eingerichtet, auf der er seine Dienste als Bergführer anbot und entsprechende Pauschaltouren anpries. Immer mal wieder gab es über diesen Kanal Anfragen, und wenn er es einrichten konnte, organisierte er diese Wochenenden. Einmal hatte ein solcher Ausflug allerdings in einem Desaster geendet. Sein Kletterpartner hatte sich mit der teuren Ausrüstung und seiner Geldbörse aus dem Staub gemacht und Ben besaß keinerlei Informationen, die ihm dabei geholfen hätten, den Dieb aufzuspüren und zur Verantwortung zu ziehen. Deshalb begann er damals, sich seine Gäste vorher genauer anzuschauen. Erst wenn er genügend Daten über ihre Identität und ihre Vertrauenswürdigkeit eingeholt hatte, ließ er sich auf das Abenteuer ein. So vergewisserte er sich nach Möglichkeit, dass sein potenzieller Kletterpartner mit großer Wahrscheinlichkeit über ein geregeltes Einkommen verfügte und mit beiden Beinen fest im Leben stand. Wenn es ihm nicht gelang, an Informationen heranzukommen, die ihm dies glaubhaft machten, oder wenn er den Eindruck hatte, dass die Person einen unsteten Lebenswandel führte, sagte er die Anfrage ab. Schon bald hatte er ein zielsicheres detektivisches Gespür entwickelt, und was er anfangs zu seiner eigenen Absicherung betrieben hatte, wurde langsam aber sicher zu einer wahren Obsession.

Auch Marc hatte ihn im vergangenen Jahr über eine solche Anfrage angeschrieben. Mit ein paar rudimentären Vorkenntnissen vom Hallen-Bouldern ausgestattet, wollte er seine Fähigkeiten am blanken Felsen weiter vertiefen, dafür suchte er einen erfahrenen Führer. Das perfekte Arrangement für Ben. Obwohl er für Marc sofort einen Eintrag in seiner Datenbank anlegte und sich alle verfügbaren Informationen in Bezug auf seinen potenziellen Schützling beschaffte, hatte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen können, dass es für den neuen Kunden so eine Art Selbstfindungstrip werden sollte. Was er über Marc herausgefunden hatte, klang recht beeindruckend: erfolgreicher Leiter eines Architekturbüros, das für prestigeträchtige Objekte verantwortlich zeichnete, Gewinner mehrerer Architekturwettbewerbe. Musikalisches Talent, spielte ab und an zum eigenen Vergnügen als Barpianist in einem Berliner Nobelrestaurant. Er betrieb gelegentlich Trendsportarten wie Snowboarden und Kitesurfen. Überzeugter Single, jedenfalls hatte Ben zu diesem Zeitpunkt noch keine Verbindungen zum weiblichen Geschlecht ausmachen können. Das schien eine gemeinsame Basis zu sein, doch wenn er hier etwas genauer recherchiert hätte, dann hätte er sich womöglich die unangenehme Überraschung erspart, die ihn später ereilte.

Ein ergiebiges Wochenende stand an. Marc hatte das für Ben auch finanziell lohnende All-inclusive-Alleinunterhalter-Paket gebucht, was für ihn bedeutete, dass er selbst auch mehr Zeit haben würde, sein Hobby zu genießen, je nachdem wie geschickt sich sein Schüler anstellte. Da Marc die Grundfertigkeiten schon mitbrachte und auch sonst nicht gerade mit Ungeschicklichkeit geschlagen zu sein schien, war in dieser Hinsicht aber nichts zu befürchten. Außerdem verfügte er offenbar über Verbindungen zu bekannten Persönlichkeiten der Stadt. Da rechnete sich Ben für die Abende beim Bier so manch interessantes Gespräch aus. Kurzum, die Anfrage dieses Architekten-Tausendsassas war wie ein Goldnugget für ihn gewesen, in jeder Hinsicht. So schien es zumindest damals.

Als das Wochenende nahte, war zunächst auch noch alles im Lot gewesen, denn das Wetter spielte mit. Es sollte heiter bis wolkig sein bei angenehmen Temperaturen und auf jeden Fall trocken bleiben, was die wichtigste Voraussetzung war. Die verschlafene Pension am Hang des Elbtals in abgelegener Idylle nahe dem Kurort Dorf Wehlen, in der er sich mit seinen Gästen immer einquartierte, war auch noch frei. Für die ältere Dame, die sie betrieb, war Ben ohnehin schon seit längerer Zeit der Lieblingsstammkunde und sie hatte ihm versichert, dass sie an diesem Wochenende die einzigen Gäste sein würden.

Vor Ort stellte sich die Lage aber plötzlich ganz anders dar. Keine Spur von herzlicher, unausgesprochener Vertrautheit. Dieser Architekt war unerträglich eingebildet und hochnäsig. Er schien Ben nicht als Lehrer akzeptieren zu wollen, sondern sah ihn wohl mehr als unvermeidlichen Helfer an. Dazu kam, dass Marc sich sehr introvertiert zeigte, alle seine Versuche, ihn aus der Reserve zu locken, scheiterten kläglich. Eigentlich hätte er sich innerlich zurückziehen und das Klettern genießen können. Aber auch das wollte ihm nicht gelingen, denn dieser Typ hatte das Talent, ihn zur Weißglut zu treiben.

Als er ihn am Ende des ersten Tages darauf aufmerksam gemacht hatte, dass Marc elementare Regeln der Sicherheit nicht beachtet hatte, eskalierte der Streit und es wäre fast handgreiflich geworden. Marc hatte ihm deutlich gemacht, dass Ben sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern solle, er könne ganz gut selbst für sich sorgen. Allzu gern hätte er diesem großspurigen Kotzbrocken die Fresse poliert, aber so viel Professionalität bewahrte er sich dann doch, dass er dies unterließ, wenn auch mit geballten Fäusten in der Tasche. Aus dem gemütlichen Abend beim Bier wurde jedenfalls auch nichts mehr und für den geplanten zweiten Tag schwante ihm nichts Gutes.

Diese Befürchtung wurde bereits frühmorgens in der Pension zur Gewissheit, als Ben von dem Geräusch quietschender Reifen geweckt wurde, das vom Parkplatz vor dem verträumten Haus in sein Zimmer drang. Sollte Marc etwa grußlos abgereist sein? Nein, seine Ausrüstung hing noch an der Garderobe.

Ben hatte zu diesem Zeitpunkt ein verdammt mulmiges Gefühl und er ahnte, dass er schnell handeln musste. Er fühlte sich für seinen Schützling verantwortlich. Für eine Verfolgung war Marc schon zu weit voraus, aber er schnappte sich seinen besten Feldstecher und schwang sich in seinen Wagen. In halsbrecherischer Fahrt schleuderte er um die Serpentinen. Ben steuerte eine Stelle an, von der aus man einen überragenden Blick auf das gesamte Elbtal hatte. Sollte er nicht fündig werden, so musste er es an einer ähnlichen Stelle hinter der nächsten Windung des Flusses noch einmal versuchen. Er kannte die Gegend wie seine Westentasche und er würde diese Nadel im Heuhaufen, sprich den einsamen Kletterer, zwischen Hunderten Sandsteinfelsen schon aufspüren.

 

Und er hatte Glück. Bereits an seinem ersten Aussichtspunkt, nachdem er den Blick zweimal hatte streifen lassen, bemerkte er ihn. Wie ein Insekt klebte da ein Mensch an der Wand des »Wurmkopfes« in einer Entfernung von etwa 800 Metern Luftlinie. Eindeutig, ein Verrückter ohne Sicherheitsausrüstung. Aber klar, die war ja auch in der Pension geblieben. Wenigstens nur der »Wurmkopf«, ein relativ leichter Felsen, dachte Ben, ein Selbstmörder schien Marc zumindest nicht zu sein.

Wieder raste Ben durch die Serpentinen, ohne auf möglichen Gegenverkehr Rücksicht zu nehmen, der zu dieser Stunde am Sonntagmorgen allerdings auch eher unwahrscheinlich war. Aus den wenigen Metern Luftlinie wurden auf der Straße mehrere Kilometer. Er selbst hatte seine Ausrüstung wohlweislich mitgenommen und sie in Sekundenbruchteilen angelegt, als er, so weit es ging, an die Stelle herangefahren war und geparkt hatte. Er musste noch ein paar Hundert Meter sprinten, um bis zu dem Felsen zu gelangen, auf dessen Gipfel er Marc bereits stehen sehen konnte.

Genau in dem Moment, als er atemlos am Fuße des »Wurmkopfes« angelangt war, verlor Marc oben offenbar das Gleichgewicht. Jedenfalls hörte Ben über sich ein schabendes Geräusch und er machte sich schon auf das Schlimmste gefasst. Aber Marc hatte wohl noch mal einen Halt gefunden. Auf jeden Fall strampelten zehn Meter über Ben die Füße des Verrückten in der Luft. Der erfahrene Kletterer brüllte irgendetwas Dämliches nach oben, er konnte nicht mehr sagen, was genau es gewesen war, Marc hatte nur wissen sollen, dass Hilfe da war.

Wie Spider-Man war Ben den Felsen hochgeschossen. Auf der Hälfte bei etwa fünf Metern war ein Sicherheitsring eingeschlagen. Dort verankerte er im Vorbeiklettern flugs seinen Karabiner. Als er weitere zwei Meter geschafft hatte, spürte er, wie ihn etwas mit unglaublicher Wucht am Kopf traf. Marc hatte loslassen müssen und war auf ihn gestürzt. Instinktiv packte sich Ben das vorbeifallende Bündel, das ihn aber gnadenlos mit in die Tiefe riss.

Der Fall endete etwa zweieinhalb Meter über dem Boden. Ben hing an der Sicherheitsleine, die auf der halben Felshöhe befestigt war. Die Pendelbewegung schlug ihn gnadenlos gegen das Gestein, aber das würde allenfalls ein paar Prellungen geben. Das menschliche Bündel, das er immer noch umklammert hielt, wurde langsam unerträglich schwer. »Ich lass’ dich jetzt fallen«, kündigte er an, um die Drohung im selben Augenblick wahr zu machen. Das würde er schon überleben.

Als er sich etwas gesammelt und abgeseilt hatte, stand Marc bereits unten, etwas mitgenommen aussehend, aber völlig intakt. Er hielt sich die Hüfte und rieb sich die Stirn, wo ihm wahrscheinlich bald ein prächtiges Horn sprießen würde.

»Konntest du nicht besser aufpassen?«, blaffte Marc ihn an, als er unten angekommen war. Die Worte brauchten einige Sekunden, bis sie Bens Hirn erreicht hatten. Ihm blieb der Mund offen stehen und plötzlich machte sich ein gnadenloser Lachanfall über ihn her. Ben hielt sich den Bauch und er krümmte sich vor scheinbaren Schmerzen. Dann schallte sein Lachen durch das ganze Tal und wurde von der gegenüberliegenden Seite als Echo zurückgeworfen. Als dann auch Marc in das Lachen eingestimmt hatte, war klar, dass das Eis gebrochen war und sie fortan ein eingeschworenes Team sein würden.

***

Ben hatte jetzt die Bestätigungs-E-Mail erhalten und sich in den geschützten Bereich des Forums begeben. Er würde erst einmal ein paar Marken setzen. Im Bereich »Vorstellung neuer Mitglieder« tönte er, er sei Experte auf den Gebieten »Sex, Drugs und Rock-n-Roll«. Das mit dem Sex mochte stimmen, bei den anderen beiden Themen war er sich nicht so sicher. Anschließend klinkte er sich in eine Diskussion über das neue Album einer Band mit dem Namen »Psychokill« ein. Er hatte noch nie von denen gehört, aber er behauptete in diesem Thread, dass das vorletzte Album viel besser gewesen sei. Sicherheitshalber würde er sich das nachher auch gleich mal laden. Nichts ging über eine perfekte Tarnung. Schließlich ging es ja in erste Linie darum, Marc in dieses Forum zu bekommen. Dazu musste Ben aber erst einmal glaubhaft von dieser Plattform begeistert sein.

Trotzdem hatte er sich natürlich auch bereits auf die Suche nach Vanessas Freundin gemacht. »Clara« sollte sie hier heißen, so die Aussage seiner Lieblingsbraut. Und da hatte er sie auch schon gefunden. Sie schien wirklich sehr aktiv zu sein, kein Tag verging offenbar, ohne dass sie etwas postete. Sowohl zu allen möglichen musikalischen Themen von Pop bis Klassik als auch mit Small Talk in den allgemeinen Plauderbereichen.

»Mein Täubchen«, murmelte er zu sich selbst, »ich werde dir bald den perfekten Täuberich in den Schlag flattern lassen.« Dann begann er eine persönliche Mitteilung an die Benutzerin »Clara« zu verfassen:

»Hallo, mein zartes Täubchen …«

6

Marc hatte sich das kleine Gartenhaus seines Grundstücks am Griebnitzsee für die Sommermonate hergerichtet. Wenn das Wetter schön war, blieb er wochenlang hier draußen und nahm den weiteren Anfahrtsweg in sein Büro gerne in Kauf. Dafür wurde er mit einem atemberaubenden Blick über das Wasser und dieser idyllischen Abgeschiedenheit im Grünen entschädigt, die ihm so guttat und ihn vom täglichen Arbeitsstress abspannen ließ. Er hatte auch sein Keyboard aufgebaut und übte darauf die Songs für sein Repertoire. Einmal in der Woche zog er sich seinen weißen Smoking an, band sich eine schwarze Fliege um und setzte sich an den Flügel in der Bar des »Al Gusto«, eines Sternerestaurants an der Tauentzienstraße. Die paar Euro, die er sich dabei verdiente, spendete er der Musikschule, denn Geld war nicht der Grund für sein Engagement. Daran mangelte es ihm nicht, er wollte vielmehr seine Musik mit anderen Menschen teilen, den Applaus genießen und nicht nur für sich selbst im stillen Kämmerlein spielen.

Die kleine Küchenzeile nutzte er, um sich, wenn er Lust darauf hatte, eine kleine Mahlzeit zu bereiten. Er liebte deftige Hausmannsgerichte. Heute hatte er sich Leber knusprig gebraten, mit Zwiebelringen und Kartoffelpüree. Ben hatte zwar für heute Abend seinen Besuch angekündigt, aber er wollte erst in einer Stunde kommen und bis dahin wäre er schon verhungert. Sein Freund hatte ihn noch nie hier draußen besucht, denn sie kannten sich seit dem letzten Herbst und er war erst in dieser Woche wieder hier eingezogen. Ben hatte ihm versprochen, das neue Notebook mitzubringen, damit er auch hier draußen online gehen konnte. In dieser Beziehung vertraute er voll und ganz auf Bens Know-how, denn er hatte von diesen Sachen keine große Ahnung. Er glaubte zwar nicht, dass er das Ding sehr oft benutzen würde, aber sein Kumpel hatte gesagt, es müsste sein. Heutzutage wäre man abgeschrieben, wenn man nicht jederzeit die Möglichkeit hatte, ins Internet zu gehen. Ben hatte ihn so lange bequatscht, bis er klein beigegeben hatte, und sein Freund hatte sich sofort angeboten, das beste Teil zu besorgen, das am Markt zu finden war.

Ben erschien viel zu früh. Er klopfte zwei Mal an die Holztür und steckte den Kopf hindurch, über der Schulter trug er eine Tasche, die offenbar das neue Gerät enthielt. »Hey, Alter. Hier riecht es ja lecker!«

»Komm rein«, nickte er ihm zu und machte eine einladende Geste. »Schau dich ruhig um!«

»Ich muss schon sagen, du lebst hier wie die Made im Speck.«

Marc wies mit der Gabel auf den freien Stuhl ihm gegenüber. »Setz dich, mach’s dir bequem, oder …«, er hatte in den Augen seines Kumpels das unstillbare Verlangen nach Leber mit Zwiebeln entdeckt. »Da oben im Schrank sind Teller und im Schubfach ist Besteck. Nimm dir, was du brauchst, ich gebe dir was ab. Ist sowieso viel zu viel für mich.«

Als wäre er hier zu Hause, holte sein verfrühter Gast sich das Geschirr, setzte sich zu ihm an den Tisch und nahm sich ungefragt das größere Stück von seinem Teller. »Danke, sehr nett von dir. Ich hab’ aber auch einen Kohldampf.« Marc musste schmunzeln. Diese Unverfrorenheit hatte ihm von Anfang an imponiert. Er gab seinem Kumpel dann auch noch die größere Hälfte von seiner Püree-Portion ab und sie genossen das Essen im stillen Einvernehmen.

»Und, was sagst du zu meiner kleinen Sommerresidenz?«

»Na, ist ja ganz schnucklig«, bemerkte Ben kauend. »So ein richtig romantisches Liebesnest. Das ist die reinste Verschwendung bei dir.«

Marc verdrehte genervt die Augen. Wann würde sein Freund endlich damit aufhören, ihn wegen seines eingeschlafenen Sexuallebens aufzuziehen? Er versuchte deshalb schnell, das Thema zu wechseln: »Nun zeig mal her, was du da Schönes aufgetrieben hast.«

»Das Beste zurzeit auf dem Markt.« Ben betete die technischen Parameter runter, die ihn beeindrucken sollten. »Damit kannst du auch locker deine hungrigen CAD-Programme abfackeln oder dir Pornovideos in feinstem HD reinziehen.«

»Hauptsache, ich komme ins Internet«, antwortete Marc, statt auf dessen Bemerkung einzugehen.

»Und wollen wir den gleich ausprobieren?«, dabei hielt sein Freund den Karton mit dem Notebook in die Höhe, den er aus der Umhängetasche zog.

Er antwortete nicht gleich, sondern forderte Ben mit einem Kopfschwenk Richtung Küchenzeile auf: »Mach dich erst mal nützlich und hol uns beiden ein Bier aus der Küche. Ach und bei der Gelegenheit kannst du gleich das Geschirr in die Spüle stellen.«

Nachdem das erledigt war und sie sich mit den Flaschen zugeprostet hatten, hielt Ben nun nichts mehr davon ab, das Gerät auszupacken. Er hatte den Computer zu Hause schon fix und fertig eingerichtet, sodass er sofort einsatzbereit war. Er zeigte ihm alles, was er wissen musste und noch eine ganze Menge mehr. Viele dieser Details hatten Marc gar nicht interessiert, aber er wollte seinem Freund die Freude machen, so zu tun, als sei er ein aufmerksamer Zuhörer. Zwischendurch unterbrach er ihn ab und an mit einem »Prost«, wenn wieder ein Bier geleert und ein neues geöffnet worden war.

»Warte, ich muss dir gleich mal was vorspielen.« Ben startete eine Software für Musikwiedergabe. Ein ohrenbetäubender Lärm erschallte aus den eingebauten Lautsprechern. »Ist das nicht geil? In dem Gerät ist ein super Soundsystem verarbeitet«, überschrie er das Geräusch, das Marc körperliche Schmerzen bereitete. Er verzog gequält das Gesicht: »Ja, schön laut ist es, aber was ist das nur für ein unglaublicher Krach?«

»Psychokill, kennst du das etwa nicht?«

»Nein, mach mal lieber was Humanes an.«

»Banause, und so was behauptet, Ahnung von Musik zu haben«, empörte er sich, regelte die Lautstärke herunter und startete einen Musik-Mix mit radiokompatiblen Monsterhits.

»Ich hab’ das in so einem Musikforum entdeckt«, fügte Ben hinzu.

»Musikforum? Mit Musik hatte das aber nicht viel zu tun.«

»Hey, das ist gerade total angesagt. Aber ich kann dich beruhigen, Metal ist da nur eine Nische. Die Leute tauschen sich über alles Mögliche aus. Jazz und Klassik auch, da gibt’s Musikrichtungen, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Ich glaub’, das wäre auch etwas für dich.«

»Na ja, vielleicht schau’ ich mir das bei Gelegenheit mal an.«

»Nein, nein, nicht irgendwann, wir machen sofort Nägel mit Köpfen. Sonst wird das sowieso nichts. Also legen wir dir gleich ein Profil an.«

Marc seufzte. Wenn sein Freund sich so etwas in den Kopf gesetzt hatte, war er nicht davon abzuhalten.

»Wie wollen wir dich nennen?«, fragte er und hatte bereits ein Registrierungsformular geöffnet.

»Weiß ich doch nicht, wie wär’s mit Marc?«

»Quatsch, du brauchst ’nen anständigen Nick. Ich nenne mich zum Beispiel ›Hammer‹. Da steh’n die Ladys drauf, ich habe sogar auch schon ein persönliches Groupie. Die ist ganz scharf auf mich.«

Marc unterdrückte ein Lachen und grinste ungläubig. Das sah ihm ähnlich. Unter mangelndem Selbstbewusstsein hatte sein Kumpel wohl noch nie zu leiden gehabt. Aus den Lautsprechern ertönte jetzt ein alter Megahit von den Hooters.

»Hey, ich hab’s«, Ben schlug sich mit der flachen Hand auf die Stirn. »Du kennst doch den Song, der da läuft. Wenn ich meinem Englisch nur ein bisschen vertrauen kann, geht’s doch da um so einen Typen wie dich, der seiner alten Schnalle hinterherhängt und nicht von ihr loskommt.«

»Nein, ich denke, das ist nur eine Metapher für seine Drogensucht«, belehrte er seinen Freund.

»Drogensucht? Ha, das passt wie die Faust aufs Auge. Du bist doch immer noch süchtig nach dieser Juliette. Das ist doch deine Droge, von der du nicht loskommst.« In völlig falscher Tonlage grölte er mit: »… her kiss is her poison, forever inside you, wherever you go …«

 

Marc musste sich eingestehen, dass dieser Text, wenn man ihn wörtlich nahm, tatsächlich zu seiner Situation mit Juliette passte. Ihr Gift war in ihm und er wusste nicht, woher er ein heilendes Antiserum bekommen konnte.

»Also gut, von mir aus, JohnnyB«, mit einem bittersüßen Schmunzeln nickte er seinem Freund zu.

»Na, geht doch.« Wenig später war Marc mit dem Benutzernamen »JohnnyB« in dem Forum registriert.

»So und jetzt zeigst du mir mal dein Groupie«, er wollte jetzt die vollmundige Behauptung auf die Probe stellen.

»Kein Problem, sofort«, Ben loggte den Benutzer »JohnnyB« aus und meldete den User mit dem Spitznamen »Hammer« an. Dann steuerte er einen Forumsbereich an, in dem sich die Benutzer private Nachrichten schreiben konnten.

»Na, siehst du, mein Täubchen hat sofort geantwortet«, grinste er und öffnete eine Nachricht, die er von einer Benutzerin mit dem Namen »Clara« erhalten hatte. Marc schaute ihm über die Schulter und las den Text mit, der auf dem Bildschirm erschienen war.

Plötzlich musste er losprusten, fast hätte er das Bier auf das teure Gerät gespuckt.

»Deine ›Eroberung‹ scheint ja wirklich hingerissen zu sein. Sie will die Forumsleitung einschalten, wenn du ihr noch mal so etwas schreibst.« Er hielt sich vor Lachen den Bauch. »Sie sagt, sie sei glücklich verheiratet und brauche keine Internetbekanntschaften, die ihr anzügliche Angebote machen …«

»Ich sag’s dir, die ist eindeutig untervögelt«, seinem Freund schien die Antwort nicht im Geringsten peinlich zu sein.

»Immerhin, sie hat sogar etwas Mitleid mit dir. Sie rät dir, wenn du deine Gedanken mal in eine andere Richtung lenken würdest, könntest du bestimmt auch mal eine nette Frau finden, die zu dir passt.« Marc war sichtlich amüsiert. »Sag mal, du alter Hengst, was hast du ihr bloß geschrieben?«

»Och, nichts Besonderes, ich hab’ ihr eigentlich nur ein paar Komplimente gemacht …«, noch immer schien er völlig ungerührt zu sein und öffnete für Marc bereitwillig die Nachricht, die er »Clara« zuvor gesendet hatte.

»Alter Schwede, da ziehst du aber vom Leder. Ich wusste gar nicht, dass du so fantasievoll sein kannst. Du willst ihr die Flötentöne beibringen, bis ihr Hören und Sehen vergeht, du willst mit Pauken und Trompeten ihre Lust zum Vibrieren bringen, bis sie nicht mehr weiß, wo hinten und vorne ist?«

»Ja, ich bin ein Künstler, wusstest du das nicht?«

»Doch, mit Sicherheit. Besonders die Formulierung, du seist der Hammer, der aus ihr die Geilheit herausrammeln würde, bis sie ›Halleluja‹ kreischt, zeugt von deinem zartfühlenden Frauenverständnis.«

»Na, sie weiß nur nicht, was ihr fehlt«, bemerkte er trocken. »Aber vielleicht hast du ja mehr Glück bei ihr.«

»Mit Sicherheit werde ich unbekannten Damen keine anzüglichen Nachrichten schreiben«, Marc war immer noch verblüfft über die Unverfrorenheit, mit der dieser Typ einer Wildfremden so eindeutige Botschaften geschrieben hatte. Das hätte er sich doch selbst zusammenreimen können, dass das nie funktionieren würde.

»Na ja, dann plauderst du halt mit ihr über Schopeng oder wie der Klimperheini heißt. Von mir aus kannst du sie haben. Die ist mir eh zu prüde«, er machte eine wegwerfende Handbewegung.

»So, ich muss dann mal. Es ist spät geworden«, bemerkte Ben mit einem Blick auf die Uhr. »Gehen wir mal wieder Billard spielen?«

»Weiß ich noch nicht. Demnächst sieht es echt schlecht aus. Ich muss noch den Garten in Schuss bringen.«

»Egal, komm, hab’ dich nicht so. Du musst hier wirklich mal raus. Es geht doch nur darum, dass du öfter unter Leute kommst.«

»Ich habe genug soziale Kontakte, das kannst du mir glauben. Aber ich überleg’ es mir. Hab’ ja noch eine Rechnung mit dir offen.«

»Mach das. Also dann, adios alter Bursche!«, Ben beugte sich für eine Umarmung zu seinem Freund herunter und klopfte ihm auf die Schulter.

»Ja, bis demnächst.« Er wandte sich in Richtung Schiebetür. Bevor er den Raum verließ, drehte er sich noch einmal um und grinste ihn an: »Wie lange lebst du eigentlich jetzt schon vom Handbetrieb?« Auf Marcs Gesicht erschien ein Fragezeichen.

»Spinner!«, meinte er nur, aber sein Freund war schon durch die Ausgangstür in der Dunkelheit verschwunden.

***

Es war wieder ein langer und anstrengender Arbeitstag gewesen. Aber so langsam schien etwas Ruhe einzukehren. Die Unterlagen, Modelle und Kalkulationen für die Ausschreibung waren so gut wie fertig und der Abgabetermin würde gehalten werden können. Beim Projekt Erlebnishotel hatte er nach langen Verhandlungen bei der Baufirma erreicht, dass man den unfähigen Bauleiter austauschte und seitdem ging es da auch gut voran, ohne dass sich die beteiligten Firmen gegenseitig die Schuld für auftauchende Hindernisse und die damit verbundenen Verzögerungen in die Schuhe schoben. Und zu guter Letzt hatte sich auch die Geschichte mit dem Atelier zu seiner vollen Zufriedenheit geregelt.

Als er gestern Abend im »Al Gusto« seine Vorstellung gegeben hatte, war plötzlich Dorothee Melzer an dem kleinen Beistelltisch neben dem Piano erschienen, hatte sich auf einen mitgebrachten Stuhl platziert und ihn verträumt angesehen wie einst Ingrid Bergman den Barpianisten in »Casablanca«. Er hatte schon fast damit gerechnet, dass sie ihn bitten würde, noch einmal »As Time Goes By« zu spielen. Stattdessen überraschte sie ihn mit dem Satz:

»Gut, Marc, ich will mal nicht so sein und dir deinen Übergriff von neulich nicht zu sehr übel nehmen.«

Er glaubte, nicht richtig gehört zu haben. Beinahe hatte er sich vor Schreck verspielt. Aber offenbar versuchte sie aus der Situation herauszukommen, indem sie den Spieß umdrehte. Doch er dachte nicht daran, sich den schwarzen Peter zuschieben zu lassen:

»Frau Melzer, wovon reden Sie? Es gab lediglich einen Besichtigungstermin, bei dem ich Ihnen versicherte, dass der Bauplan Ihren Wünschen voll gerecht werde. Es wäre besser für uns beide, wenn wir uns in dieser Art an dieses Treffen zurückerinnern würden.« Marc hatte es vorgezogen, in einen geschäftsmäßigen Ton zu wechseln, aber ihr auch die Möglichkeit zu geben, ohne Gesichtsverlust aus der Sache herauszukommen. Sie hatte dann einen Schmollmund gezogen, ihre Handtasche genommen, sich neben ihn gestellt. Dann hatte sie sich zu ihm herabgebeugt, sodass sich ihre Wangen berührten und ihm ins Ohr gehaucht:

»Ach, komm schon, Marc, du hast es doch genossen, du Hengst. Wenn dein blödes Telefon nicht geklingelt hätte, dann hättest du mich dort oben garantiert sexuell belästigt und nach Strich und Faden durchgevögelt.« Ihre Stimme verriet ihm, wie enttäuscht sie immer noch über die entgangene »Belästigung« war.

»Dorothee, wir sollten das wirklich auf sich beruhen lassen und wieder einen professionellen Umgang miteinander pflegen.«

»Sehr, sehr schade«, sie bemühte sich offenbar, gleichgültig zu klingen. »Falls du es dir anders überlegst«, sie wandte sich zum Gehen. »Ich habe ein Separee gebucht. Vielleicht besuchst du mich mal in deiner Spielpause.« Dann war sie mit schnellen, entschlossenen Schritten davongetrippelt.

Es war ihm an diesem Abend dann aber gelungen, seinen kleinen Freund in der Hose, der drauf und dran war, eine Dummheit zu begehen, in die Schranken zu weisen und dieser Einladung nicht zu folgen. Offenbar war das die richtige Entscheidung gewesen, denn am heutigen Nachmittag kamen trotzdem alle Unterlagen von der Kundin unterschrieben und bewilligt im Büro an. Der Bau konnte endlich beginnen.