Festa mortale

Tekst
0
Recenzje
Przeczytaj fragment
Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Maike bedankte sich und wünschte alles Gute für Torben. Als sie sich umdrehte, stieß sie fast mit dem Arzt zusammen, der Torben im Krankenwagen begleitet hatte. Er und auch die beiden Sanitäter waren sehr freundlich und zuvorkommend gewesen. Auch was die Bereitstellung ihrer DNA anging. Sie nickte dem Mann zu und hielt ihn zurück. Möglicherweise konnte er ihr Neuigkeiten über Torbens Gesundheitszustand geben.

9. Kapitel

Max Teubner blickte auf den übersichtlichen Gebrauchtwagenplatz, der einen einladenden und ordentlichen Eindruck machte. Am Ende des Areals lag das Büro der Firma in einem fast quadratischen Containerbau mit Fensterfront und moderner Leuchtreklame darüber: Autohaus Borsutzki. An der Glastür hing das Schild »Geschlossen«.

»Wäre ja auch zu schön gewesen«, murmelte er. Natürlich hatte der Betrieb am heutigen Feiertag zu. Teubner wollte sich abwenden, als er hinter der Glasfront eine Bewegung wahrnahm. Da saß jemand am Schreibtisch. Ehe er jedoch gegen die Tür klopfen konnte, vibrierte sein Smartphone in der Innentasche seiner Jacke. Er zog es heraus und erkannte die Nummer seiner Tante Belinda. »Was gibt’s?«, fragte er.

»Ich störe dich ungern, Max«, erklärte die ehemalige Richterin, »aber mir ist gerade ziemlich mulmig zumute.«

Teubner zog die Augenbrauen hoch. »Erzähl!«, forderte er gespannt.

»Vor einer halben Stunde hat es geklingelt«, begann sie und berichtete von drei jungen Leuten, die einen recht abgerissenen Eindruck gemacht hätten und Raffael besuchen wollten. Belinda habe sie abwimmeln wollen, das sei ihr jedoch nicht gelungen. »Besonders die junge Frau drängte mich, Raffael Bescheid zu geben. Also bin ich hinaufgegangen und habe ihn geweckt.«

»Und er wollte die Typen sehen?«, fragte Teubner.

»Genau.« Seine Tante erklärte, sie habe die drei Jugendlichen also eingelassen und sie seien in Raffaels Zimmer verschwunden. »Mir ließ die Sache keine Ruhe. Ich bin die Treppe hinaufgeschlichen … ja ich gebe zu, ich wollte lauschen. Die Tür war nur angelehnt, das Mädchen lachte albern. Bereits zwei Meter von der Zimmertür entfernt nahm ich dann den Geruch von Marihuana wahr.« Sie schluckte hörbar. »Max! Was soll ich jetzt machen?«

»Ruf die Kollegen!«, sagte Teubner bestimmt. »Ich kann mich nicht selbst drum kümmern, ich ermittle in einem Mordfall.«

»Der verschwundene Junge? Oh, nein!«

»Beruhige dich. Den Jungen haben wir lebend gefunden, er ist allerdings noch ohne Bewusstsein. Der Mord hängt vermutlich mit seinem Verschwinden zusammen. Wir haben somit jede Menge Arbeit. Also bitte: Kümmere dich um die Freunde von Raffael.«

»Wie du meinst«, sagte seine Tante und beendete das Gespräch.

Teubner seufzte und ließ sein Smartphone nachdenklich in seine Jackentasche gleiten. Egal, wie spät er heute Abend nach Hause kommen würde, das Gespräch mit Raffael würde er nicht aufschieben. Er raffte seine Schultern, dann klopfte er und drückte die Klinke der Glastür, die zum Geschäftsraum des Autohändlers führte. Die Tür war unverschlossen und er betrat ein modern eingerichtetes Büro, das von zwei Schreibtischen dominiert wurde. Auf der linken Seite befand sich zudem ein Aktenschrank, auf dem Pokale standen, dahinter an der Wand gerahmte Urkunden und seitlich davon Bilder von Filialbetrieben. Teubner wandte sich an den rechten Schreibtisch, an dem eine korpulente Frau saß, die er auf Mitte 60 schätzte.

»Guten Tag, ist Herr Borsutzky zu sprechen?«

»Ist unterwegs, außerdem haben wir heute geschlossen«, kam die knappe Antwort, dabei blickte die Frau weiterhin konzentriert auf den Bildschirm.

Teubner schluckte eine bissige Bemerkung hinunter. Resolut trat er vor und hielt der Frau, die er für Borsutzkys Sekretärin hielt, seinen Dienstausweis unter die Nase. »Teubner, Kriminalpolizei. Es wäre nett, wenn Sie mir kurz Ihre Aufmerksamkeit schenken würden. Wo kann ich Ihren Chef erreichen? Ich habe einige Fragen an ihn.«

Der Kopf der Frau ruckte hoch, sie rollte ihren Stuhl etwas zurück und nahm eine schwarz gefasste Brille ab. Dann strich sie mit rotlackierten Fingernägeln durch die wirren kastanienrot gefärbten kurzen Haare und stand auf. »Na, wenn das so ist, Herr Kriminalhauptkommissar Teubner«, sie reichte ihm die Hand. »Ich bin Doris Borsutzky. Mein Mann ist zu einem Freund nach Frankfurt gefahren. Kommt erst heute Abend zurück. Kann ich Ihnen weiterhelfen?«

Teubner erwiderte den festen Händedruck und setzte sich ungefragt in den Besucherstuhl. »Es geht um den gestrigen Termin Ihres Mannes bei Rechtsanwalt Sobek.«

Doris Borsutzky zog die Augenbrauen überrascht hoch, strich ihre weit fallende grüne Polyesterbluse glatt und setzte sich wieder hinter den Schreibtisch. »Ist was mit dem Sobek? Mein Mann hat unsere offenen Rechnungen bezahlt. Das hat keine zwanzig Minuten gedauert. Ich habe vor der Kanzlei im Wagen gewartet. Wegen diesem italienischen Firlefanz in der Stadt war kein Parkplatz zu finden, deshalb musste ich eine Einfahrt blockieren. Was ist denn los?«

»Ihr Mann hat Ihre Verbindlichkeiten bar bezahlt?«, ignorierte Teubner ihre Frage. »Können Sie die Herkunft des Geldes belegen?«

Sie hatte wie Angela Merkel Marionettenfalten, die auch bei ihr die Mundpartie prägten und sich gerade zu vertiefen schienen, ihr Kinn kippte regelrecht nach unten. »Wollen Sie uns illegale Geschäftspraktiken unterstellen? Das ist eine Unverschämtheit!« Sie sprang erstaunlich flink von ihrem Stuhl und umrundete den Schreibtisch. »Raus! Raus aus meinem Büro! Schicken Sie uns eine Vorladung, dann kommen wir mit Herrn Sobek als Beistand zu Ihnen! Und jetzt verschwinden Sie!«

Teubner stand auf. »Nun mal langsam. Ich mache lediglich meine Arbeit«, erklärte er und überlegte, ob er behutsamer hätte vorgehen sollen. Vermutlich hatte das Telefonat mit Tante Belinda seine Stimmung negativ beeinflusst. »Frau Borsutzky«, nahm er einen zweiten Anlauf, »ich unterstelle Ihnen gar nichts. Ich verfolge lediglich eine Spur, und es wäre nett, wenn Sie mir die Belege zeigen.«

Die Gebrauchtwagenhändlerin schnaubte, ihre Augen funkelten wütend. »Ich kenne diese Voreingenommenheit«, sagte sie. »alle Autohändler sind Verbrecher. Erst recht, wenn sie mit Gebrauchtwagen handeln.« Sie fischte ihre Brille vom Schreibtisch, setzte sie auf und ging an Teubner vorbei auf den Aktenschrank hinter dem Schreibtisch ihres Mannes zu. Dort zog sie eine Mappe heraus, in der sich laut Aufkleber die Verkaufsverträge für Juni befanden, und schlug sie auf dem Tisch auf. Sie erklärte, in den ersten beiden Junitagen seien vier Autos verkauft worden. Einer der Kunden habe bar bezahlt.

Teubner beugte sich über den Kaufvertrag. »Ein Mini-Cooper für über 17.000 Euro. Wer zahlt so eine Summe in bar?«

Zum ersten Mal lächelte Doris Borsutzky. »In diesem Fall eine ältere Dame, die ihrer Enkelin ein außergewöhnliches Geschenk zum 18. Geburtstag machen wollte. War ein tolles Auto, der Mini: Cabrio, Automatik, Lederausstattung, Navi und keine 20.000 gelaufen.«

Fast hätte Teubner nach dem Baujahr gefragt, aber hier ging es nicht um das Auto. »Warum hat Ihre Kundin bar bezahlt? Sie hätte den Betrag doch auch überweisen können.«

Ihr genervter Blick deutete an, dass sie Teubner für jemanden hielt, der keine Ahnung vom Autohandel hatte. »Die Enkelin hat heute Geburtstag. Bei einer Überweisung wäre der Betrag frühestens morgen eingegangen, vermutlich sogar erst am Montag, weil morgen ein Brückentag ist. Wir hätten das Auto also nicht rausgeben können.«

Teubner nickte. »Verstehe. Entscheiden sich Ihre Kunden oft so spontan und vor allem so spät?«

Doris Borsutzky klappte den Ordner zu und stellte ihn zurück. »Das kommt immer wieder vor. Schwierig ist es, die Autos so kurzfristig angemeldet zu bekommen. Mein Mann hat gestern zwei Stunden im Kreishaus bei der Zulassungsstelle gesessen. Ich hoffe, damit ist unsere Barschaft erklärt. Haben Sie sonst noch Fragen?«

»Die Rechnungen, die Sie bezahlt haben, betreffen doch wahrscheinlich Rechtsstreitigkeiten, die Herr Sobek nicht für Sie gewinnen konnte. Ansonsten wären Ihre Anwaltskosten sicher der gegnerischen Partei aufgebrummt worden. Haben Sie die Rechnungen deshalb nicht sofort bezahlt? Waren Sie mit der Arbeit Ihres Rechtsanwalts unzufrieden?« Teubner beobachtete die Autohändlerin genau, doch diese verzog keine Miene.

Doris Borsitzky ging zurück zu ihrem Schreibtisch und setzte sich wieder. »Wir handeln mit Gebrauchtwagen, Herr Teubner. Das heißt, nicht jeder Wagen, den wir in Zahlung nehmen, ist werkstattgeprüft, sondern meist nur vom TÜV abgenommen. Wir beschäftigen zwar einen Kfz-Mechaniker, aber bei der heutigen Technik und den verschiedenen Modellen und Marken kann man nicht immer jeden Fehler finden. Und glauben Sie mir, die Leute, die uns ihre Wagen zum Verkauf anbieten, sind manchmal Schlitzohren. Die verweisen nicht auf jeden Mangel an ihrem Fahrzeug, das würde ja den Preis drücken. Tritt der Fehler schließlich beim Weiterverkauf auf, sind wir in der Pflicht.«

»Richtig, Privatleute stehen nicht in Sachmängelhaftung. In solchen Fällen wurden Sie also von Rechtsanwalt Sobek vor Gericht vertreten?«, mutmaßte Teubner.

Die Gebrauchtwagenhändlerin schüttelte jedoch den Kopf. »So weit kommt es meist gar nicht. Wir versuchen stets, uns außergerichtlich zu einigen. Herr Sobek dient uns dann als eine Art Schlichter und handelt einen Vergleich aus. Ganz selten kommt es zu Fällen, die tatsächlich vor Gericht landen.«

»Sie waren mit der Arbeit von Herrn Sobek also zufrieden? Wie lange arbeitet er schon für Sie als Anwalt?«

Die Stirn von Doris Borsutzky legte sich in tiefe Falten, ihre Finger nestelten an einer Goldkette, die ihren faltigen Hals zierte. »Pfff ...«, stieß sie aus und kehrte den Blick nach innen. »Vielleicht seit etwa zehn Jahren. Er hat damals ein Auto bei uns gekauft und ist mit meinem Mann ins Gespräch gekommen, der gerade Schwierigkeiten mit einem Kunden hatte. Damals hat er uns das erste Mal vertreten. Wenn Sie es genau wissen möchten, müsste ich in den alten Unterlagen nachschauen. Und ja, wir sind sehr zufrieden mit seiner Rechtsvertretung.«

 

Teubner machte sich einige Notizen und stand auf. »Vielen Dank, Frau Borsutzky. Eine Frage noch: Als Sie gestern auf Ihren Mann gewartet haben, ist Ihnen da etwas aufgefallen? Haben Sie vielleicht jemanden am Eingang der Kanzlei gesehen, der sich auffällig verhielt, der das Haus beobachtete?« Immerhin bestand die Möglichkeit, dass Sobeks Mörder die Kanzlei bereits am Abend zuvor ausspioniert hatte.

Die Autohändlerin stand ebenfalls auf. »Was ist denn eigentlich passiert? Was ist mit Herrn Sobek?«

Teubner räusperte sich. Die Nachricht vom Tod des Rechtsanwalts würde sich sowieso verbreiten wie ein Lauffeuer. Aus ermittlungstaktischen Gründen war zudem keine Nachrichtensperre verhängt worden. »Herr Sobek wurde heute Morgen in seiner Kanzlei ermordet. Also denken Sie bitte genau nach. Haben Sie gestern in der Nähe des Hauses irgendetwas Außergewöhnliches bemerkt?«

Doris Borsutzky ließ sich zurück auf ihren Bürostuhl fallen und starrte Teubner mit weit aufgerissenen Augen an. »Ermordet?«, stieß sie fassungslos hervor. »Das kann doch nicht sein.« Sie nahm ihre Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel, als könnte sie so besser denken. »Ich habe meine Wartezeit tatsächlich damit verbracht, auf den Eingang zu starren. Ich wollte noch einkaufen und die Minuten zogen sich für mich wie Stunden. Da war niemand, der sich dem Haus genähert hat. Ich habe nur Hunderte Passanten gesehen, die in die Innenstadt gelaufen sind.«

Teubner bedankte sich und reichte ihr über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Sollte Ihnen noch etwas einfallen, melden Sie sich bitte.« Er zog seine Visitenkarte aus der Jackentasche und legte sie auf den Tisch.

Sie nickte langsam, plötzlich hellte sich ihr Gesicht auf und sie sprang erregt vom Stuhl. »Da war doch jemand!«, rief sie. »Als mein Mann das Haus verlassen hat, wollte sich jemand an ihm vorbei ins Treppenhaus schlängeln. Martin hat ihn allerdings resolut zurückgeschoben und die Tür hinter sich geschlossen. Anstatt dann zu klingeln, hat der Kerl sich abgedreht und ist davongegangen.«

»Können Sie ihn beschreiben?«

Sie schüttelte langsam den Kopf. »Der Mann trug eine Kappe mit einem Schirm, der sein Gesicht verdeckte. Er hielt den Kopf gesenkt, als wolle er nicht erkannt werden. Schlank war er, höchstens 1,80 Meter groß, er hatte eine zerrissene Jeans an und ein rot-schwarzes Karohemd.«

»Wenn er den Kopf gesenkt hielt, wie können Sie sicher sein, dass es sich um einen Mann gehandelt hat?«

Doris Borsutzky riss erstaunt die Augen auf. »Sie haben natürlich Recht. Es könnte auch eine Frau gewesen sein.«

»Vielleicht konnte Ihr Mann das Gesicht sehen? Er stand schließlich direkt vor der Person!«

Doris Borsutzky stieß einen Seufzer aus. »Na, das versuchen Sie mal. Martin ist sehr eitel. Seine Brille setzt er nur zum Autofahren auf oder wenn er am Computer sitzt. Er sieht lieber alles verschwommen. Aber ich werde ihn dennoch darauf ansprechen.«

»Ist er das?« Teubner deutete auf eines der Bilder an der Wand hinter dem verwaisten Schreibtisch, das einen grauhaarigen, etwas untersetzten Mann bei der Eröffnung eines Autohauses zeigte.

»Ja«, bestätigte Doris Borsutzky. »Da haben wir die Filiale in Essen eingeweiht. Das war vor zehn Jahren. Inzwischen haben wir den Betrieb weiterverkauft. Wir konzentrieren uns nur noch auf diesen Standort.« Sie machte eine ausladende Handbewegung, die Büroräume und Gebrauchtwagenplatz einschloss.

Teubner blickte automatisch durch die Glasfront auf den Platz, wo zwischen den Gebrauchtwagen gerade ein schwarzer BMW hielt. Der Fahrer stieg salopp aus, schlug die Wagentür zu und öffnete den Kofferraum. Trotz weißem Haarkranz und Brille erkannte Teubner in ihm den Geschäftsinhaber. »Ihr Mann scheint früher nach Hause zu kommen. Ich werde ihn selbst nach der oder dem Fremden vor der Kanzlei fragen.« Er verabschiedete sich von der Autohändlerin, verließ das Verkaufsbüro und ging Martin Borsutzky entgegen, der gerade mit einem großen Paket im Arm den Kofferraumdeckel zuknallte.

10.Kapitel

Als sie das letzte Mal mit der U-Bahn gefahren war, galt Maike Graf noch als glücklich liiert mit ihrem Vorgesetzten Jochen Hübner. Der besaß damals wie heute eine Villa mit Swimmingpool im benachbarten Ort Herdecke, wo sie sich überaus wohl gefühlt hatte. Meist waren sie gemeinsam mit seinem schwarzen Cabrio zur Arbeit gefahren, waren nach den Schichten am Wochenende auch gerne in der Dortmunder Innenstadt zum Essen gegangen. Mal in einem Steakhaus, mal bei einem guten Italiener. Maike stieg nun zwei Stationen hinter der Kinderklinik, an der Haltestelle vor dem Polizeipräsidium aus und erreichte wenige Minuten danach den Haupteingang des Gebäudes. Obwohl sie über 20 Minuten vor dem Meeting eintraf, steuerte sie direkt den Besprechungsraum des KK 11 an. Hübner saß bereits vor Kopf am Konferenztisch und studierte Unterlagen. Er hob den Kopf, als sie eintrat, und lächelte sie freundlich an.

»Hallo, Maike, danke noch mal, dass du mit deinen Kollegen gestern so spontan geholfen hast, den Jungen zu suchen. Gut schaust du übrigens aus. Trägst dein Haar wieder länger, das steht dir.«

Maike spürte, wie eine verlegene Röte ihr Gesicht färbte und ärgerte sich darüber. Automatisch fasste sie sich ins Haar und lächelte. Dann blickte sie auf das Whiteboard in seinem Rücken, wo Fotos von Verdächtigen hingen, die mit ihrem Fall nichts zu tun hatten. Als sie sich umdrehte, erkannte sie, dass das Meeting für eine begrenzte Personenzahl angelegt war, da keine Stuhlreihen aufgestellt waren, sondern lediglich zehn Stühle um den Konferenztisch standen.

Jochens Blick haftete immer noch an ihr. Sie hatte das Gefühl, als wolle er ihr eine private Frage stellen. Schließlich räusperte er sich. »Was gibt es Neues von Alessia Sobek und Torben?«

Maike setzte sich nahe seinem Platz an den Tisch, fasste das Gespräch mit der Mutter des Jungen kurz zusammen und endete: »Ich habe noch mit einer Standesbeamtin in Unna telefoniert, die ich persönlich kenne. Sie arbeitet oft auch an freien Tagen und ist für mich trotz des Feiertages heute ins Standesamt gefahren. Die hinterlegte Geburtsurkunde weist tatsächlich Alessia und Thomas Sobek als leibliche Eltern aus. Die Geburtsanzeige wurde einst vom Vater erbracht. Angegeben ist eine Hausgeburt, bei der nur eine Hebamme anwesend war, ausgewiesen durch Stempel und Unterschrift. Allerdings wurde die Anzeige beim Standesamt erst eine Woche nach Torbens Geburt gestellt.«

Hübner blätterte in seinen Unterlagen, dann fischte er die ursprüngliche Abstammungsurkunde von Torben aus einer Mappe. »Diese Urkunde wurde bereits am Tag der Geburt im Standesamt Dortmund ausgestellt. Ebenfalls Hausgeburt mit Hebamme. Demnach existiert der Junge offiziell zwei Mal.«

Maike schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Spätestens zur Einschulung hätte die leibliche Mutter Jessika Waas doch Post bekommen. Vielleicht haben sich die leiblichen Eltern oder der Vermittler des Babys mit einer Sterbeurkunde aus der Affäre gezogen. Plötzlicher Kindstod kann durchaus vorkommen.«

Hübner rieb nachdenklich seinen Bart, der in den letzten Jahren ziemlich ergraut war und sich deutlich von seinem dunklen Haar abhob. Er trug es wie immer zur Seite gekämmt, was ihm einen resoluten und strengen Ausdruck verlieh. »Das klärt sich durch ein Telefonat mit dem Standesamt. Werde ich morgen selbst erledigen. Wie geht es Torben? Konntest du ihn schon befragen?«

»Leider nein. Er ist nach wie vor bewusstlos und wird auf der Intensivstation betreut. Laut dem Gespräch mit seinem Arzt hat ihm der Täter wohl Ketamin in Kombination mit Midalozam gespritzt. Man hat mehrere Einstichstellen gefunden, also vermutlich wurden ihm mehrere Injektionen hintereinander verpasst, eventuell in zu hoher Dosis. Über den Wirkstoff Ketamin, bekannt als K.-o.-Tropfen brauche ich dir nichts zu sagen. Midalozam wird bei der Sedierung vor Operationen angewendet und soll die Nebenwirkungen von Ketamin abschwächen.«

»Der Täter wollte vielleicht verhindern, dass der Junge halluziniert. Er muss sich in jedem Fall medizinisch ein wenig auskennen. Eine Spritze kann nicht jeder setzen und an den Wirkstoff kommt man auch nicht so leicht. Wir sollten in Torbens Umfeld nach Ärzten, Krankenschwestern, Sanitätern und dergleichen suchen. Damit kann …«

Ehe Jochen Hübner seine Gedanken zu Ende formulieren konnte, öffnete sich die Tür des Besprechungsraums und mehrere Kollegen traten ein. Darunter auch Max Teubner, Sören Reinders und Gerold Schmidtke aus Unna. Als Letzte kam Jasmin Sauber herein, eine Kollegin aus Dortmund, mit langem, wallendem Engelshaar, die Maike wegen ihrer Besserwisserei nicht ausstehen konnte. Fünf Minuten später erschien Staatsanwältin Lina von Haunhorst und setzte sich neben Jochen vor Kopf des Tisches. Sie grüßte in die Runde, warf Maike dabei einen wohlwollenden Blick zu. Dann übergab sie das Wort an Jochen Hübner.

»Was haben wir?«, begann er und blätterte dabei in seinen Unterlagen. »Gestern Abend verschwand der 10-jährige Torben Sobek in Unna auf dem italienischen Fest. Heute Vormittag tauchte er mit einem Unbekannten bei seinem Vater auf. Das verdeutlichen die Bilder der Überwachungskamera am Haus der Kanzlei Sobeks. Bislang haben wir keine Ahnung, wo der Junge sich in der Nacht aufgehalten hat. Fakt ist, kurze Zeit nach dem Erscheinen der beiden ist Rechtsanwalt Sobek tot und Torben liegt bewusstlos auf dessen Chaiselongue.«

»Kann man den Unbekannten auf den Videoaufnahmen erkennen, die die Überwachungskamera heute aufgenommen hat? Ist sein Gesicht zu sehen?«, unterbrach die Staatsanwältin.

Jochen schüttelte den Kopf und schob ihr einige Ausdrucke zu, dann stand er auf, entfernte die Fotos, die am Whiteboard hafteten, und befestigte die Ausdrucke daran. Maike erkannte eine schlanke Person, die in der Vogelperspektive von der Kamera aufgenommen war. Sie trug einen Hoodie, dessen Kapuze über eine Basecap gezogen war, darüber ein kariertes Hemd zu zerrissenen Jeans. Vom Gesicht war auf allen Bildern nichts zu erkennen.

Max Teubner, der Maike genau gegenübersaß und von einem flackernden Neonlicht über seinem Kopf merkwürdig in Szene gebracht wurde, meldete sich zu Wort. »Der Gebrauchtwagenhändler, von dem die 10.000 Euro in Sobeks Safe stammen, hat eine ähnliche Person beschrieben, die sich gestern bei dem Rechtsanwalt ins Haus drängen wollte, als er es verlassen hat. Auch die Frau des Händlers hat sie gesehen, weil sie vor dem Haus im Auto auf ihren Mann gewartet hat. Ihre Beschreibung gleicht der Person auf den Fotos am Whiteboard. Ihr Mann gab an, er habe sich fürchterlich erschrocken, als er das Haus verlassen und plötzlich diese Person vor ihm gestanden habe.«

»Wurde ein Phantombild erstellt?« Die Stimme von Jochen Hübner nahm einen hoffnungsvollen Klang an.

Teubner ruderte sofort zurück. »Martin Borsutzky ist Brillenträger, hatte seine Sehhilfe allerdings nicht auf der Nase. Er konnte die Gestalt nur verschwommen sehen, schätzt sie auf 1,75 Meter und Anfang 30.«

»Das ist zwar nicht viel, aber immerhin ein Ansatz«, erklärte Lina von Haunhorst. »Vielleicht lässt sich feststellen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelt, wenn wir uns die Aufnahmen von der Überwachungskamera anschauen, die sollten wir uns besorgen.«

»Habe ich schon veranlasst«, erwiderte Teubner und schob ihr einige Ausdrucke über den Tisch zu. »Die Person hält den Kopf stets gesenkt. Das Gesicht ist leider nicht zu erkennen.«

Die Staatsanwältin blätterte durch die Fotos, schob dabei ihr langes Haar, das sie heute offen trug, hinter ihre Ohren. »Unbrauchbar«, kommentierte sie dann kurz. »Sonst noch was von Ihrer Seite?«

Teubner erklärte, dass er die Barschaft von 10.000 Euro aus dem Safe überprüft habe. Martin Borsutzkys Aussage, sie stamme von einem Gebrauchtwagenverkauf habe die Kundin bestätigt. »Noch kurz zur Waffe im Safe: Die Glock 17, neun Millimeter ist registriert. Sobek besaß seit 15 Jahren einen Waffenschein. Er ist Sportschütze. Ich habe mit Vereinskollegen von Sobek gesprochen. Er sah das Schießtraining als Sport und Hobby.«

»Er besaß die Waffe also nicht zum Selbstschutz?«, warf Jochen Hübner ein. »Warum bewahrte er sie dann in der Kanzlei auf und nicht zu Hause?«

 

»Vermutlich, weil er zu Hause keinen Safe oder Waffenschrank besitzt, in den man die Waffe ordnungsgemäß einschließen könnte. Sein Haus wurde ja bereits durchsucht«, resümierte Teubner.

Hübner nickte. »Richtig. Was ist mit dem Bruder der Lebensgefährtin? Der scheint einiges auf dem Kerbholz zu haben …«

Maike blickte erwartungsvoll zu Teubner, in dessen Stirn sich eine tiefe Falte bei der Nasenwurzel grub, als er in seinen Unterlagen blätterte. »Matthias Winkler«, murmelte er leise, endlich fand er den gesuchten Inhalt und blickte auf. »Der ältere Bruder von Birte Winkler ist gelernter Bürokaufmann und hat einige Jahre in dem Job gearbeitet. Trotz des Feiertages konnte Gerold heute einen ehemaligen Kollegen von Herrn Winkler ausmachen und befragen.« Teubner blickte zu Schmidtke und sah ihn auffordernd an.

Der zupfte seine Dienstuniform zurecht, bevor er berichtete. »Ich habe erfahren, dass ihm vor einigen Jahren fristlos gekündigt worden ist, weil er versucht hat, auf dem Firmendrucker Euronoten zu kopieren. Man fand beidseitig bedrucktes und zurechtgeschnittenes Falschgeld in seiner Schreibtischschublade. Er hatte sich besonders geeignetes Papier besorgt, die Geldscheine gebündelt und oben und unten jeweils einen echten Schein eingefügt. Was er mit dem Geld vorhatte, wusste der Kollege nicht.«

Teubner schob der Staatsanwältin eine Akte zu. »Das ist die Gerichtsakte von der Anklage Winklers. Ich habe mich etwas intensiver eingelesen. Winkler wurde von unserem Mordopfer Thomas Sobek vertreten. Meiner Meinung nach mehr schlecht als recht. Er wurde zu einer Haftstrafe von einem Jahr ohne Bewährung verurteilt.«

»Das ist hart«, meinte Lina von Haunhorst.

Teubner nickte. »Seine Führung war wohl nicht die allerbeste. Er ist im Knast immer wieder ausgerastet, hat behauptet, zu Unrecht einzusitzen. Er meinte, jeder andere Anwalt hätte ein milderes Urteil erzielt.«

»Damit kann er sogar Recht haben. Und hat somit ein klares Tatmotiv. Wie sieht es mit seinem Alibi aus?«, fragte Jochen Hübner.

Teubner verzog sein übernächtigtes Gesicht, das im flackernden Neonlicht wie eine Gruselmaske wirkte. »Die Lampe nervt echt.« Er blickte zur Decke, konzentrierte sich dann aber schnell auf seine Unterlagen. »Die Kollegen von der Polizeiwache in Hörde – da wohnt Winkler in einem Hochhausblock – haben Winklers Nachbarn befragt. Eine ältere Dame, die neben ihm wohnt, hat seinen Fernseher gehört, der könnte natürlich auch in der leeren Wohnung gelaufen sein. Allerdings hat eine Mieterin aus dem Erdgeschoss gesehen, wie er gegen halb zehn Uhr vor dem Haus eine Zigarette geraucht hat. Deshalb kommt Matthias Winkler für die Entführung von Torben nicht infrage. Torben verschwand um 21 Uhr. In einer halben Stunde hätte er es aus der überfüllten Innenstadt von Unna kaum bis nach Hörde geschafft. Für den Mord an Thomas Sobek hat er ebenfalls ein Alibi. Zur Tatzeit befand er sich auf unserer Dienststelle, wo die Kollegen seine Aussage aufgenommen haben.«

Maike sah, wie sich die Gesichtszüge der Staatsanwältin verhärteten. Sie schob energisch ihre Haare auf den Rücken, beugte sich vor und stützte die Ellbogen auf dem Tisch ab. »Damit können wir Herrn Winkler als Tatverdächtigen ausschließen.«

Lina von Haunhorst lehnte sich seufzend zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. »Wir sind also keinen Schritt weiter. Oder?« Sie blickte fragend in die Runde.

Sören Reinders räusperte sich. Er saß ebenfalls auf der gegenüberliegenden Seite des Konferenztisches und Maike fiel einmal mehr seine Ähnlichkeit mit dem Schlagersänger Florian Silbereisen auf. Seine braunen Augen blickten nervös hin und her. Maike wusste, dass er es hasste, vor versammelter Mannschaft zu sprechen, auch wenn er sonst durch Wortwitz und Schlagfertigkeit auffiel.

»Ja?«, drängte Staatsanwältin von Haunhorst.

Reinders blickte fast hilfesuchend in Maikes Richtung. Endlich begann er. »Ja ... also … ich habe die Befragung in der Nachbarschaft der Kanzlei durchgeführt. Rechtsanwalt Sobek und auch der Notar, der seine Räume im Erdgeschoss des Hauses hat, gelten als angesehene Juristen. Das haben die Mieter des benachbarten Wohnhauses ausgesagt. Eine Familie hat sich bereits von Sobek vertreten lassen und war sehr zufrieden. Leider haben die Bewohner keinerlei relevante Beobachtungen gemacht. Am Mittwochabend waren die meisten unterwegs beim italienischen Fest und heute Morgen haben sie ausgeschlafen. Ist ja schließlich Feiertag.«

»Leute!«, rief Staatsanwältin von Haunhorst genervt und stand auf. »Wo bleiben die Verdächtigen? Gibt es niemanden, der einen Grund haben könnte, Thomas Sobek zu ermorden?« Sie ging forsch um den Konferenztisch, blieb bei Reinders stehen und blickte ihn mit blitzenden Augen an.

Maike fühlte mit dem Kollegen Reinders, der nervös in seinen Papieren blätterte und schließlich fortfuhr: »Die Befragung der anderen Nachbarn brachte keine neuen Erkenntnisse. Wir haben auch die Aufnahmen der Überwachungskameras an der Star-Tankstelle geprüft. Zur fraglichen Zeit ist dort kein 10-jähriger Junge an der Seite eines Erwachsenen zu sehen. Weder gestern Abend noch heute Vormittag. Wir haben bereits um Mithilfe in der Bevölkerung gebeten. Das Lokalradio Antenne Unna sendet stündlich Aufrufe, wer Torben gestern Abend in der Innenstadt gesehen hat und auf der Internetseite des Senders ist ein Foto von dem Jungen zu sehen. Der Hellweger Anzeiger wird in seiner nächsten Ausgabe einen Bericht bringen. Online ist Torbens Bild mit Genehmigung seiner Mutter bereits veröffentlicht worden.«

Lina von Haunhorst legte Reinders versöhnlich eine Hand auf die Schulter. »Hoffen wir, dass das was bringt! Irgendwelche Ideen, welchen Ermittlungsansätzen wir nachgehen könnten?« Sie blickte fragend in die Runde.

Teubner ergriff erneut das Wort. »Sobeks Sekretärin hat uns die aktuellen Fälle des Anwalts herausgesucht. Ebenfalls die Fälle, die er in den letzten Jahren verloren hat. Da sind wir noch dran. Interessant dürfte die Überprüfung eines gewissen Bernd Büchner sein. Sobek hat seinen Fall vor Gericht auch in der Revision verloren. Büchner soll ausgerastet sein. Der Mann arbeitet in Unna als Stadtführer. Bislang konnten wir ihn nicht erreichen.«

Staatsanwältin von Haunhorst ging zurück zu ihrem Platz und setzte sich wieder neben Jochen Hübner. »Finden Sie den Mann! Fragen Sie beim Stadtmarketing nach und reden Sie mit ihm.«

Teubner nickte. »Wird erledigt.«

»Was ist mit den leiblichen Eltern von Torben? Gibt es da schon eine Spur?«, wandte sich Lina von Haunhorst nun an Maike.

Die trank hastig einen Schluck des Mineralwassers, das sie sich gerade eingeschenkt hatte, und hob die Hand. »Eine Jessika Waas ist weder in Unna noch in Dortmund gemeldet. Der Name des leiblichen Vaters, Jens Müller, ergab viel zu viele Treffer. Da sind wir noch dran. Müller gibt es ja leider wie Sand am Meer.«

Lina von Haunhorst nickte. »Konnte man herausfinden, um wen es sich bei diesem Heiner Straube handelt, der das Baby seinerzeit an die Sobeks vermittelt hat?«

Hübner blickte von Maike zu Teubner, der hob jedoch nur ratlos die Schultern. »Dazu bin ich noch nicht gekommen.«

»Heiner Straube?«, fragte Reinders und verstummte sofort wieder, sodass Maike den Eindruck hatte, als wünschte er, den Mund gehalten zu haben.

Staatsanwältin von Haunhorst blickte ihn überrascht an. »Ja. Sagt Ihnen der Name etwas?«

Maike bemerkte eine leichte Röte im Gesicht ihres Kollegen aufsteigen. Er drehte nervös einen Kuli in seiner Hand »Ich kenne einen Mann dieses Namens«, murmelte er.

To koniec darmowego fragmentu. Czy chcesz czytać dalej?