Aus meinem Leben - 3. Teil

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Im Grunde genommen wollte also das Zentrum noch mehr, als das Sozialistengesetz ihm bot; es wollte die allgemeine Verschärfung der Gesetze, die allgemeine Reaktion.

Der erste Redner für die Vorlage war der Abgeordnete Freiherr Marschall v. Bieberstein, der spätere Staatssekretär des Auswärtigen Amtes und zuletzt Gesandter in Konstantinopel und London. Marschall, eine große, stattliche Persönlichkeit, war zu jener Zeit Staatsanwalt in Mannheim, wo er als öffentlicher Ankläger auch wiederholt gegen Parteigenossen auftrat, so unter anderem gegen Franz Joseph Ehrhart. Diese Anklage gab Veranlassung zu einer heiteren Episode. Ehrhart war angeklagt, ein Plakat verfaßt zu haben, auf dem ich als Kandidat der Mannheimer Parteigenossen den Wählern des Mannheimer Wahlkreises mit den Worten empfohlen wurde, ich sei ein tapferer Volksmann, der wegen seines Kampfes für Volksfreiheit und Volksrecht zu zwei Jahren Festung verurteilt worden sei. Es handelte sich um die Reichstagswahl im Januar 1877. Herr v. Marschall sah als Staatsanwalt in dieser Behauptung eine entstellte Tatsache, wodurch eine Anordnung der Obrigkeit wider besseres Wissen verächtlich gemacht werde. Er klagte Ehrhart auf Grund des § 131 des deutschen Reichsstrafgesetzbuchs an und beantragte gegen den blutjungen Sünder eine exemplarische Gefängnisstrafe. Denn ich sei nicht wegen meines Kampfes für politische Freiheit, sondern wegen Vorbereitung zum Hochverrat verurteilt worden. Schon wollte der Gerichtsvorsitzende die Verhandlung schließen, als Ehrhart sich mit der Bemerkung das Wort erbat, daß er als Angeklagter doch auch etwas zu sagen habe. Er erhielt es, worauf er seine kurze, im reinsten Pfälzer Dialekt gehaltene Verteidigungsrede mit den Worten schloß: »Meine Herren Richter, glauben Sie dem da oben (dem Staatsanwalt) nichts, der macht aus einem Läusle einen Elefanten«. Marschall griff rasch nach der Zeitung, die er vor das Gesicht hielt, um das Lachen zu verbergen. Der Gerichtshof aber glaubte dem Staatsanwalt und schickte Ehrhart auf drei Monate ins Gefängnis. Sein späteres Verhalten sprach dagegen, daß die Strafe eine erzieherische Wirkung auf ihn ausgeübt hatte.

Im Gegensatz zu seinen scharfmacherischen Parteigenossen war Herr v. Marschall ein Gemäßigter. Er sprach sich für ein Gesetz von kurzer Dauer aus, mit dem man den beabsichtigten Zweck wohl erreiche, Ihm folgte Sonnemann, der sich gegen das Gesetz erklärte. Bismarck, der noch aus der Zeit des Krieges von 1866 einen Span auf Sonnemann hatte, antwortete diesem.

Ich bin im Zweifel, wen Bismarck persönlich mehr haßte, ob Eugen Richter oder Sonnemann. Ich glaube den letzteren, denn Eugen Richter war trotz aller Opposition immer ein guter Preuße, aber in Sonnemann haßte er den süddeutschen Antipreußen, den »Republikaner«, von dessen Organ der »Frankfurter Zeitung«, er behauptete, daß es mehr mit der französischen Republik als mit dem Deutschen Reich sympathisiere. So kam es denn, daß, als bei der Reichstagswahl im Jahre 1884 Sonnemann mit unserem Kandidaten Sabor in die Stichwahl kam, Bismarck auf eine Anfrage der Frankfurter Nationalliberalen, wen sie wählen sollten, antworten ließ: »Fürst wünscht Sabor.« Und Sabor wurde gewählt.

Bismarck hatte, wenn er einmal in Kampfstimmung war – und an jenem Tage besaß er sie –, die Gepflogenheit, sich wenig an den zur Beratung stehenden Gegenstand zu halten. Um seinem Herzen Luft zu machen, sprang er alsdann von einem Gegenstand zum anderen und schlug auf den Gegner los, der ihm im Wege stand. Oftmals zur Verzweiflung des Präsidenten, der nicht wagte, ihn zu unterbrechen, dann aber auch nicht verhindern konnte, daß die Angegriffenen sich wehrten und so eine Debatte entstand, die weit über den Rahmen des zu verhandelnden Gegenstandes hinausging. So auch diesmal.

Nachdem er sich mit Sonnemann auseinandergesetzt, rückte er uns zu Leibe. Ehemals sei Frankreich das Versuchsfeld für den Sozialismus gewesen; nach dem Niederschlagen der Kommune sei es Deutschland geworden. Dann klagte er: die Deutschen seien geborene Kritiker, die an der Diskreditierung der Behörden und Institutionen ihre helle Freude hätten. Das treffe namentlich auf die Fortschrittspartei zu, die in den großen Städten den Boden für uns gelockert habe; sie sei die »Vorfrucht der Sozialdemokratie«. Dann fiel er aufs neue über uns her, verurteilte die Art unserer Agitation und wie wir die Massen in unser Garn lockten. Weiter klagte er über die Milde unserer Strafgesetzgebung, die Gutmütigkeit der Richter, über die Freizügigkeit, die Verführung der Massen durch die Vergnügungen in den großen Städten. Seine Rede war eine Jeremiade, die den Junkern und Junkergenossen aus der Seele kam. Aber sie enthielt keine Spur von staatsmännischer Einsicht in das Wesen und Getriebe der bürgerlichen Welt, in dem doch die Wurzeln liegen für all das, was er beklagte, und das die Sozialdemokratie zu einer naturnotwendigen Erscheinung des öffentlichen Lebens machte, mit der er rechnen mußte.

Des weiteren klagte er über die Spaltungen in den bürgerlichen Parteien, über den Mangel an Vertrauen und Entgegenkommen von jener Seite. Seine Rede klang in die Aufforderung aus, sich zu einer Phalanx zusammenzuschließen, die sich in allen Teilen gegenseitig vertraue, so daß das Reich allen Stürmen gewachsen sei und ihnen einen wirksamen Widerstand entgegenzusetzen vermöge. Diese Aufforderung war nach alledem, was sich Bismarck selbst im gegenseitigen Ausspielen der Parteien geleistet und sich selbst noch in dieser Rede zur Erreichung seiner Zwecke geleistet hatte, dem Hause doch ein zu starkes Stück. Er schloß seine Rede ohne das geringste Zeichen von Beifall.

Den nächsten Tag erhielt Hasselmann Gelegenheit, auf die Angriffe und Provokationen Bismarcks zu antworten. Er tat dies in einem großen Teil seiner Rede mit unleugbarem Geschick. Zum Schlusse verfiel er aber selbst in eine Provokation. Auf den Angriff Bismarcks in seiner vorletzten Rede gegen mich antwortete Hasselmann: Wir schleifen keine Dolche für den Fürsten Bismarck, wir verachten den Dolch, der von hinten trifft; wenn wir kämpfen, kämpfen wir Brust an Brust, aber wenn man für uns Kugeln gießt und Bajonette schleift, dann sagen auch wir: »Wenn wir in einer solchen Weise unter der Tyrannei einer Gesellschaft von Banditen existieren sollen ...« Darauf großer Sturm in der Versammlung. Der Präsident rief Hasselmann zur Ordnung wegen angeblicher Provokation zum Aufruhr. Hasselmann fuhr fort: »Nicht ich bin es, der provoziert; ich habe zur Genüge gesagt, daß ich den Weg des Friedens vorziehe (Lachen), ja ich ziehe ihn vor; ich bin aber auch bereit, mein Leben zu lassen. Fürst Bismarck möge auch einmal an den 18. März denken.«

Löwe-Kalbe, der Hasselmann als Redner folgte, äußerte: Ich danke dem Herrn Redner, daß er das System Bebel in der Verteidigung seiner Sache verlassen hat und offen mit der Sprache herausgegangen ist. Herr v. Bennigsen, der jetzt ebenfalls das Wort ergriff, suchte durch lange Ausführungen den vernünftigen Standpunkt, den er bei der ersten Ausnahmegesetzvorlage nach dem Hödel-Attentat eingenommen hatte, zu verwischen. Er sagte jetzt: Vater, verzeihe mir.

Im Verlauf der zweiten Lesung wurden die Debatten immer erregter. Die gesamten bürgerlichen Parteien schickten ihre besten Kräfte vor, um ihren Standpunkt zu verteidigen. Von unserer Seite nahmen Bracke, Fritzsche, Hasselmann, Liebknecht, Reinders und ich, die meisten von uns mehreremal das Wort. Ein lebhafte Szene rief Bracke hervor bei Beratung des § 4 der Vorlage, der später § 8 des Gesetzes wurde, der von der Auflösung der Vereine handelte und die Bestimmung enthielt, daß die Beschwerde gegen ein Verbot eines Vereins keine aufschiebende Wirkung habe. Gegen diese Bestimmung sprach sich Bracke in seiner kurzen Rede besonders scharf aus. Dann plötzlich aus der Konstruktion der Rede fallend, rief er in den Saal hinein: »Meine Herren, ich will Ihnen sagen, wir pfeifen auf das ganze Gesetz!«

Wir brachen in stürmischen Beifall aus, der größte Teil des Hauses tobte vor Entrüstung, und der Präsident erteilte Bracke einen Ordnungsruf; draußen aber im Lande jubelte die Partei über diese drastische Kennzeichnung unserer Stellung zum Gesetz.

Am 18. Oktober begann die dritte Lesung des Gesetzentwurfs. Der Abgeordnete v. Schorlemer Alst erklärte sich namens des Zentrums noch einmal scharf gegen den Entwurf: Wer wie wir unter solchen Ausnahmegesetzen gestanden hat, kann nun und nimmermehr für ein Ausnahmegesetz stimmen. Das war schön gesagt. Es kam aber bei späteren Beratungen über die Verlängerung des Gesetzes anders; auch im Zentrum fanden sich immer mehr Stimmen für dasselbe, oder man blieb der entscheidenden Sitzung fern, um eine Mehrheit für die Verlängerung zu sichern.

Von unserer Seite nahm noch einmal Liebknecht das Wort, um in nachdrücklichster Weise das Gesetz zu bekämpfen, wohl wissend, wie er gleich bei Eingang seiner Rede bemerkte, daß die Würfel der Entscheidung bereits gefallen seien. Er rede nur, um seine Pflicht zu tun. Er schloß mit den Worten: »Der Tag wird kommen, wo das deutsche Volk Rechenschaft fordern wird für dieses Attentat an seiner Wohlfahrt, an seiner Freiheit, an seiner Ehre«. Den 19. Oktober fanden zwei Sitzungen statt; die Mitglieder drängten, nach Hause zu kommen. Die erste wurde um 10 Uhr 30 Minuten, die zweite um 2 Uhr 15 Minuten eröffnet. Die letztere diente ausschließlich der namentlichen Abstimmung. Während derselben herrschte atemlose Stille. Alsdann verkündete der Präsident das Resultat. Es hatten an der Sitzung 370 Abgeordnete teilgenommen – das Haus zählt 397 –, von denen 221 mit Ja, 149 mit Nein stimmten. Das Mehr betrug also 72 Stimmen. Alsdann erhob sich Bismarck und verlas die kaiserliche Botschaft, durch die die Session geschlossen wurde. Aber er begnügte sich nicht damit; er richtete an das Haus noch eine Ansprache. Er gebe der Befriedigung Ausdruck, äußerte er, daß ungeachtet großer Meinungsverschiedenheiten, die sich, zu Anfang der Beratung herausgestellt hätten, eine für alle zustimmenden Teile befriedigende Lösung gefunden worden sei. Sollte das Gesetz im Verlauf seiner Wirksamkeit ergeben, daß es seinen Zweck nicht erreiche, so würden sich die verbündeten Regierungen wieder vertrauensvoll an den Reichstag wenden, um entweder eine Verschärfung des Gesetzes oder eine Reform der Allgemeingesetzgebung, die er für den besseren Weg halte, zu erreichen. Die verbündeten Regierungen hegten alsdann die Hoffnung, daß, nachdem sie durch loyale Handhabung des Gesetzes das Vertrauen des Reichstags gerechtfertigt hätten, die Hilfe und der Beistand des Reichstags ihnen nach Maßgabe der Bedürfnisse nicht fehlen werden.

 

Die Versicherung, man werde das Gesetz loyal handhaben, klang wie Ironie. Ein Gesetz, das dem Ermessen der Behörden alle Tore und Türen öffnete, war ein Freischein für die Willkür. Das sollte sich bald genug zeigen. Und Bismarck war der erste, der jede Willkürmaßregel, sobald sie sich gegen uns richtete, verteidigte und rechtfertigte.

Nachdem er alsdann die Sitzungen des Reichstags für geschlossen erklärt hatte, brachte der Präsident das übliche Hoch auf den Kaiser aus. Wir hatten uns mittlerweile aus dem Saal entfernt und verließen, wenn auch als Geschlagene, guten Mutes das Haus, hoffend, der Tag werde kommen, wenn auch erst nach schwerer Zeit, an dem wir als Sieger zurückkehrten. Ich leugne nicht, mich packte der Ingrimm, als ich nach Hause fuhr. Ich nahm mir in jener Stunde vor, soweit es an mir läge, alles aufzubieten, um die Wirksamkeit des Gesetzes zu durchkreuzen, und ich habe mein mir gegebenes Wort redlich gehalten.

Unsere Feinde hatten es eilig. Am nächstfolgenden Tage wurde bereits das Gesetz verkündet. Es trat den 21. Oktober in Kraft.

Die nächsten Wirkungen des Gesetzes

Sobald der Reichstag am 17. September die erste Lesung beendet hatte und der Entwurf in die Kommissionsberatung ging, fuhr die Fraktion nach Hamburg, um dort mit dem Parteiausschuß zu beraten, welche Maßnahmen nach Inkrafttreten des Gesetzes ergriffen werden sollten. Im Ausschuß herrschte keineswegs eine gehobene Stimmung. Seit Auer von Hamburg nach Berlin übergesiedelt war, um in die Redaktion der »Freien Presse« einzutreten, war August Geib die einzige Person von Bedeutung in dem fünfgliedrigen Ausschuß. Geib fühlte sich infolgedessen isoliert und ohne eigentliche Stütze in einem Kampfe, wie er jetzt zu erwarten war. Auch war Geib, obgleich ein Mann von hoher Intelligenz, untadeliger Rechtschaffenheit und großer Sachkunde, der die Geschäfte mit Kaltblütigkeit und Ruhe erledigte, keine eigentliche Kampfnatur. Dem Feinde die Zähne zu zeigen und jedes Mittel anzuwenden, das ihm eine Niederlage beibringen konnte, das lag nicht in seinem Wesen. Dazu kamen noch zwei Umstände, die uns damals nicht bekannt waren, aber sein Verhalten erklärlich machten. Geib war herzkrank, wie sein baldiger Tod uns zeigte und ich gelegentlich einer Haussuchung bei ihm wahrnahm, der ich als unfreiwilliger Zeuge beiwohnte.

Dann aber stellte sich auch zu unserer aller Überraschung nach seinem Tode heraus, daß seine materielle Lage nicht so war, wie man sie einschätzte. Er schien mäßig wohlhabend zu sein und ein Geschäft (Leihbibliothek) zu besitzen, das seinen Mann gut nährte. Das gemütliche Heim, das er sich mit Hilfe seiner Frau zu schaffen wußte, und die Gastfreundschaft, die er übte, unterstützten diese Auffassungen. Das war aber ein Irrtum. Hätte er zum Beispiel noch die Zeit der Verhängung des kleinen Belagerungszustandes über Hamburg-Altona erlebt und wäre er dann als erster mit ausgewiesen worden, er wäre finanziell zusammengebrochen, und was dieses für den außerordentlich feinfühlenden Mann bedeutete, kann man sich vorstellen. Geib hätte also auch die Arbeitslast nicht leisten können, die ihm unter dem Gesetz, wenn auch nicht mehr als offiziellem Ausschußmitglied, erwuchs. An Gehalt war ebenfalls nicht zu denken.

Das alles mochte sich Geib sagen, und so erklärte er zu unserer unangenehmen Überraschung, daß er unter allen Umständen sein Amt niederlege und die Meinung habe, man solle die Partei auflösen, noch bevor das Gesetz in Kraft getreten sei, damit sie von der Polizei nicht aufgelöst werde. Mit Geibs Rücktritt war aber Hamburg als künftige Zentralstelle unmöglich.

Es gab zwischen uns und Geib eine lebhafte Auseinandersetzung. Es wurden die verschiedensten Vorschläge gemacht, wie man ihm seine Tätigkeit erleichtern könne. Er blieb aber bei seinem Vorsatz. Darauf erklärte ich, es sei doch ein Ding der Unmöglichkeit, daß die Partei keinen Zentralpunkt mehr habe, an den sich die Genossen in ihren Nöten um Rat und Hilfe wenden könnten. Lehne Hamburg ab, so schlüge ich Leipzig vor, und ich sei bereit, die Stelle Geibs als Kassierer von Mitteln, die zu schaffen angesichts der kommenden Opfer mir jetzt die wichtigste Tätigkeit zu sein schiene, zu übernehmen. Dementsprechend wurde beschlossen. Darauf händigte mir Geib die letzten 1000 Mark ein, die er noch in der Kasse hatte. Das war der Grundstock für meine künftige Tätigkeit als Finanzminister unter dem Sozialistengesetz.

Auch dem Drängen Geibs, sofort die Partei für aufgelöst zu erklären, da er nicht mehr sein Amt verwalten wolle, mußten wir nachgeben; denn es wäre eine Lächerlichkeit gewesen, für eine Galgenfrist von wenig Wochen noch einen provisorischen Ausschuß einzusetzen, bis die polizeiliche Auflösung erfolgte. So wurde denn beschlossen, mit einer Proklamation an die Partei heranzutreten und sie für aufgelöst zu erklären. Aber die Art, wie dies geschah, erregte Unzufriedenheit. Statt daß der Ausschuß oder das Zentralwahlkomitee, wie der Ausschuß genannt wurde, seitdem Tessendorf das Verbot der Parteiorganisation für Preußen durchgesetzt hatte, sich selbst in einer Proklamation an die Partei wendete, die Organisation für aufgelöst erklärte, ihre Ratschläge für ferneres Wirken machte und ihr Mut zusprach, erschien im »Vorwärts« eine Bekanntmachung des Sekretärs Derossi, die an Trockenheit des Tones und Schwächlichkeit des Inhalts kaum übertroffen werden konnte. Erst auf unsere Einsprache, daß die Bekanntmachung des Sekretärs nicht genüge und der Ausschuß mit der Namensunterschrift seiner Mitglieder die Parteiorganisation für aufgelöst erklären möge, erschien eine solche, datiert vom 15. Oktober, im »Vorwärts« vom 21. Oktober. Aber diese Proklamation verbesserte die Stimmung nicht. Das Komitee erklärte, daß es seine Auflösung der Polizeibehörde angezeigt habe, es also von jetzt ab eine zentralistische Organisation der Partei nicht mehr gebe, sonach auch keine planmäßige Organisation mehr. Damit sei es vorüber. Auch für Geldsendungen habe man keine Verwendung mehr. Man solle solche nicht mehr an Geib adressieren. Man ging noch weiter und forderte, daß, wenn noch irgendwo eine Parteimitgliedschaft bestehe, diese sich sofort auflösen sollte. Der Aufruf schloß: Einig in der Taktik, auch zur Zeit der Bedrängnis, sei die Gewähr für eine bessere Zukunft.

In der Hamburger Zusammenkunft war man einmütig der Ansicht, die Schläge abzuwarten, die nach Verkündung des Gesetzes gegen die Partei geführt würden, und danach seine Maßnahmen zu treffen. Unter keinen Umständen dürfe das Feld freiwillig geräumt werden. Es sei vorauszusehen, daß in erster Linie die Partei- und Gewerkschaftsorgane der Unterdrückung verfallen würden. Es bestanden zu jener Zeit 23 politische Organe, von denen 8 sechsmal wöchentlich, 8 dreimal, 4 zweimal und 3 einmal erschienen. Daneben bestand die »Neue Welt« als Unterhaltungsblatt. Weiter erschienen 14 Gewerkschaftsblätter. Die Mehrheit dieser Blätter wurde in 16 Genossenschaftsdruckereien hergestellt.

Mit der Unterdrückung dieser Preßorgane, erwartete man, würden sofort eine Menge Personen, als Redakteure, Expediteure, Kolporteure, Verwaltungsbeamte, Schriftsetzer, Hilfspersonen aller Art, brotlos. Um für alle diese brotlos gewordenen Personen nach Möglichkeit Hilfe zu schaffen, müßte man versuchen, an Stelle der unterdrückten neue Blätter zu gründen, die sich dem Gesetz anzubequemen versuchten. Hatten doch Lasker wie der Berichterstatter der Kommission bei der Beratung des Gesetzes erklärt, daß Blätter, die ihre Haltung änderten, nicht unterdrückt werden sollten. Aber respekiert wurden diese Zusagen nicht. Neben der Neugründung von Blättern solle man sich auf die Herstellung allgemein bildender Literatur werfen. Die Gründung von Blättern sei auch geboten, weil sie die bequemste und unverfänglichste Art bilde, die Verbindung unter den Parteigenossen aufrechtzuerhalten. Gelänge es nicht, in der einen oder anderen Form Hilfe zu schaffen, dann würde eine große Zahl der führenden Personen genötigt, ins Ausland zu wandern, was ein großer Verlust für die Partei sei. Als Sozialisten stigmatisiert, fänden sie angesichts der Stimmung in den Unternehmerkreisen keine Stellung, die überdies infolge der Krise Arbeitskräfte in Mengen zur Verfügung hätten.

Daß man sehr bald auch mit einer für die Parteiverhältnisse großen Zahl Ausgewiesener und deren dadurch in Not geratenen Familien werde rechnen müssen, daran dachten wir zunächst nicht. Auf Grund der Erklärungen, die während der Beratungen über den kleinen Belagerungszustand aus kompetentem Munde abgegeben wurden, hielten wir zunächst die Verhängung desselben für unwahrscheinlich. Wir täuschten uns. Noch ehe der Monat November zu Ende ging, wurde der kleine Belagerungszustand über Berlin verhängt. Ihm folgte im Jahre 1880 derjenige über Hamburg-AItona und Umgegend, dann über Harburg, Ende Juni 1881 über Stadt und Amtshauptmannschaft Leipzig usw. Wenn bei irgendeiner unter dem Sozialistengesetz getroffenen Maßregel, so erwies sich bei der Verhängung des kleinen Belagerungszustandes die »loyale« Behandlung des Gesetzes als Lüge.

Sobald das Gesetz verkündet und in Kraft getreten war, fielen die Schläge hageldicht. Binnen wenigen Tagen war die gesamte Parteipresse mit Ausnahme des »Offenbacher Tageblatts« und der »Fränkischen Tagespost« in Nürnberg unterdrückt. Das gleiche Schicksal teilte die Gewerkschaftspresse mit Ausnahme des Organs des Buchdruckerverbandes, des »Korrespondenten«. Auch war der Verband der Buchdrucker, abgesehen von den Hirsch-Dunckerschen Vereinen, die einzige Gewerkschaftsorganisation, die von der Auflösung verschont blieb. Alle übrigen fielen dem Gesetz zum Opfer. Ebenso verfielen der Auflösung die zahlreichen lokalen sozialdemokratischen Arbeitervereine, nicht minder die Bildungs-, Gesang- und Turnvereine, an deren Spitze Sozialdemokraten standen, und die deshalb für sozialdemokratische Vereine erklärt wurden, in denen, wie die Phrase im Gesetz lautete, »sozialdemokratische, auf den Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung gerichtete Bestrebungen in einer den öffentlichen Frieden, insbesondere die Eintracht der Bevölkerungsklassen gefährdenden Weise« zutage getreten seien.

Wer heute diese Phrase liest, wird sich kaum des Kopfschüttelns und wohl auch eines Lächelns enthalten können. Aber damals war es bitterer Ernst mit dieser Phrase. Mit einem Federzug vernichtete die Polizei, was durch viele Jahre unter großer Mühe und Opfern aller Art aufgebaut worden war.

Das Trümmerfeld des Zerstörten wurde erweitert durch die Verbote der nicht periodisch erscheinenden Literatur. Die Reihe der Verbote eröffnete das Berliner Polizeipräsidium. An der Spitze der ersten Leporelloliste von 84 Verboten stand wie zum Hohn Leopold Jacobys »Es werde Licht«. Dem blinden Eifer, zu verbieten, fielen auch eine Anzahl Schriften zum Opfer, die mit Sozialismus nicht das geringste zu tun hatten. So zum Beispiel August Röckels »Sachsens Erhebung und das Zuchthaus zu Waldheim« und allerlei »Gereimtes und Ungereimtes« von William Spindler. Sogar die Schrift des ehemaligen österreichischen Ministers Professor Schäffle »Die Quintessenz des Sozialismus« wurde verboten, indes wurde das Verbot auf erhobene Beschwerde wieder aufgehoben.

Die Versuche, an Stelle der unterdrückten Blätter neue zu gründen, die nach Lage der Dinge außerordentlich vorsichtig redigiert werden mußten, mißlangen in den ersten Jahren fast alle. So versuchte man in Berlin nach der Unterdrückung der »Freien Presse« unter dem Titel der »Berliner Tagespost« ein farbloses Blatt zu gründen, das als Fortsetzung der »Berliner freien Presse« angesehen und sofort verboten wurde. Seine Herausgeber wurden deshalb zu einer hohen Geldstrafe verurteilt. Mit dem »Vorwärts« in Leipzig fielen eine Reihe hier erscheinender Provinzblätter: »Volksblatt in Altenburg«, »Volksblatt für den 14. sächsischen Wahlkreis«, »Muldentaler Volksfreund«, »Groitzsch-Pegauer Volksblatt« und »Voigtländische freie Presse« dem Gesetz zum Opfer. Ebenso fielen die »Mitteldeutsche Zeitung«, die »Freie Presse« und die »Neue Leipziger Zeitung«, 1879 folgten der »Leipziger Beobachter«, das »Deutsche Wochenblatt« und der »Wanderer«, als letztes Blatt wurde 1881 der »Reichsbürger« unterdrückt, nachdem zuvor noch ein kleines Witzblatt »Das Lämplein« den Weg des Sozialistengesetzes gegangen war. Nunmehr stellten wir in Leipzig auf Jahre hinaus jeden Versuch einer Blattgründung ein. Wir machten die Erfahrung, daß die Blätter stets dann verboten wurden, sobald der Abonnentenstand soweit gediehen war, daß er ihre Kosten deckte. Dadurch und durch verschiedene andere Wahrnehmungen mißtrauisch gemacht, entdeckten wir, daß wir einen Polizeispion in der Person eines unserer Expedienten im Geschäft sitzen hatten, dem natürlich sofort mit dem nötigen moralischen Fußtritt die Tür gewiesen wurde. Wir machten alsdann noch den Versuch mit einem bürgerlichen Verleger, unter dessen Firma gemeinsam ein Blatt herauszugeben. Dieses führte aber in Kürze zu Mißhelligkeiten, und so traten wir von dem Versuch zurück. Und da die gleichen Maßnahmen wie in Berlin und Leipzig fast überall gegen uns getroffen wurden, hatten wir im Lauf von wenigen Monaten für Hunderte von Existenzen und deren Familien zu sorgen. Von allen Seiten kamen die Hilferufe an uns nach Leipzig, denen wir selbst mit Aufbietung aller Kräfte nur zum kleinsten Teile gerecht werden konnten.

 

Parteigenossen, die damals den Ereignissen fern standen oder sich gar im Ausland in sicherer Hut befanden, haben später geglaubt, die »Untätigkeit« der leitenden Personen scharf kritisieren zu müssen. Die guten Leute, aber schlechten Musikanten hatten keine Ahnung von dem wirklichen Zustand der Dinge, die wir öffentlich nicht mit der großen Glocke bekannt machen durften. Als Entschuldigung mag für den einen und anderen dieser Kritiker dienen, daß er auf Grund des Protokolls über den Wydener Kongreß urteilte. Aber dieses Protokoll ist irreführend. Es war frisiert und mußte genau so wie später das Protokoll über den Kopenhagener Kongreß frisiert werden, wollten wir uns nicht selbst denunzieren und bezichtigen. So wurden in diesen Protokollen zwar die Angriffe gegen die Parteileitung veröffentlicht, aber was diese zu ihrer Rechtfertigung zu sagen und überhaupt Wichtiges zu berichten hatte, wurde möglichst verschwiegen oder nur abgetönt wiedergegeben. Dies diente auch zur Irreführung der Behörden.

Im ersten Bande meiner Erinnerungen schrieb ich, die Jahre 1867 bis 1871 seien die arbeitsreichsten meines Lebens gewesen, von den drei Jahren Herbst 1878 bis Herbst 1881 darf ich sagen, es waren die unangenehmsten, weil sorgenvollsten meines Lebens. Und Arbeit gab es auch im Übermaß. Da ich zu jener Zeit durch meine geschäftliche Stellung vor materieller Sorge gesichert war, im Gegensatz zu Auer, Blos, Hasenclever, M. Kayser, Liebknecht, Motteler und vielen anderen, die mehr oder weniger zeitweilig dem Nichts gegenüberstanden, was war natürlicher, als daß in erster Linie die Last der Parteiarbeit und insbesondere auch die Sorge um die Beschaffung der materiellen Mittel auf mich fiel? Eine sechzehnstündige Arbeitszeit wurde für mich die Regel.

Es galt zunächst im Hause Ordnung zu schaffen, ehe man sich auf auswärtige Unternehmungen einließ. So wiesen wir – Liebknecht und ich – ein bald nach Verhängung des Sozialistengesetzes gemachtes Angebot, uns die Mittel für ein im Ausland erscheinendes Blatt zur Verfügung zu stellen, vorläufig zurück. Ich bemerke, um keine falschen Kombinationen aufkommen zu lassen, es war nicht Karl Höchberg, der uns dieses Angebot machte. Höchberg und Otto Freytag in Leipzig und eine kleine Zahl bemittelter Personen, die damals der Partei nahestanden oder zu ihr gehörten, lieferten die Mittel, damit wir der dringendsten Not abhelfen konnten. Denn die Sammlungen durch die Partei kamen erst allmählich in Fluß und wurden auch durch die von Ort zu Ort wandernden Ausgewiesenen in Anspruch genommen. Und die Zahl der Hilfsbedürftigen war namentlich in den ersten Jahren groß und wuchs beständig.

Unter solchen Verhältnissen war der Partei das Hemd näher als der Rock. Vor allem galt es zunächst, wieder festen Boden unter den Füßen zu bekommen, die im ersten Sturm des Sozialistengesetzes in Deroute geratenen Massen wieder zu sammeln und ihnen das Rückgrat zu steifen. Es ist ebenfalls eine falsche Darstellung, als seien damals die Führer die Kopflosen gewesen und als hätten die Massen die Partei retten müssen. Massen und Führer sind aufeinander angewiesen, die einen können ohne die anderen nicht wirken. Wohl gab es unter den Führern – das Wort im weitesten Sinne genommen – mehr Marodeure und Hasenfüße, als uns lieb war, doch die materielle Notlage der meisten entschuldigt vieles. Aber auch in den Massen, namentlich in den mittleren und kleinen Orten, herrschte vielfach Niedergeschlagenheit und Tatlosigkeit. Es bedurfte zahlreicher geheimer Zusammenkünfte und Versammlungen und energischer Agitation, um die mutlos Gewordenen aufzurichten und zu erneuter Tätigkeit anzuspornen. Und das gelang. Von dieser mühsamen, absolut notwendigen Tätigkeit konnte und durfte man außerhalb der Kreise der Beteiligten nichts sehen und hören lassen bei Strafe der Selbstdenunziation.

Während wir so in voller Tätigkeit waren, aus den Trümmern, die das Sozialistengesetz uns bis dahin geschaffen hatte, zu retten, was zu retten möglich war, wurden wir am 29. November mit der Nachricht überrascht, daß am Abend zuvor der »Reichsanzeiger« eine Proklamation des Ministeriums veröffentlichte, wonach der kleine Belagerungszustand über Berlin verhängt wurde. Dieser Hiobspost folgte am nächsten Tage die Mitteilung, daß 67 unserer bekanntesten Parteigenossen, darunter J. Auer, Heinrich Rackow, F.–W. Fritzsche, bis auf einen sämtliche Familienväter, ausgewiesen worden seien. Einige mußten binnen 24 Stunden die Stadt verlassen, die meisten anderen binnen 48 Stunden, einigen wenigen räumte man eine Frist von drei Tagen ein. Die Nachricht von der Verkündigung des kleinen Belagerungszustandes über Berlin rief eine gewaltige Aufregung in Berlin und außerhalb hervor. Niemand konnte sich die Gründe einer solchen Gewaltmaßregel erklären, selbst die bürgerlichen Blätter bis weit nach rechts äußerten Bedenken.

Als während der Beratung des Gesetzes bei § 28 (kleiner Belagerungszustand) der Abgeordnete Windthorst Bedenken äußerte, daß diese äußerste Maßregel leicht mißbräuchliche Anwendung finden könne, suchte ihn der Berichterstatter der Kommission, der Abgeordnete v. Schwarze-Dresden, durch die Erklärung zu beruhigen: »Es sind (für die Anwendung des § 28) ausdrücklich nur solche Fälle in Betracht genommen worden, wo ganze Bezirke oder Ortschaften durch die sozialdemokratischen Agitationen so unterwühlt sind, daß das allgemeine Bewußtsein von der Rechtssicherheit und dem Rechtsfrieden der Bürger gestört ist; daß man erwarten kann, die öffentliche Sicherheit werde durch irgendwelche gewalttätige Ausbrüche gefährdet und gestört werden; daß mit einem Wort durch die gewöhnlichen, gegen einzelne Personen möglichen Maßregeln des Landesgesetzes die Rechtssicherheit und der Rechtsfrieden nicht aufrechterhalten werden könnten.« Ähnlich äußerte sich ein anderer konservativer Abgeordneter. Wären diese Erklärungen des Berichterstatters der Kommission, des Abgeordneten v. Schwarze, ehrlich von den Regierungen als Grundbedingung für die Verhängung des kleinen Belagerungszustandes angesehen worden, man hätte ihn weder über Berlin noch über die anderen Städte im Bezirk, die später davon betroffen wurden, verhängen können. Kein ehrlicher Mann konnte behaupten, daß in jenen Städten und Bezirken Zustände vorhanden waren, wie sie der Abgeordnete v. Schwarze als Voraussetzung für die Anwendung des § 28 des Sozialistengesetzes für notwendig hielt. Es erwiesen sich eben alle jene Interpretationen und Zusagen, die man während der Beratung des Gesetzes zur Beruhigung bedenklicher Gemüter gemacht, jetzt als leere Ausreden, die keinen Pfifferling Wert hatten.