Geschichten eines Geistreisenden

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Und was sollte ich ihm sagen? Hallo, hier ist ihr zukünftiger Debitorenbuchhalter, ich weiß, Sie kennen mich noch nicht, aber ich kann Ihnen wichtige Daten der Zukunft verraten? – So ging das nicht. Ich brauchte zwei Wochen, bis ich mir eine Strategie zurechtgelegt hatte.

Von Kettwig aus war es eine Himmelfahrt. Ich brauchte Stunden, bis ich in Duisburg im Innenhafen anlangte. Die Schule hatte ich an diesem Montag geschwänzt, nun stand ich vor dem etwas heruntergekommenen Bürogebäude und näherte mich dem Pförtner. Ihn kannte ich noch von früher, ein freundlicher, alter Mann, der bald nachdem ich hier angefangen hatte, in Rente gegangen war. Er sah mich erstaunt an, es geschah sicherlich nicht oft, dass ein Jugendlicher hier auftauchte.

»Zu Herrn Groß willst du?«, fragte er erstaunt. »Ich glaube nicht, dass er Zeit für dich haben wird«, nahm der Pförtner mein Anliegen entgegen.

»Oder zu seiner Chefsekretärin, Frau Schmidt«, fügte ich an. Die musste damals schon hier gewesen sein. »Oder von mir aus auch zu Herrn Bürger, dem Chef der Buchhaltung«, entfuhr es mir, der hatte mich damals eingewiesen, war auch schon lange Jahre hier angestellt gewesen, bevor ich hier angefangen hatte.

»Du willst ja hoch hinaus, kennen dich die denn alle?«, fragte er erstaunt.

Ich war versucht zu nicken, aber das stimmte ja noch nicht, sie würden mich erst kennenlernen, in gut zehn Jahren! »Bitte lassen Sie mich hinein, ja?«, sagte ich. »Es ist wichtig!« Ich schien ihn überzeugt zu haben, allein dadurch, dass ich die Namen diverser Entscheidungsträger des Unternehmens kannte.

»Guten Morgen, Herr Börner«, hörte ich hinter mir eine wohlbekannte Stimme.

Ich drehte mich um. »Lisa«, sagte ich. Die Frau, die hinter mir stand und nun durch die Eingangstür wollte, sah mich erstaunt an.

»Kennen wir uns?«, fragte sie.

Sie sah gut aus. Lisa Brenner, sie war drei Jahre älter als ich und hatte hier eine kaufmännische Ausbildung absolviert, bevor sie dann auf Dauer in die Buchhaltungsabteilung übergewechselt war. Lange, dunkle Haare, schmales Gesicht, ungefähr 1,60 Meter groß, weiße Bluse, roter Minirock, weiße Stiefel. So hatte ich sie nicht in Erinnerung, aber sie gefiel mir auf Anhieb.

»Noch nicht«, entgegnete ich und wurde rot. Platte Anmache.

Sie lachte und maß mich von oben bis unten. Irgendwie war klar, dass ich ihr etwas zu jung vorkommen musste. »Woher kennst du meinen Namen?«, fasste sie nach.

»Er will zum Chef«, sagte der Pförtner. »Ersatzweise auch zu Frau Schmidt oder Herrn Bürger. Nehmen Sie ihn mit hoch, Fräulein Brenner?«

Sie nickte. »In Ordnung, komm mit«, sagte sie in meine Richtung gewandt. »Ich will aber wissen, woher du mich kennst!« Wir stiegen zusammen die Treppen empor.

Viele Treppen, vier Geschosse, bis ins oberste Geschoss, hier war die Chefetage, gleichzeitig war hier auch die Buchhaltung untergebracht. »Wen bringen Sie uns denn da, Fräulein Brenner?«, fragte Frau Schmidt, als wir oben angelangt waren.

»Keine Ahnung, Frau Schmidt«, entgegnete Lisa. »Er will zum Chef.«

»Zum Chef?«, fragte die Chefsekretärin irritiert nach.

Ich nickte. »Es hört sich für Sie sicherlich etwas merkwürdig an, aber ich kenne ihn, Sie und auch noch so einige andere Menschen, die hier arbeiten. Ich möchte Ihnen etwas über die nahe Zukunft berichten.«

Die Chefsekretärin sah mich von oben herab über ihren Brillenrand an. Sie wusste nicht so recht, wie sie mit mir umgehen sollte. In ihren Augen musste ich einen durchaus gepflegten Eindruck machen, ich hatte mich in meine besten Klamotten gesteckt. Mein Anliegen war trotzdem äußerst ungewöhnlich.

»Sie trinken morgens immer eine ganze Kanne Kaffee, vorher sind Sie äußerst unleidlich, da geht man Ihnen am besten aus dem Weg«, sagte ich forsch. »Herr Bürger kommt regelmäßig immer eine Viertelstunde zu spät ins Büro, als Chefbuchhalter kann er sich das leisten und der Chef hat in seinem Schreibtisch eine Flasche Cognac versteckt, unten rechts in der Schublade.« Mein Wissen lag von hier aus gesehen zehn Jahre in der Zukunft, ich vertraute darauf, dass die Gewohnheiten bereits jetzt vorlagen.

Lisa und Frau Schmidt starrten mich entgeistert an.

»Hat der Chef sich bereits das Bein gebrochen?«, fragte ich unvermittelt weiter. »Er erzählt die Geschichte immer und immer wieder. Er ist im Treppenhaus ausgerutscht und eine ganze Treppe hinuntergestürzt, ich bin mir nicht sicher, wann das war, aber es muss in den späten Siebzigern gewesen sein.«

»Junger Mann, was ist das für ein Unsinn?«, fuhr mich die Chefsekretärin an. »Fräulein Brenner, bringen Sie ihn hinaus«, wies sie Lisa an.

Ich hatte überzogen, mein Plan war hin. Ich griff in meine Hosentasche, holte ein Blatt Papier heraus. »Hier, meine Adresse und Telefonnummer, ich habe alles darauf notiert. Außerdem noch ein paar Ereignisse, die bald eintreten müssten.« Ich blickte verzweifelt zu Frau Schmidt hinüber. »Mogadischu, die Entführung der Landshut ...«, ich sah in ihren Augen, dass sie mir nicht mehr folgen wollte. Auch meinen Zettel nahm sie nicht entgegen. Ich ließ mich von Lisa hinausführen.

Schweigend gingen wir die Treppen wieder nach unten. Auf dem vorletzten Treppenabsatz hielt sie mich am Arm fest und sah mir in die Augen. »Woher kennst du mich?«, fragte sie. »Was soll das Ganze?«

»Schwer zu erklären«, entgegnete ich. »Dazu brauchen wir mehr Zeit.« Ich ergriff die Chance und hielt ihr mein Blatt Papier hin. »Wenn du willst, ruf mich an, wir treffen uns dann und ich erklär dir alles.« Sie nahm den Zettel wortlos entgegen und komplimentierte mich hinaus.

Zurück nach Hause benötigte ich ebenfalls wieder Stunden, ich kam zumindest einigermaßen rechtzeitig zu Hause an, sodass meine Mutter davon ausgehen konnte, dass ich in der Schule gewesen sein musste. Eine Entschuldigung zu fälschen fiel mir nicht schwer, darin hatte ich mehr als genug Übung.

Es dauerte lange, ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben, aber im Oktober 1977, genauer gesagt, am 14. Oktober läutete bei uns das Telefon. Meine Mutter nahm ab und rief mich dann. »Eine Lisa für dich«, ihre Stimmlage drückte Neugier aus, es war das erste Mal, dass mich ein Mädchen anrief.

Ich verfluchte die Technik der Siebziger. Unser Telefon stand im Flur, direkt neben der Wohnungseingangstür. Zentral zu erreichen, jeder, der sich in Küche oder Wohnzimmer befand, hörte das komplette Gespräch mit, da das Kabel, mit dem das Gerät mit der Wandbuchse verbunden war, nur etwa einen Meter lang war und sich somit nicht mitnehmen ließ.

»Ja«, sagte ich nur.

»Thomas?«, fragte Lisas Stimme.

»Ja«, erwiderte ich erneut.

»Woher wusstest du das? Woher kennst du mich? Muss ich jetzt zur Polizei gehen?« Sie klang aufgeregt, sehr aufgeregt. An die Möglichkeit, dass ich in Schwierigkeiten, in erhebliche Schwierigkeiten kommen könnte, hatte ich nicht gedacht.

»Können wir uns treffen?«, fragte ich sie. Stille am anderen Ende der Leitung war die Folge meiner Frage. Ich fasste noch einmal nach. »Soll ich nach Duisburg kommen?«

»Nein«, entgegnete sie. »Ich komme zu dir. Ich habe meinen Führerschein gemacht, habe ein kleines Auto. Ich komme nach Kettwig. Da gibt es doch sicher irgendwo ein Café?«

Wir verabredeten uns für den kommenden Samstag in der Kettwiger Altstadt. Meine Eltern mussten erneut damit klarkommen, dass ich nicht mit zu den Großeltern gehen konnte, das hier war einfach wichtiger, was mein Großvater sicherlich nicht verstehen, geschweige denn akzeptieren würde, aber das war mir egal. Ich konnte mir regelrecht vorstellen, wie er toben würde, weil ich es wagte, nicht zu erscheinen.

Sie sah phantastisch aus. Das lange, dunkle Haar zu einem Pferdeschwanz gebunden, saß sie mir im Café gegenüber. Ich hatte nur Augen für diese Frau. Es musste schon ein wenig seltsam für die anderen Gäste anmuten, für ein Paar waren wir beide doch noch zu unterschiedlich. Ich mochte vielleicht als ihr kleiner Bruder durchgehen, mehr aber auch nicht.

Wir hatten uns vor dem Café getroffen und saßen nun inmitten älterer Damen an einem Fensterplatz. Vor mir stand eine Tasse Tee, sie hatte sich Kaffee und ein Stück Obstboden bestellt. »Ich habe nicht viel Geld«, stotterte ich. »Mein Taschengeld reicht gerade mal dafür«, ich wies auf den Tee.

Sie grinste. »Wir befinden uns in den Siebzigern, da geht es durchaus modern zu«, erwiderte sie. »Ich lade dich ein.«

Wenn du wüsstest, dachte ich im Stillen und nickte dankbar. An dieser desolaten Situation mit dem Geld musste ich schleunigst etwas ändern.

»Also, raus mit der Sprache«, sagte sie dann unvermittelt. »Woher kennst du mich? Woher wusstest du das mit der Flugzeugentführung? Beim Sturz des Chefs kannst du ja deine Finger nicht im Spiel gehabt haben. – Das ist übrigens das einzige, das mich davon abhält zur Polizei zu gehen«, fügte sie noch an.

Ich lehnte mich im Stuhl zurück, schloss kurz die Augen und überlegte, ob ich ihr wirklich die Wahrheit erzählen sollte. Was konnte mir denn schon passieren?, überlegte ich. Im Extremfall stand sie einfach auf und ging. Selbst wenn sie zur Polizei gehen würde, was hätte sie denn in der Hand? Einen Zettel, auf dem ich notiert hatte: 1977 Mogadischu, Entführung des Flugzeuges. – Nun, das war seit gestern weltbekannt, also, was hatte ich zu verlieren? – Ich erzählte ihr alles.

Sie stand nicht auf und ging nicht, vielmehr blieb sie lange sitzen und dachte nach. »Starker Tobak, den du mir da auftischst«, sagte sie dann nach einer Weile. »Aber ..., in Ordnung. Was machen wir jetzt daraus?«

Ich war mir selber nicht sicher. Das Problem mit dem Vorauswissen war, dass ich zwar vieles wusste, aber eben nicht, wie man damit zu Geld kommen konnte. Außerdem war mein Wissen, was konkrete Daten anging, doch recht beschränkt. Was mochte es im Jahr 1977 bringen, zu wissen, dass sich die FDP 1982 von der SPD abwenden und so Helmut Kohl Kanzler werden würde? Das war so ein Datum der relativ nahen Zukunft, das sich mir eingeprägt hatte. Das war die erste Bundestagswahl gewesen, zu der ich meine Stimme abgegeben hatte. – Aber ..., ließ sich daraus etwas machen?

 

Wir beschlossen, dass ich weiter zur Schule gehen sollte. Wir trafen uns dann regelmäßig am Wochenende, wobei Lisa mich ausfragte. Alle möglichen Details kamen zu Tage. Bill Gates mit Microsoft, fiel mir beispielsweise ein. Konnte man sich nicht an den Zug dranhängen? Mir schwebte vor, Lisas Chef dazu zu bewegen, ein größeres Investment zu tätigen. Microsoft würde sich bestimmt gut dazu eignen, aber wie kam man an Gates ran? Und vor allem, wie weit war er denn 1977 bereits gewesen? Brauchte er denn zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch einen Partner aus good old Germany? – Irgendwie passte das alles nicht. Und die Lottozahlen der kommenden Woche fielen mir partout nicht ein!

Die Schule ging etwas besser als seinerzeit. Ich konnte mich tatsächlich überwinden, etwas mitzumachen. Ja, mir gelang auf dem Zeugnis sogar ein Dreierschnitt. Vor allem aber machte es mir Spaß, mich für all die kleinen Gehässigkeiten zu rächen, die mir einzelne Mitschüler angetan hatten. Vor allem dieser Lars, ein schmächtiger Junge aus einer der Parallelklassen. Den hatte ich gehasst, allerdings erst Jahre später. 1978 hatte ich noch überhaupt keine Berührungspunkte mit ihm. Erst in der Oberstufe hatten wir dann Kurse zusammen und da war er mir gegenüber mehr als arrogant und ziemlich ekelhaft aufgetreten. – Der arme Kerl, ich hatte wirklich fast so etwas wie Mitleid mit ihm, wusste überhaupt nicht, was ihm geschah, als ich ihm auf dem Nachhauseweg auflauerte, seine Schultasche wegriss und über die Friedhofsmauer warf. Er wagte nicht einmal, sich zu wehren, ich war körperlich größer und hatte genug Selbstvertrauen, um ihm einen gehörigen Schrecken einzujagen.

Friedhofsmauer? Ich blieb überrascht stehen. Jetzt war ich bereits monatelang hier meinem Schulweg gefolgt und erst jetzt fiel mir auf, dass der Friedhof entlang der Brederbachstraße von einer rund drei Meter hohen Backsteinmauer eingefasst war. In meiner Erinnerung war das anders gewesen. Schmiedeeiserne Gitter, ja, daran erinnerte ich mich genau! Hier war so einiges anders, als in meiner Erinnerung, nicht nur, dass die Werke bekannter Autoren von diesem Randolph Zoran geschrieben worden waren. Es gab auch diese anderen, kleinen Änderungen im Detail. Ich konnte mir keinen Reim darauf machen. Die einzige logische Erklärung war, dass es andere wie mich geben musste, die sich an ihr früheres Leben erinnerten. Sollte ich versuchen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen? Zusammen könnten wir bestimmt mehr erreichen, als als einzelne Individuen. Aber, was zum Teufel, hatte denn dann diese Mauer zu sagen? Das ergab doch keinen Sinn. Welche Art von Vorauswissen würde denn dazu führen, hier eine Backsteinmauer anstatt der schmiedeeisernen Gitter anzubringen? – Ich gab es auf, darüber nachzudenken.

Die Jahre zogen ins Land, ich sah Lisa tatsächlich nach wie vor an jedem Wochenende. Meine Eltern hatten sich bereits daran gewöhnt. Irgendwann, ich war mittlerweile zwanzig Jahre alt, hatte meine Schule abgeschlossen und eine Lehre bei Peter Wilhelm Groß begonnen, zogen wir dann zusammen. Etwas wirklich elementares, mit dem wir Geld hätten machen können, fiel mir nicht ein. Unseren Chef hatten wir ebenfalls nicht dazu bewegen können, mit irgendeiner Information etwas anzufangen. Er war zwar sehr erstaunt, ob meiner Vorhersage hinsichtlich der deutschen Einheit, glaubte aber nicht im Mindesten daran, bis sie dann plötzlich da war.

Wir verlebten eine glückliche Zeit, einmal, ich war ungefähr dreißig Jahre alt, hatten Lisa und ich einen heftigen Streit. Wir waren unterwegs, verbrachten einen schönen Sommertag in Kettwig an der Ruhr, als ich mitten in der Menschenmenge eine Frau anstarrte, die uns, einen Kinderwagen schiebend, am Ruhrufer entgegen kam. – Meine Frau! In Begleitung eines Mannes und zweier anderer Kinder, die fröhlich vergnügt neben dem Kinderwagen herliefen. Ich starrte minutenlang auf diese Szene, drehte mich sogar um, als die kleine Gruppe an uns vorbeigegangen war. Der Mann drehte sich auch um und sah mich irritiert an, ging dann aber wortlos weiter.

Lisa war sauer, mehr als sauer. »Peinlich war das, und unverschämt! Liebst du sie immer noch? Das ist doch jetzt lange genug her!«, geiferte sie. »Geh doch zu ihr, dann wirst du sehen, was du davon hast!«, schrie sie mich eifersüchtig an. Irgendwie überstand unsere Beziehung diesen Streit, auch wenn seitdem nichts mehr wie vorher war.

Kinder hatten wir keine. Wir lebten unser Leben, ich mittlerweile als Buchhalter, sie als Sekretärin. Es war nichts Außergewöhnliches und irgendwann wurde ich fünfzig. Wenige Tage nach meinem Geburtstag kam ich dann nach Hause, Lisa war noch nicht da. Die Schwüle war drückend, mir war auch ein wenig übel. Jahre, ja Jahrzehnte hatte ich nicht mehr daran gedacht, das war ein Fehler gewesen. Ich schleppte mich zum Telefon, die 112 konnte ich noch wählen. Der Notarzt sei unterwegs, wurde mir versichert, als ich zusammenbrach. Mir wurde schwarz vor Augen. Mein letzter Gedanke war, dass ich, verflucht noch mal, nicht daran gedacht hatte Lottozahlen auswendig zu lernen.

Thomas nahm den letzten Schluck aus seinem Bierglas und sah mich direkt an. »Du hältst mich für verrückt, nicht wahr?«, fragte er.

Ich wusste nicht so recht, was ich sagen sollte. »Starker Tobak«, entgegnete ich dann.

Glücklicherweise kam Joaquin zu uns, stellte ein neues Glas vor mir ab und sagte: »Du sprichst mit einem bedeutenden Mann« und eilte zu einem anderen Gast weiter, so als ob Not am Manne wäre.

Sicherheitshalber drehte ich mich um und blickte noch einmal in den Schankraum. Nein, wir waren allein an der Theke, mit uns sprach niemand, niemand hatte die Absicht, sich zu uns zu setzen. – Wenn Joaquin nicht Thomas meinte, konnte er nur sich selbst meinen. Erleichtert lehnte ich mich zurück, genoss mein Bier und wartete den Augenblick ab, in dem er uns die neueste Verschwörungstheorie mitteilen würde. Wir mussten nicht lange warten, nachdem er den anderen Gast bedient hatte, kam er zu uns zurück.

»Zeitreisende nehmen nur Kontakt zu unbedeutenden Menschen auf, ist dir das klar?«, fragte er mich sodann. Thomas ignorierte er geflissentlich.

Ich schüttelte den Kopf, mir war noch kein Zeitreisender begegnet.

Etwas verärgert ob meiner Reaktion vertiefte Joaquin meine Kenntnisse: »Wenn sie mit bedeutenden Zeitgenossen Kontakt aufnähmen, dann liefen sie doch Gefahr, dass sich die Zeitlinie verändert! Deshalb scheuen sie den Kontakt zu wirklich wichtigen Männern und Frauen. Mit unbedeutenden Menschen, die nicht den Einfluss auf das Weltgeschehen haben, mit denen nehmen sie Kontakt auf, ist doch klar!«, sein Gesicht strahlte vor Freude ob seiner Erkenntnis. »Mit mir hat noch keiner Kontakt aufgenommen«, flüsterte er dann, ergriff ein neues Bierglas, um dies einem gerade die Bar betretenden Gast zu kredenzen. Verblüfft aufgrund seiner unschlagbaren Logik widmete ich mich wieder meinem Bier.

»Willst du wissen, wie es weiterging?«, fragte Thomas in die sich ausbreitende Stille hinein. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass er noch weiter erzählen würde.

Die zweite Wiederholung

Mein Vater strich mir sanft mit der Hand über den Kopf. »Du musst aufstehen«, sagte er dann, das uralte Ritual wiederholend.

Der Lichtschein aus dem Flur traf meine Augen. Ich nickte, stand auf und achtete sorgsam auf die Legosteine. Ich eilte ins Bad, verrichtete meine Notdurft und versuchte allen Ernstes danach noch ein wenig an den Mathehausaufgaben zu arbeiten, bis ich mich, ohne Rücksicht auf die Ermahnungen meiner Mutter zu nehmen, doch zu frühstücken, auf mein Rad schwang und zur Schule fuhr.

An der Brederbachstraße angekommen machte ich eine Vollbremsung. Die Mauer war weg. Da war wieder das schmiedeeiserne Gitter, innerlich frohlockte ich. Ich hatte zwar noch keinen Plan, aber es schien mir so, als ob ich zu Hause angekommen sei.

Um die Straßenecke bog gerade ein Junge, Lars! Der arme Kerl, er wusste nicht, wie ihm geschah. Ich kam von hinten, riss seine Schultasche von der Schulter, warf sie über den Zaun auf den Friedhof und fuhr weiter zur Schule. Während der kurzen Fahrt bis zum Gymnasium kam mir in den Sinn, dass er sich vielleicht an mir gerächt hatte, als er mich in meinem ersten Leben gemobbt hatte, machte das Sinn?

Egal, ich musste noch die Hausaufgaben abschreiben, es war ein anstrengender Tag, aber meine Quote war etwas besser als beim letzten Mal.

Den Nachmittag verbrachte ich sofort in der Stadtbücherei. Nicht wirklich, um mir dort Bücher auszuleihen. Nein, ich vergewisserte mich, dass die Titel zu den richtigen Autoren passten. Versuchte mich zu erinnern, welche Bücher zu dieser Zeit noch nicht geschrieben worden waren. Da stand der Herr der Ringe in gewohntem Umfang. Andere Werke anderer Autoren waren entweder vorhanden, richtigerweise mit dem richtigen Verfasser oder sie waren eben noch nicht vorhanden, weil die entsprechenden Autoren sie noch nicht geschrieben hatten, bzw. noch schreiben würden. – Ich hatte einen Plan!

Den umzusetzen sich als nicht gerade einfach erwies. Es fing damit an, dass ich meiner Mutter ihre alte Schreibmaschine abschwatzen musste. Papier in ausreichender Menge war auch nicht so einfach aufzutreiben, aber nach ein paar Tagen brachte mir mein Vater aus dem Büro einen Stapel alter Briefbögen mit, die nicht mehr verwandt werden konnten, da der Vorstand gewechselt hatte. So tippte ich, was das Zeug hielt. Im Grunde musste ich ja nur abschreiben.

Alien, aus meiner Feder, wurde vom Heyne Verlag angenommen. Ich war gerade noch rechtzeitig damit gewesen. Das erste Paket mit meinen Büchern auszupacken, war wie ein Fest. Genauso hatte ich es mir vorgestellt, seit ich damals, in meinem ersten Leben, das erste Mal den Film zurück in die Zukunft gesehen hatte. Seit damals spukte es mir im Kopf herum, diese Szene selbst zu erleben, in der der Vater, am Ende des Films, das Paket mit seinen Romanen öffnet. Seltsam, ich weiß. Vor allem deshalb seltsam, weil es ja nicht wirklich meine Bücher waren. – Aber was meinst du, von wem so manches Buch stammt, dass du heutzutage so auf den Bestsellerlisten findest? Du würdest staunen.

Egal, das Lied von Eis und Feuer schloss sich dann an. Danach stürzte ich mich auf das Werk von Jack McDevitt, die Legende von Christopher Sim wurde ein Bestseller. Ich hatte meinen Weg gefunden und das ganz ohne Lottozahlen, Randolph Zoran sei Dank.

Als Wunderkind gehandelt, trat ich in diversen Fernsehshows auf und präsentierte dort meine Bücher, immer ein wenig in der Angst lebend, dass irgendwann jemand im Publikum aufstehen und »Plagiat« rufen würde – aber warum sollte das geschehen? Ich war früh genug dran mit meinen Werken.

Alien wurde verfilmt, es wurde ein Erfolg. Star Wars hatte ja den Weg geebnet. Ich sonnte mich in dem Erfolg. Mit achtzehn hatte ich bereits meine zweite Million zusammen, das war ja recht einfach gewesen.

Dann kam der Absturz. Alkohol und Drogen, trotz meiner mittlerweile doch eigentlich ausreichenden Lebenserfahrung verfiel ich zusehends. Ich hatte versucht, ein eigenes Werk zu verfassen, nicht mich bei anderen Schriftstellern zu bedienen – und war grandios gescheitert! Mein Buch, mein erstes eigenes Buch, kam bei Kritikern und beim Publikum einfach nicht an. Sicherlich, es verkaufte sich trotzdem, wurde aber nicht gelesen. Das Buch lag auf den Bestsellertischen, wurde gekauft, verschenkt, aber nicht gelesen! Niemand setzte sich in der ihm gebührenden Form mit ihm auseinander. Für mich war es ein Schlag. Mein Werk wurde nicht anerkannt, ich flüchtete mich für mehr als zehn Jahre in einen nebelverhangenen Alptraum aus Alkohol, Tabletten und noch einigen anderen Sachen, aus dem ich glücklicherweise irgendwann doch wieder herausfand. Die Schriftstellerei hatte ich trotz allem an den Nagel gehängt.

Ich versuchte etwas anderes, biederes, ich begann mit etwas über dreißig Jahren mit einem Maschinenbaustudium, das ich mehr schlecht als recht irgendwann abschloss. Gearbeitet habe ich nie, weder als Ingenieur noch sonst wie.

Mein Leben danach verlief kaum noch geradlinig. Ich versuchte einmal mit Lisa Kontakt aufzunehmen, aber die lebte ihr eigenes Leben, da war nichts zu machen. Frauen gab es, ja, die gab es zu Hauf, aber keine wirkliche Partnerschaft. Ich ging allein durchs Leben.

 

Mit fünfundvierzig Jahren erinnerte ich mich an den bevorstehenden Herzinfarkt. Ich ließ mich durchchecken, einen Stent einsetzen und durchlief noch einmal kurz vor meinem fünfzigsten Geburtstag einen kompletten Checkup, die Ärzte versicherten mir, dass alles in Ordnung sei. – Es geschah trotzdem, ich kam nicht einmal dazu, den Notarzt zu alarmieren.

Thomas gönnte sich wieder einen Schluck aus seinem Bierglas und sah mich lange an. Ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Er sah mich prüfend an, wollte weiter erzählen, das merkte ich. Allerdings hatte er sein Glas mittlerweile geleert, sodass Joaquin, aufmerksam wie er war, mit einem neuen vor uns stand.

»Ich bin ein wichtiger Mensch, habe ich dir das schon gesagt?«, merkte er an.

Ich nickte, in letzter Zeit erzählte er seine Geschichten immer öfter. Wahrscheinlich hatte er den Überblick verloren, wen er mit welcher Geschichte bereits beglückt hatte. Aber hier bot sich für mich eine Gelegenheit.

»Ich bin kein wichtiger Mensch«, antwortete ich, als er sich schon von mir abgewandt hatte.

Geradezu elektrisiert drehte er sich wieder zu mir herum und musterte mich eingehend. »Du hast Kontakt gehabt?«, fragte er. Seine Augen bohrten sich geradezu in mich hinein.

Ich kostete den Moment richtiggehend aus. Sollte ich ihm von Thomas erzählen? – Nein, mir war da etwas anderes in den Sinn gekommen.

»Mit einem Zeitreisenden?«, fragte er flüsternd und auch ein wenig ungläubig.

Ich nickte erneut und führte dann aus: »Eine meiner Angestellten hat mir von ihrer Zeitreise berichtet. Sie war über die Weihnachtstage in England. Auf dem Hinflug und auf dem Rückflug betrug die Zeitverschiebung jeweils eine Stunde vor bzw. zurück ...« Weiter kam ich nicht, er drehte sich abrupt um und widmete sich anderen Gästen. Joaquin mag es nicht, auf den Arm genommen zu werden, dabei war ich so stolz auf meine Idee gewesen und hatte eigentlich erwartet, dass er darauf anspringen würde.

Joaquin war dennoch nicht nachtragend. Wenig später kam er zu uns zurück und raunte mir zu: »Passt auf, was ihr sagt, ich werde abgehört!«

Erstaunt blickten wir ihn an. »Abgehört?«, fragte ich.

»Ja«, bekräftigte er. »Übers Internet. Dahinten in der Ecke.« Etwas diffus wies er mit seiner Hand hinter die Theke.

»Aber, Joaquin«, wagte ich einzuwerfen, »du hast doch überhaupt kein Internet.«

»Die machen das trotzdem«, erwiderte er. »Da hinten, in der Ecke, da sollte mal ein Internetanschluss verlegt werden und jetzt knackt es da immer, das ist doch wohl Beweis genug oder etwa nicht?«

Thomas verdrehte die Augen, er war kurz davor aufzustehen und zu gehen.

Ich versuchte noch einen Anlauf. »Das kann doch auch das Holz der Theke sein, das sich ausdehnt«, schlug ich vor.

»Nein, nein«, sagte Joaquin mit seiner Besserwissermiene auf dem Gesicht. »Das Knacken kenne ich, das ist wie damals, in dem Telefonat mit meinem alten Kumpel. Der wurde auch abgehört. Schließlich hatte der Zoll ja mitgekriegt, dass der immer zu verbotenen Forschungen ins Ausland fuhr! – Du weißt schon, verbotene Archäologie und so. Da wird ja heutzutage vieles von den Außerirdischen in die Schuhe geschoben, aber für alles kann man die ja auch nicht verantwortlich machen. Da gab es ja schließlich noch menschliche Zivilisationen vor unserer, die viel weiter waren als wir!«

Das war mal wieder eine typische Beweisführung à la Joaquin, wirklich entgegnen konnte man da nichts. »Du bist demnach Geheimnisträger und wirst abgehört«, sagte ich.

Er nickte. »Ja«, bestätigte er. »Bei den Amerikanern, da geht ja auch nicht alles mit rechten Dingen zu«, führte er dann weiter aus. »Da gibt es doch diese Straße, die Route 666 ...«

»Du meinst die Route 66«, wagte Thomas einzuwenden.

»Nein, nein«, entgegnete er. »Die 666, die geht von der 66 ab, die wiederum von der 6 abgeht. Die haben ein eigentümliches System, die Amerikaner. Aber das Wichtige ist doch, dass die 666 in Dulce endet, warum denn ausgerechnet in Dulce?«

Wir verstanden nur Bahnhof, was wir dadurch zum Ausdruck brachten, dass wir ihn einfach nur anstarrten.

»Ich meine«, sagte er dann. »666, das ist doch die Zahl des Tiers, die des Teufels, steht doch in der Bibel. Und die endet in Dulce, stellt euch das mal vor! Das ist doch ein Fingerzeig!«

»Was ist denn in Dulce?«, fragte ich mittlerweile doch etwas genervt.

Diesmal war es an Joaquin uns und im Besonderen mich, erstaunt anzusehen. »Das weißt du nicht? In Dulce ist doch diese Militärbasis, die mit den zig Stockwerken unter der Erde, wo sich die Amerikaner doch vor einigen Jahren auf einer der untersten Etagen mit den Außerirdischen diese blutige Schlacht geliefert haben. Da muss doch ein Zusammenhang sein, das geht doch gar nicht anders! Das habe ich übrigens gelesen, in mehreren Büchern. Also unterschiedliches Quellenstudium, da brauchst du jetzt gar nicht mit deinen merkwürdigen wissenschaftlich verbrämten Argumenten dagegen zu kommen.« Mit diesen Worten eilte er zu anderen Gästen weiter, die ein frisches Bier kredenzt haben wollten und ließ uns perplex zurück.

»Wie ging es weiter?«, fragte ich dann an Thomas gerichtet, um ihm den Weg leichter zu machen und den Einstieg wieder zu finden.

»Hast du dir schon einmal die Frage gestellt, warum es den Asteroidengürtel gibt?«, fragte er dann.

»Ich denke, dass die Bruchstücke, die da oben rumfliegen, ein verhinderter Planet sind«, erwiderte ich. »Ich glaube, das ist die vorherrschende Theorie.«

Er nickte bejahend. »Ja, aber warum gibt es ihn?«, fragte er nochmals nach.

Ich zuckte ratlos mit den Achseln

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