Der Kronzeuge

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Er hatte diese grausige Tat mitangesehen und das nur, weil er zufällig zur rechten Zeit am rechten Ort gewesen war. Was, wenn es anders gewesen wäre? Dann würde er jetzt mit Mr. Gettisburgh von ihrem Spaziergang zurückkehren und in die Mittagspause gehen. Mr. Gettisburgh erzählte immer gern aus seiner Vergangenheit als professioneller Rennfahrer, während er ruhig an seinem Stock neben Aiden herlief. Heute hatte er hoffentlich jemand anderen gefunden, dem er darüber berichten konnte. Aiden dachte über die vielen neuen Menschen nach, die er heute kennengelernt hatte. Die Polizisten auf der Wache, Sam Wilkins, Asali Sorkov, die ebenso eine Ruhe ausgestrahlt hatte wie es Mr. Gettisburgh tat. Aiden hatte diese Ruhe gut getan, aber jetzt war er allein.

In einem Hotel von diesem Gabriel Barone, den er nicht einschätzen konnte. Aidens Gedanken führten ihn wie von selbst zu dem toten Mann. Seine weit aufgerissenen Augen, in denen er das Weiße hatte sehen können, würde Aiden nicht so bald vergessen und auch das Röcheln und Gurgeln seines Atems und das dunkel glänzende Blut nicht. Schon jetzt schien alles wie ein Hintergrundgeräusch, das sich permanent unter alle anderen Geräusche der Umgebung mischte. Noch immer starrte Aiden auf die Verpackung in seiner Linken. In der Rechten hielt er seine Jacke. Nun ließ er beides sinken.

Noch nicht, beschloss er. Noch war nicht der richtige Zeitpunkt für ein Beruhigungsmittel. Er wusste nicht einmal, ob er hier bleiben würde. Ob das hier jetzt seine Unterkunft für die nächsten Tage sein würde. Fester schlossen sich Aidens Finger um die Blisterpackung. Er hatte das Richtige getan. Das einzig Richtige. Was auch immer das jetzt für ihn bedeuten würde. Für einen Moment konnte er sich wieder spüren. Aiden schob das Beruhigungsmittel zurück in seine Jackentasche.

Er würde gern duschen. So richtig heiß duschen, den Schweiß des Morgens von seiner Haut waschen. Doch anschließend würde er wieder in seine benutzte Kleidung steigen müssen und wenn er ehrlich war, konnte er sich darin schon selbst riechen. Eine Dusche wäre damit hinfällig, also ließ er die Jacke auf der Sessellehne liegen und trat vor das Fenster. Ob Cortez schon Bescheid wusste? Er konnte auf die Stadt hinabsehen. Irgendwo da draußen lag die Leiche des Mannes, dessen Mord er beobachtet hatte. Irgendwo da draußen lebte der Mann, der die Schuld an dieser Misere trug. Irgendwo wurde vielleicht eine Familie darauf aufmerksam, dass der Vater nicht ans Telefon ging. Oder der Bruder, der Mann, der Sohn. Vielleicht nur ein Angestellter. Aiden wusste nichts über diesen Mann, der umgebracht worden war, aber er war sich sicher, sein Tod würde nicht unbemerkt bleiben - genau wie sein eigenes Verschwinden.

Wieder dachte er an seine Schwester, an seine Eltern, seine Freunde und ihm fiel die Liste ein, die Sam Wilkins noch von ihm verlangt hatte. Leicht zog Aiden die Augenbrauen zusammen. Sie alle konnten gefährdet sein, wenn Cortez ihm auf die Schliche kam. Sie alle brauchten Schutz. Entschlossen öffnete Aiden die Bänder, die die Vorhänge zusammenhielten und mit einem kräftigen Ruck zog er sie vor die breiten Fenster. Er trat an den Schreibtisch, schaltete die Tischlampe mit dem dunkelgrünen Lampenschirm ein und zog einen Bogen des hoteleigenen Briefpapiers hervor. Er hob den ungewöhnlich schweren Kugelschreiber von der dunklen Tischplatte, sah auf das beleuchtete Papier. Dann begann er zu schreiben. Eine Liste seiner Freunde, selbst von denen, mit denen er weniger eng befreundet war.

Nicht alle Adressen hatte er im Kopf, bei einigen kannte er nur die Straße, aber nicht die Hausnummer, bei anderen nicht einmal die. Es dauerte eine gute halbe Stunde, bis sich Aiden sicher war, keinen vergessen zu haben und er betrachtete sein Werk. Hier und da waren Fragezeichen neben seiner engen, klaren Handschrift zu sehen. Leicht nickte er. Zumindest hatte ihn diese Liste beschäftigt. Der Stift hatte nicht mehr gezittert, als er ihn geschlossen und wieder abgelegt hatte. Und nun? Er drehte sich auf dem Stuhl und sah in das Hotelzimmer, das nun in gedämpftem Licht vor ihm lag.

Nach einigem Zögern schaltete Aiden doch den Fernseher ein, wählte aber einen Musiksender aus der Liste. Nicht einmal seinen MP3-Player hatte er hier - nichts. Keine Hygieneartikel, keine Kleidung, nichts, das an sein Leben vor dem Mord erinnerte. Als es irgendwann an der Tür klopfte, schreckte er zusammen, doch wie sich herausstellte, war es nur Asali, die ihm neue Kleidung und eine kleine lederne Reisetasche brachte. T-Shirts, Pullover, Jeans, Socken und Unterhosen für die nächsten Tage, alles in der Größe M. Aiden war es unangenehm, dass eine fremde Frau für ihn einkaufen gegangen war, aber die Situation ließ wohl nichts anderes zu, also bedankte er sich. Asali sah ihm fest ins Gesicht, nachdem ihr Blick kurz zu den zugezogenen Vorhängen geglitten war.

Sie strahlte eine innere Ruhe aus und Aiden wusste, ihre dunklen braunen Augen konnten ihm in die Seele sehen, so sehr er sich auch dagegen wehren wollte. Sie konnte die Angst sehen, die in ihm auf einen schwachen Moment wartete, die Unsicherheit ihr und Gabriel Barone gegenüber. Er war ihr dankbar, dass sie all das nicht ansprach. Nicht seit ihrer Frage nach seinem Befinden vorhin.

»Versuch’ ein wenig zu schlafen«, sagte sie nur. Der Tonfall war streng, also nickte Aiden, die Kleidung auf dem Arm, von der sämtliche Schilder bereits entfernt waren. Er legte alles auf dem Sessel ab, nachdem Asali den Raum verlassen hatte. Es machte ihn schier wahnsinnig, dass ihm niemand sagte, wie es weitergehen würde, also konzentrierte er sich auf das Hier und Jetzt, nahm eine Shorts aus dem Kleiderstapel, zog sich aus und ging ins Bad. Nicht einmal die heiße Dusche vermochte es, seine verkrampften Muskeln zu entspannen, aber wenigstens sorgte sie dafür, dass er wieder gut roch. Das Hotel bot Duschbad und Shampoo an, das Aiden benutzte und das nach Orange und Minze duftete. Er versuchte sich auf all diese Details zu konzentrieren, die seinen Kopf davon abhielten, über die wirklich wichtigen Dinge nachzudenken.

Aidens Blick fiel in den an den Rändern beschlagenen Spiegel und er hielt einen Augenblick die Luft an. Wer war dieser fremde, blasse, ängstlich schauende Mann darin? So kannte er sich selbst nicht. Er hatte sich für die Arbeit im Altersheim ein dickeres Fell angeeignet als er es noch während der Ausbildung gehabt hatte, doch von seinem Selbstbewusstsein und seinem sicheren Auftreten fehlte momentan jede Spur. Stattdessen hatte er rote Augen, unter denen sich der Schlafmangel dunkel abzeichnete. Seine Haut war blass, selbst die Lippen waren nur hauchzart gefärbt. Aiden sah sich selbst in die goldbraunen Augen, während er tief durchatmete.

»Also gut«, flüsterte er. »Du lebst noch.«

Die letzten Worte wiederholte er noch einmal, beinahe tonlos. Er nickte sich selbst zu, die Hände lagen auf dem kühlen Marmor des Waschtisches, fanden Halt in einer brüchigen Welt. Nur in der neuen Shorts und mit noch feuchtem Haar trat Aiden ins Wohnzimmer, zog sich eine Jeans und ein T-Shirt an. Das Shirt war vielleicht eine Spur zu groß und in die Jeans zog Aiden den Gürtel seiner eigenen Hose, doch ansonsten passten die Sachen gut.

Seine nackten Füße standen auf dem weichen Teppich, bis er sie mit Socken überzog. Kein Kribbeln, bemerkte er. Für gewöhnlich konnte er neue Jeans nicht tragen, da sie ein unangenehmes Kribbeln auf seiner Haut auslösten. Er musste sie immer einmal waschen, bevor er sie tragen konnte, doch das war hier nicht der Fall. Kein Kribbeln und Aiden fragte sich, woran das liegen mochte, ahnte aber bereits, dass das Preissegment eine Rolle spielen könnte. Vom Fernseher drang immer noch leise Musik und als sich Aiden jetzt im Schneidersitz auf die Couch setzte, umgab ihn ein völlig fremder Geruch. Orange und Minze, neue Kleidungsstücke, in denen ein undefinierbarer Ladengeruch haftete.

Schwer schluckte Aiden. Seine eigene benutzte Kleidung lag als flacher Stapel auf dem Schreibtischstuhl und er unterdrückte mit Mühe den Impuls aufzustehen und an seinem Shirt zu riechen. Er ließ sich von den Musikvideos berieseln, bis seine Gedanken ihn wieder einmal in ihren Sog zogen. Bisher war er nie so nah an einem Verbrechen gewesen wie heute. Er selbst vermied es sogar, bei rot über eine Ampel zu gehen oder irgendwelche Rechnungen zu spät zu bezahlen und nun das. Womit hatte er das eigentlich verdient? Wieso gab es Menschen wie Cortez, die andere Menschen töteten? Aiden ließ seine Gedanken vorbeiziehen wie Wolken, betrachtete jeden einzelnen ohne genauer auf ihn einzugehen oder ihn zu untersuchen.

***

Gabriel Barones Schritte waren fest auf dem engmaschig gewebten Teppich, der in jedem Stockwerk verlegt war, um die Schritte vor den Zimmern zu dämpfen. Nur kurz nickte er den zwei Personenschützern zu, die vor dem Zimmer Posten bezogen hatten, dann zog er die Karte durch das Schloss und drückte die Tür auf. Er wollte nach Hause und er hatte keine Lust auf Verzögerungen. Asali hatte sich um den Welpen gekümmert, wie sie es zugesichert hatte und nun war es an ihm, seinen Teil der Abmachung einzuhalten und den Mann so lange am Leben zu erhalten, bis er gegen Cortez aussagen konnte.

Die Tür sprang ohne irgendeine Vorwarnung auf und vertrieb Aidens Gedankenwolken wie ein aufziehender Sturm. Ein großer Schatten erschien in dem kleinen Flurbereich und Aiden erkannte seinen Gastgeber selbst im Halbdunkel des Zimmers, als dieser in den Wohnbereich trat. Er war sich sicher, dass er die einnehmende Aura, die von Barone ausging, nie mehr vergessen würde. Gespannt sah er zu dem Mann auf, immer noch im Schneidersitz.

Gabriels Blick fiel auf den Mann, der es sich auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Er trug neue Kleidung. Und deutlich hochwertiger als die, die er noch zu Beginn des Tages getragen hatte. Asali verstand ihr Handwerk.

 

»Wir gehen«, sagte Gabriel knapp und hoffte, dass der junge Mann nicht von der langsamen Sorte war.

Wie von einem Marionettenspieler gesteuert erhob sich Aiden und verfluchte sich im nächsten Moment dafür. Sein Körper reagierte in diesem Angstzustand auf jede Ansage, die Gabriel Barone machte, obwohl Aiden das nicht wollte. Mit kraus gezogener Stirn schlüpfte er in seine Jacke und sammelte die Kleidung ein, sowohl alte als auch neue.

»Wohin gehen wir?«, fragte er, als er in seine Turnschuhe schlüpfte.

»Zu mir«, antwortete Gabriel knapp.

Aiden schob die Kleidungsstücke in die kleine Reisetasche, die Asali ihm von ihrem Einkauf für ihn mitgebracht hatte und hob sie vom Sessel. Direkt am Gerät schaltete er den Fernseher aus, bevor er sich einen Ruck gab und von unten in Barones Augen sah. Beinahe leuchteten sie wie Aquamarine im Halbdunkel. Gabriels Blick lag fest auf ihm.

»Gut.« Er nickte zur Tür und ging dann vor, hörte die Schritte Aidens hinter sich. Die zwei Personenschützer folgten ihnen in den Fahrstuhl und schließlich durch das Atrium des Hotels. Vor dem Hotel wartete der schwarze Wagen Gabriels und Frank, sein Fahrer, tippte sich mit zwei Fingern an die Stirn.

»Mr. Barone«, grüßte er und effizient wie er war, nickte er auch dem jungen Mann an dessen Seite zu, nahm ihm die Tasche ab, um sie im Kofferraum zu verstauen.

»Steig ein«, sagte Gabriel ruhig und deutete auf die andere Seite des Wagens, bevor er sich selbst auf die Rückbank schob und die Tür zuzog.

Wieder tat Aiden einfach, was ihm gesagt wurde. An das Herzklopfen in seiner Brust hatte er sich inzwischen gewöhnt und nur am Rande bekam er mit, wie die zwei Personenschützer selbst in ein Auto stiegen um ihnen zu folgen. Er landete auf weichem Leder, als er einstieg. Im Inneren des Autos roch es danach. Aiden kannte sich nicht gut mit Fahrzeugen aus, aber er war sich sicher, dass dieses Auto einiges mehr gekostet hatte als der gebrauchte Kombi, den sich seine Eltern im letzten Jahr zugelegt hatten. Noch nie war er mit einem Auto gefahren, das von einem Chauffeur gelenkt worden war. Während er sich anschnallte, sah er sich um. Getönte Scheiben, hochwertige, glänzende Armaturen. Plastik konnte er kaum entdecken. Dass Barone viel Geld hatte, hatte er ja geahnt, dennoch verschlug ihm die Präsenz dieses Reichtums den Atem und er war sicher, dass die Wohnung oder das Haus oder das Schloss oder was immer Barone bewohnte, dem Ganzen noch die Krone aufsetzen würde.

Es dauerte nur ein paar Sekunden bis Frank sich hinter das Steuer setzte und den Motor startete, um sich dann in den Verkehr auf der Happy Street einzureihen, nachdem er die Auffahrt des Hotels verlassen hatte.

Aus dem Augenwinkel warf Aiden einen Blick zu Barone, der seinerseits aus dem Fenster sah. Aiden wandte seine Aufmerksamkeit dem Fahrer zu.

»Es muss praktisch sein, hier nicht selbst fahren zu müssen«, wagte er sich zu sagen als sie auf der dicht befahrenen Happy Street drei Ampeln hinter sich gelassen hatten. Er wagte es kaum, den großen Mann neben sich anzusehen.

Gabriel hatte sich inzwischen in sein Smartphone vertieft und rief seine E-Mails ab als die unsichere Stimme an sein Ohr drang.

»Hm«, machte er nur kurz angebunden.

»Wie lange fahren wir denn?«

»Nur ein paar Minuten, Sir«, mischte sich jetzt Frank ein, der deutlich gesprächiger war als sein Chef.

Aiden sah nach vorn. »Oh. Gut.« Ein grau-grünes, freundliches Augenpaar begegnete ihm im Rückspiegel und Aiden versuchte ein Lächeln. »Wie heißen Sie?«

»Frank, Sir.«

»Und ist das Ihr Vor- oder Ihr Nachname?«, hakte Aiden nach.

»Mein Vorname, Sir.«

»Ich verstehe.« Kurz warf Aiden einen Blick zur Seite, doch Barone schien beschäftigt zu sein. »Haben Sie auch einen Nachnamen, Frank?«

»Ja, Sir. Aber Frank reicht vollkommen«, meinte der Mann und sah kurz durch den Rückspiegel, bevor er wieder auf die Straße achtete.

»Dann können Sie mich Aiden nennen.« Um Frank nicht weiter von seiner Arbeit abzuhalten, sah Aiden nun lieber aus dem Fenster. Die kurze Unterhaltung hatte ihn von der Anspannung abgelenkt, die ihn in Besitz genommen hatte, doch ganz würde er die verkrampfte Haltung nicht loswerden. Auf der Happy Street war um diese Zeit sehr viel los. Casinos, Hotels, Restaurants und Bars wechselten sich ab und die Leuchtreklame zog Aidens Aufmerksamkeit auf sich.

Gabriel konnte die Nervosität Aidens fast mit den Händen greifen und kurz sah er zu dem jungen Mann hinüber. Natürlich hatte er Angst. Er hatte einen Mord mit angesehen. Für einen Menschen, der nicht aus diesem Milieu kam, musste das ziemlich erschütternd sein. Dennoch. Das Seelenheil dieses jungen Mannes war nicht sein Problem. Er musste nur dafür sorgen, dass er lebend zur Hauptverhandlung erscheinen würde. Und das möglichst unversehrt.

Den Rest der kurzen Fahrt verbrachten sie schweigend, während Frank den Wagen sicher durch den Feierabendverkehr lenkte, hinein ins Hill-Valley. Einem Teil von Tribent, der sich durch High-Class-Wohngebäude und gediegene Shops auszeichnete, zusammen mit einem wundervollen Blick über die Stadt, da Hill-Valley auf einer Anhöhe gelegen war. Die Preise hier waren überirdisch, aber all das waren Dinge, über die sich Gabriel keine Gedanken machte, während er aus dem Wagen stieg und auf Aiden wartete.

Dieser verließ das Wageninnere und nahm Frank seine kleine Tasche ab, lächelte dem Mann zu. Er hatte schütteres schwarzes Haar und kaum war der Mann wieder eingestiegen, umgab Aiden die kühle Distanz Gabriel Barones, der sich nun in Bewegung setzte und durch gläserne Türen das Foyer eines Hochhauses betrat. Es wunderte ihn kaum, dass Barone ausgerechnet in diesem Viertel wohnte.

Gabriel nickte dem Portier kurz zu, welcher hinter einem Tresen saß und ging dann zum Fahrstuhl. In das Tastenfeld tippte er seinen Sicherheitscode ein und die Tür öffnete sich. Die Stille im Inneren des Fahrstuhls war einen Moment lang bedrückend. Bis Gabriel das Wort ergriff, während der Fahrstuhl in die oberste Etage fuhr.

»Eine Frage. Werden wir Probleme miteinander bekommen?«

Aiden erschrak beinahe, als Barone das Wort an ihn richtete. Bis jetzt hatte er auf die Tasche in seinen Händen gesehen, doch nun sah Aiden auf in das markante Gesicht neben ihm.

»Probleme?«

»Ja. Probleme. Wirst du versuchen abzuhauen? Zu telefonieren? Oder sonst irgendwelchen Mist anzustellen?«

Aiden hielt dem eisigen Blick stand und erwiderte ihn, obwohl ihm ein kalter Schauder über den Rücken rann. »Das weiß ich nicht.«

»Also muss ich dich an die Leine legen? Obwohl dein Leben davon abhängen kann?«

Leicht reckte Aiden das Kinn vor. »Nein... Ich...« Er schnaubte leise über sich selbst. »Was ist irgendwelcher Mist? Was ist mit Emails, Briefen, Postkarten?« Es musste doch irgendeine Möglichkeit geben, seine Familie und seine Freunde zu erreichen!

»Nichts dergleichen, Kleiner. Tote schreiben keine Briefe. Und genau das solltest du im Moment für deine Familie sein. Tot.«

Ich bin aber nicht tot, wollte Aiden schreien. Sollte es ihm wirklich unmöglich sein, jemandem mitzuteilen, dass es ihm gut ging? Wenigstens das? Nur eine kleine Information wie diese... Fester schlossen sich seine Finger um die Henkel der Tasche und er senkte den Blick.

»Nennen Sie mich nicht Kleiner«, protestierte er gegen das Einzige, was ihm übrig blieb.

»Bei guter Führung können wir darüber verhandeln, Kleiner«, sagte Gabriel und stieg aus dem Fahrstuhl, dessen Türen sich in diesem Moment öffneten.

Aiden biss die Zähne so fest aufeinander, dass es wehtat. Er sollte dankbar sein, dass ihn dieser Mann aufnahm, dass er ihn schützen würde, aber gerade verspürte er nur Wut, während er Barone folgte.

Die Wut war jedoch mit einem Schlag verflogen, als Aiden den Eingangsbereich der Wohnung betrat und Barone den Lichtschalter betätigte. Sie standen auf dem dunklen Holzfußboden eines Luxus-Penthouses, das sich angesichts der Treppe, die man ein Stück entfernt sehen konnte, über mindestens zwei Etagen zog. Die hohen, weißen Decken waren mit Spotlights ausgestattet, deren Licht ein Ensemble aus Grau-, Creme- und Brauntönen beleuchteten. Aiden wusste nicht, wo er zuerst hinsehen sollte. Er konnte hier und da einen Blick in weitere Räume erhaschen, da die Räume hintereinander angelegt waren. Bodentiefe Fenster hinter hellen Vorhängen, klare Linien und dann wieder beinahe verspielte Raumtrenner, die wie Gitterfenster den Blick in dahinterliegende Räume preisgaben.

»Ich glaub’, ich spinne«, entfuhr es ihm, als Barone ihn weiter in die Wohnung führte. Sitznischen und Salons schienen sich abzuwechseln und Aiden fragte sich, wofür man so viele Räume mit Sitzgelegenheiten brauchte - und sie befanden sich immer noch in der unteren Etage! Aidens Blick blieb an einem seltenen Farbtupfer hängen: Zwei senffarbene Sessel passten sich perfekt in die Erdtöne ein.

Barone öffnete eine Tür und deutete in das Zimmer dahinter. »Dein Schlafzimmer. Das Bad ist en suite.«

Jeder Raum strahlte für sich eine unglaubliche Eleganz aus. Kunstvoll gearbeitete, große Vasen und moderne Lampen auf Beistelltischen. Beinahe wäre Aiden in Barone hinein gelaufen, da er noch immer damit beschäftigt war, die vielen Eindrücke zu verarbeiten, die auf ihn einströmten. Doch er kam gerade noch rechtzeitig zum Stehen und trat an Barone vorbei in ein Schlafzimmer, das wohl als Gästezimmer diente.

Hier mischten sich goldene und violette Farbtupfer in das Gesamtbild. Helle Vorhänge vor einer Glasfront. Von dem riesigen Bett aus konnte man aus dem Fenster sehen. Eine Bank und ein Sessel dienten als Ablage, außerdem gab es einen Flachbildfernseher an der Wand und ein großes Gemälde, von dem Aiden sicher war, dass es ein Original war. Von wem auch immer. Ein großer Kleiderschrank mit Schiebetüren aus hellem Holz und stilvolle, silberne Nachttischlampen. Eine Tür führte in das Bad, war aber zum jetzigen Zeitpunkt verschlossen. Aiden konnte nur starren. Selbst der Teppich und die Bettwäsche wirkten hochwertiger als alles, was er in seiner vergleichbar winzigen Wohnung hatte.

»Du kannst hier tun und lassen, was du willst. Abgesehen davon, die Wohnung in Brand zu stecken oder versuchen, Kontakt zu deiner Familie aufzunehmen. Ich zeige dir noch das Wohnzimmer und die Küche. Der Rest der Wohnung ist Tabu für dich.«

Er deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich und führte Aiden dann hinaus zurück in den Flur und die Treppe hinauf in die obere Etage.

Aiden folgte Gabriel. Die Treppe war mit Glaswänden gesichert. Auch in der oberen Etage setzte sich der Stil der Wohnung fort. An einer Stelle war Marmor in den Boden gearbeitet und die Küche war unbeschreiblich. Eine Arbeitsplatte aus Granit hatte Aiden noch nie gesehen. Ein Tresen, an dem man auch sitzen konnte, teilte die Küche der Länge nach. Dahinter befand sich ein Essbereich. Überall herrschte eine beinahe sterile Atmosphäre. Lediglich auf dem Wohnzimmertisch, an dem er lag eine Tageszeitung. »Also...« Aiden schluckte, aber er musste nachfragen.

»Wohnzimmer, Gästezimmer und Küche?«

»Und die Bibliothek. Aber stell die Bücher wieder dahin, wo du sie vorgefunden hast.«

»Biblio... Ah.« Aiden spürte ein irrsinniges Lachen in sich aufsteigen, das er mit einem Räuspern unterdrückte. »Natürlich.« Unsinnigerweise trug er immer noch die kleine Reisetasche mit sich herum. »Also...« Seine Finger fühlten sich kalt an, als er sich durch das Haar strich. »Dann... pack ich mal aus.« Leicht hob er die Tasche an, sah zu Barone.

Mehr als ein Nicken bekam er nicht zur Antwort.

Aiden drehte sich auf den Hacken um und während er die Treppenstufen hinabstieg, spürte er Gabriel Barones Blick in seinem Nacken. Die Tür des Gästezimmers fiel leise ins Schloss und Aiden lehnte sich dagegen.

»Ich glaub’, ich spinne«, wiederholte er. Wo zum Geier war er hierhin geraten? Mit ganz viel Glück verlief er sich nicht zufällig in einen der verbotenen Räume. Er ließ die Tasche zu Boden fallen. Musste er überhaupt auspacken? Er wollte sich hier nicht einrichten, denn immer noch wollte er nichts sehnlicher, als nach Hause zurückkehren. In diese Welt gehörte er nicht! Vermutlich würde er Blumen in ein Kunstwerk stellen oder das Arrangement von Kissen durcheinander bringen. Vorsichtig setzte sich Aiden auf die Bettkante und atmete tief durch. Okay. Er musste nur ein paar Tage durchhalten. Nur ein paar Tage, dann konnte er flüchten und nie, niemals wiederkehren. Seine Finger strichen über den weichen Stoff der Bettwäsche, die Matratze unter ihm gab im genau richtigen Maß nach. Aidens Blick fiel auf die Tür zum Badezimmer.

 

Schnell erhob er sich, um dahinter zu sehen. Heller Marmorfußboden, schwarze Marmorwände. Eine geräumige ebenerdige Dusche, ein extra beleuchteter großer Spiegel über dem modernen Doppelwaschtisch, der Staumöglichkeiten bot. Selbst der Topf der weiß blühenden Orchidee passte ins Bild. Alles glänzte, von der Toilette bis hin zu jeder einzelnen Wand.

»Verdammter reicher Arsch«, murmelte Aiden. Auf dem Waschtisch standen zwei noch in Plastikfolie gehüllte Zahnbürsten in einem Glas bereit wie in einem Hotel. Ungläubig schüttelte Aiden den Kopf und erinnerte sich an die Reisetasche.

Vielleicht... Erleichtert stellte er fest, dass Asali auch an Duschbad, Shampoo und ein Deo sowie an Rasierer und Rasierschaum gedacht hatte. Alles roch natürlich nicht wie seine üblichen Pflegeprodukte, aber er war froh, überhaupt etwas zu haben und brachte die Sachen ins Bad. In den Schubladen fand er einen Föhn, Zahnstocher, Zahnpasta, eine weitere Rolle Toilettenpapier und sogar Haarbürste und Kamm. Wieder konnte Aiden nur den Kopf schütteln. Selbst Zahnseide war vorhanden.

Er ging zurück in das Schlafzimmer, schaltete den Fernseher ein. Alle Programme, selbst Prime TV. Unfassbar. Er schaltete das Gerät wieder ab, zog die Vorhänge auch hier vor die Fenster, vor denen inzwischen die Nacht hereinbrach.

Aiden starrte an die Decke als er schließlich im Bett lag. Das Essen mit Amy wäre jetzt längst vorüber. Er war sich sicher, dass seine Familie längst die Polizei eingeschaltet hatte. Die ihn natürlich nicht finden würde. Aidens Hände ballten sich zu Fäusten. Er war sicher, aber niemand durfte es wissen. Tot, hallte es durch seinen Kopf. Für alle war es besser, wenn er tot war. Doch er war nicht tot! Tief atmete Aiden durch, öffnete bewusst seine Hände, bevor der sich ankündigende Krampf Gewalt über seinen linken Arm bekam. Nur in Shorts und T-Shirt lag er hier. Er hatte keine Möglichkeit, seine Sachen zu waschen und die neuen rochen noch nicht nach ihm. Es war nur einer von vielen Gedanken in diesen Stunden. Als er das nächste Mal auf den Radiowecker sah, war eine knappe Stunde vergangen. Er fand in dieser Nacht keinen Schlaf.

***

Gabriel traf an diesem Abend noch ein paar Vorkehrungen, um sicherzustellen, dass der junge Mann in seiner Wohnung keine Möglichkeiten hatte, irgendetwas Dummes anzustellen. Er informierte den Portier, Carter, welcher heute Nachtdienst hatte, niemanden hinauf zu lassen, ohne ihn vorher anzumelden. Es sei denn, es handele sich um Asali und sie käme alleine. Der Personenschützer würde draußen vor dem Haus Stellung beziehen, um zu observieren, ob sich verdächtige Personen dem Haus näherten oder es ihrerseits observierten. Hier oben hatten sie im Grunde nichts zu befürchten. Nicht von außen, jedenfalls. Nicht im Moment. Er schaltete die Alarmanlage ein, bevor er zu Bett ging, die ihn warnen würde, wenn der Welpe versuchte auszubüchsen. Viel mehr gab es nicht zu tun und alles, was ihm blieb war, sich nach einer ausgiebigen Dusche ins Bett zu legen und sich mit dem Gedanken anzufreunden, jetzt die Verantwortung für ein fremdes Leben zu haben. Ein Gedanke, der ihm gar nicht passte und es passte ihm im Grunde auch nicht, diesen Aiden in seiner Wohnung zu haben. Aber sowohl der Detective als auch Asali hatten Recht. In seiner Nähe war Aiden sicher.

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