Festa mortale

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6. Kapitel

Seit einer Ewigkeit verstecke ich mich auf diesem gruseligen, dunklen Friedhof. Ich hocke geduckt hinter einem Grabstein. Mein Herzschlag rast. Meine Glieder fühlen sich kraftlos an. Ich kann mich kaum beruhigen. Ich habe es tatsächlich getan!

Den Schlüssel zum Büro seiner Kanzlei habe ich in einen der Büsche geschmissen. Ich denke, es war ein kluger Schachzug von mir, die Tür hinter mir abzuschließen. Es hat mir sicher ein wenig Luft verschafft. Ich brauche Zeit, um von hier zu verschwinden.

Niemals hätte ich gedacht, dass ich einen Menschen erschießen könnte. Ich kenne die Geschichte von Thomas Sobek, weiß, dass er Dinge getan hat, die nicht korrekt sind.

Aber rechtfertigt das einen kaltblütigen Mord?

Sobeks vor Schreck aufgerissene Augen werden sich in meine Seele brennen. Wie sie entsetzt auf den Lauf meiner Waffe starren. Er hatte Angst. Und er konnte nicht verstehen, warum er sterben soll. Hätte ich ihm das erklären sollen?

Ich habe es vorgezogen, zu schweigen. Ich musste mich auf meine Mission konzentrieren. Der Junge lag währenddessen bewusstlos auf der Liege. Ich würde es bedauern, wenn er im Unterbewusstsein mitbekommen hätte, was ich getan habe.

Thomas Sobek ist nun der dritte Mensch, der durch meine Verantwortung gestorben ist. Er wird nicht der letzte sein.

Wenn ich die Zeit zurückdrehen könnte, würde ich vieles anders machen. Aber nun muss ich mit meiner Schuld leben.

Ich bin ein Mörder!

7. Kapitel

Staatsanwältin Lina von Haunhorst setzte den leitenden Ermittler Jochen Hübner sofort nach seiner Ankunft über die aktuellen Ereignisse des Falles Torben Sobek in Kenntnis. Teubner beobachtete die beiden und bemerkte, wie vertraut sie miteinander umgingen. Das Team der Spurensicherung war bereits bei der Arbeit. Man hatte nach kurzer Besprechung beschlossen, den Tatort einzufrieren. Deshalb wurde ein 3-D-Laser-Scanner eingesetzt. Der Scanner konnte mit Hilfe von Laserstrahlen, die innerhalb von einer Minute und 41 Sekunden eine sogenannte Punktwolke erzeugten, ein 3-D-Bild generieren. Die Aufnahmen würden die Situation am Tatort konservieren. So ließ sich Sobeks Büro mit allen Details für weitere Ermittlungen sichern. Man konnte die Begebenheiten jederzeit rekonstruieren und aus verschiedenen Perspektiven ansehen. Auch bei einem späteren Prozess könnten die Aufnahmen helfen, das Geschehen besser nachzuvollziehen. Verändert worden war der Tatort zu diesem Zeitpunkt nur durch das Fehlen von Torben Sobek. Inzwischen waren die Kollegen der Kriminaltechnik bereits dabei, die vorhandenen Spuren zu sichern, zunächst untersuchten sie den engeren Tatort. Dazu gehörte in erster Linie Sobeks Büro, aber auch das Foyer, der Konferenz- und der Waschraum, sowie das Treppenhaus samt Eingangsbereich. Später würde noch der erweiterte Tatort dazukommen: Möglicherweise hatte jemand in der Nachbarschaft den Schuss gehört. Man musste die Fluchtwege checken, eventuelle Überwachungskameras prüfen und nach der Tatwaffe Ausschau halten, die der Täter vielleicht bei der Flucht weggeworfen hatte.

Teubner riss seinen Blick von einem DNA-Fachmann mit Ganzkörper-Schutzkleidung los, der gerade mit einem Wattestäbchen Abstriche von Stellen nahm, die der Täter angefasst haben könnte. Eine Polizeifotografin dokumentierte seine Handlungen. Da Teubner durch die Arbeit der Spurensicherer zunächst zur Untätigkeit verdammt war, gesellte er sich zu Sabine Brandt, die lethargisch hinter ihrem Tresen saß und ins Leere starrte. Der Notarzt hatte ihr ein leichtes Beruhigungsmittel gespritzt, ihr Mann war bereits informiert und würde sie mit einem Freund hier abholen. Die Sekretärin hatte sich vehement gesträubt, ins Krankenhaus gebracht zu werden. Auch auf die Betreuung durch einen Polizeipsychologen hatte sie verzichtet.

Teubner trat auf den Empfangstresen zu. »Fühlen Sie sich in der Lage, mir einige Fragen zu beantworten, Frau Brandt?«, fragte er leise.

Der Blick ihrer blaugrauen Augen klärte sich etwas. Sie schob den Wust ihrer Locken hinter ihre Ohren und hob zaghaft die Schultern. Schließlich nickte sie. »Ich verstehe das nicht und frage mich die ganze Zeit, wer ihm das angetan haben kann.«

»Das werden wir herausfinden. Die Kollegen von der Kriminaltechnik sind bereits bei der Arbeit. Der Tatort ist für uns so etwas wie das Verbindungsteil zum Täter. Wir versuchen, so viele Informationen wie möglich daraus zu lesen und alle relevanten Spuren zu sichern. Hatte Herr Sobek Feinde?«

Sabine Brandt verschränkte die Arme vor der Brust. »Feinde …« Sie seufzte. »Was heißt das schon? Natürlich hat er sich als Rechtsanwalt nicht nur Freunde gemacht. Aber ich wüsste niemanden, der ihn deswegen abknallen würde.«

Teubner überlegte einen Augenblick, wie er der Frau begreiflich machen konnte, wie wichtig ihre Aussage für die Ermittlungen war. »Frau Brandt«, begann er. »Die Aufklärungsquote bei Mord liegt in Deutschland bei über 90 Prozent. Sie ist so hoch, weil es meist eine Täter-Opfer-Beziehung gibt. Solche Verbrechen haben eine Vorgeschichte, die uns helfen könnte, den Täter zu ermitteln, wenn wir sie kennen. Da Herr Sobek hier in der Kanzlei erschossen wurde, deutet vieles darauf hin, dass sein Beruf mit dem Mord zu tun hat. Also überlegen Sie bitte genau: Gab es in letzter Zeit Schwierigkeiten mit Mandanten? Vielleicht ein Urteil, das als ungerecht empfunden wurde?«

Die Sekretärin rollte mit ihrem Stuhl vor den Bildschirm, dann fuhr sie den Computer hoch und tippte kurz auf der Tastatur. »Spontan fällt mir da nur ein Mandant ein. Warten Sie, ich öffne kurz den Terminplaner …« Plötzlich zeigte sie mit dem Finger auf den Bildschirm. »Hier! Sehen Sie? Am Dienstagnachmittag hatte er um 15 Uhr einen Termin. Bernd Büchner. Ziemlich penetrante Person. Fühlt sich zu Unrecht verurteilt. Dabei hat er nur eine Bewährungsstrafe bekommen. Der Mann arbeitet in Unna als Gästeführer. Hat seit dem Termin am Dienstag bestimmt fünf Mal angerufen.«

Teubner stützte seine Unterarme auf die helle Marmorplatte des Tresens und schaute auf den Bildschirm, den die Sekretärin zu ihm drehte. »Was hat der Mann verbrochen?«

Sabine Brandt blickte ihn zweifelnd an. »Das fällt unter die anwaltliche Schweigepflicht. Darf ich Ihnen das sagen?«

»Wir sind mit einer richterlichen Durchsuchungsanordnung hergekommen. Wir dürfen alle Akten konfiszieren. Schließlich bearbeiten wir einen Mordfall. Sie würden uns eine Menge Arbeit ersparen, wenn Sie mir den Grund der Verurteilung von Herrn Büchner nennen.«

»Also gut«, seufzte die Sekretärin. »Als er erfahren hat, dass seine Ex einen neuen Freund hatte, ist er ausgerastet. Er hat zunächst sein Auto gerammt, danach auch den Gartenzaun und damit einen Sachschaden in Höhe von 25.000 Euro verursacht. Das Gericht verurteilte ihn zu einer Bewährungsstrafe von einem Jahr. Zudem muss er den Schaden bezahlen und die Gerichtskosten. Eine Rechtsschutzversicherung hat er nicht.«

Teubner pfiff leise durch die Zähne. »Da summiert sich was. Wir werden den Mann überprüfen. Kommt Ihnen sonst noch jemand in den Sinn?«

»Auf Anhieb nicht. Aber ich kann mir die Fälle der letzten Monate ansehen. Vielleicht kann ich Ihnen dann mehr dazu sagen.«

Während Teubner sich nun lässig mit dem Ellbogen am Tresen abstützte, beobachtete er, wie Staatsanwältin von Haunhorst sich verabschiedete und Jochen Hübner das Feld überließ. »Damit würden Sie uns sehr helfen, Frau Brandt. Ein Ausdruck mit den Namen der Beschuldigten dürfte reichen. Ihnen liegen die jeweiligen Akten doch bestimmt auch in digitaler Form vor?«

»Natürlich«, nickte die Sekretärin und machte sich sogleich an die Arbeit. Sie wirkte nun professionell und nicht mehr so mitgenommen.

Teubner bedankte sich und wandte sich an Ermittlungsleiter Hübner. »Soll ich mich in der Nachbarschaft umhören?«

Hübner schüttelte den Kopf. »Nein. Das erledigen schon die Kollegen Reinders und Schmidtke mit zwei weiteren Beamten von Ihrer Dienststelle. Ein Spezialist der Kriminaltechnik öffnet gerade den Tresor in Sobeks Büro. Um den Inhalt können Sie sich kümmern.«

Im selben Moment kam der Techniker bereits ins Foyer. In seinen Händen hielt er einen Aktenordner, eine kleine Pappschachtel und eine Geldtasche. »Zur Beweissicherung?«

Hübner schüttelte den Kopf. »Nein. Wir werden erst einen Blick darauf werfen.« Er nickte Teubner zu.

Der streifte sich erneut Handschuhe über und zog sich mit den Unterlagen in den Konferenzraum zurück. Er setzte sich auf einen der schweren Lederstühle und öffnete zunächst die Pappschachtel. Sofort pfiff er leise durch die Zähne.

Hübner, der hinter ihn getreten war, staunte. »Sieh einer an. Eine Glock 17, neun Millimeter, würde ich sagen. Der Besitz einer Waffe könnte darauf hindeuten, dass Herr Sobek sich nicht unbedingt sicher gefühlt hat. Ich werde mal checken, ob er eine Waffenbesitzerlaubnis hat. Vielleicht ist die Sekretärin informiert.« Er verließ mit der Pistole den Konferenzraum und schloss die Tür hinter sich.

Teubner öffnete die Geldtasche. Er fand zwei mit Banderolen gebündelte Packen von 50-Euroscheinen. Bargeld in Höhe von 10.000 Euro. Ob der Anwalt das Geld als Notgroschen deponiert hatte? Woher kam es? Hatte Thomas Sobek vielleicht illegale Geschäfte getätigt? Teubner stand auf und folgte Hübner zum Tresen der Sekretärin. So hörte er ihre Erläuterung zur Waffe.

»Nein. Herr Sobek hatte keine Angst vor einem Überfall oder dergleichen. Er war Sportschütze. Die Glock nahm er nur zu seinem Training aus dem Safe und legte sie danach sofort wieder zurück.«

»Er hatte also einen Waffenbesitzschein?«, fragte Hübner.

 

»Selbstverständlich«, erklärte Sabine Brandt und nickte so kräftig, dass ihre rotbraunen Locken tanzten. »Er war Mitglied im Sportschützenverein Heeren-Werve e.V. und ging jeden Dienstagabend zum Training.«

Teubner trat neben Hübner und legte die Geldtasche mit den 50-Euro-Bündeln auf den Tresen. »Das sind 10.000 Euro. Hatte Ihr Chef immer so viel Geld im Safe? Was wissen Sie davon? Können Sie die Herkunft des Geldes belegen?«

Sabine Brandt wirkte nicht die Spur überrascht oder nervös. Sie lächelte lediglich nachsichtig und erklärte: »Es gibt immer noch Mandanten, die ihre Rechnungen bei uns bar bezahlen möchten. Die 10.000 Euro stammen von einem Gebrauchtwagenhändler, der immer mal wieder unsere Dienste in Anspruch nehmen muss. Gerade beim Handel mit gebrauchten Autos gibt es oft Kunden, die sich übervorteilt fühlen und ihr Recht vor Gericht durchsetzen möchten.«

»Da müssen Sie aber einen saftigen Satz berechnen, wenn solche Summen dabei zustande kommen«, mischte sich Hübner ein.

Erneut lächelte Sabine Brandt und zeigte sich dabei überhaupt nicht verlegen. »Besagter Mandant hatte durch die ewigen Diskussionen um das Dieselfahrverbot und zudem der Forderung einiger Politiker, sämtliche Autos mit Verbrenner-Motoren zu verbieten, einen derartigen Verkaufseinbruch, dass wir ihm die fälligen Rechnungen gestundet haben. Seit dem zweiten Quartal dieses Jahres lief sein Betrieb wieder besser, so konnte er die ausstehenden Rechnungen gestern bezahlen.«

»Der Name des Händlers?«, fragte Hübner.

Sabine Brandt legte die Stirn in Falten. »Einen Moment.« Sie tippte auf der Tastatur. »Herr Martin Borsutzky. Er hatte gestern Abend um 17 Uhr einen Termin bei Herrn Sobek. Als der Mandant gegangen ist, hatte die Bank bereits geschlossen, deshalb lag das Geld noch im Safe. Der genaue Endbetrag ist mit 9927,35 Euro beziffert. Vom Rest sollte Herr Sobek mit seiner Freundin hübsch essen gehen.«

Hübner nickte. »Drucken Sie uns die Aufstellung bitte aus.« Er wandte sich an Teubner. »Und Sie überprüfen das!«

Sabine Brandt betätigte die Druckfunktion, kurz darauf ratterte der Drucker in ihrem Rücken. Fast gleichzeitig erklang die Türklingel. Mit einem Blick auf den kleinen Bildschirm erklärte sie: »Mein Mann ist da. Darf ich ihn hereinlassen?«

»Nein«, erklärte Hübner bestimmt. »Wir haben hier einen Tatort, auf dem schon genug Spuren zertrampelt wurden. Ihr Gatte soll sich ein paar Minuten gedulden, Sie dürfen gleich gehen. Wir brauchen lediglich noch eine DNA-Probe von Ihnen. Wie weit sind Sie mit der Liste möglicher Verdächtiger?«

Die Sekretärin seufzte. »Das fiel mir ehrlich gesagt schwer. Ich kam mir vor wie ein Scharfrichter. Deshalb habe ich Ihnen eine Liste mit allen Fällen gemacht, die Herr Sobek im letzten halben Jahr vor Gericht verloren hat. Es sind nur vier Namen. Die meisten hat er gewonnen. Die zugehörigen Akten habe ich Ihnen auf einem Stick abgespeichert.« Sie schob zwei Ausdrucke und einen USB-Stick auf den Tresen.

Teubner bedankte sich für die Mithilfe der Sekretärin, danach verwies er sie an einen Kriminaltechniker, der ihre DNA zum Abgleich sichern sollte. »Ach, zwei Fragen hätte ich doch noch«, wandte er sich erneut an sie, als der Kollege bereits den Abstrich aus ihrem Mund genommen hatte. »Wann haben Sie gestern Abend die Kanzlei verlassen und waren zu dem Zeitpunkt bereits alle Jalousien heruntergelassen?«

Sabine Brandt griff nach ihrem Strohhut und der Sonnenbrille. »Ich habe so gegen 17.30 Uhr Feierabend gemacht. Herr Borsutzky war bereits gegangen. Herr Sobek wollte noch einige Akten abarbeiten. Da er wusste, dass ich das Wochenende am Möhnesee verbringen würde, ließ er mich früher gehen. Die Jalousien waren da noch oben.«

»Aber sie werden gewöhnlich verschlossen, wenn niemand mehr im Büro ist?«, setzte Teubner nach.

»Ja. In das Gebäude wurde vor Jahren einmal eingebrochen.«

»In diese Kanzlei? Hat man die Täter gefasst?«

»Es betraf nur die Notarbüros im Erdgeschoss. Da ging es, glaube ich, um ein gestohlenes Testament. Mehr weiß ich nicht.«

»Solche Dokumente werden eigentlich beim Nachlassgericht hinterlegt«, sinnierte Teubner. »Und seitdem gibt es auch die Überwachungskamera am Eingang?«

Sabine Brandt nickte. »Genau.«

»Werden die Aufnahmen gespeichert oder nur in Echtzeit übermittelt? Eventuelle Bänder könnten uns weiterhelfen.«

Die Sekretärin hob ratlos die Schultern. »Tut mir leid. Dazu kann ich leider nichts sagen. Ich musste mich nie darum kümmern.«

Teubner bedankte sich und entließ die Frau. »Ich sehe mir jetzt zunächst den Aktenordner aus dem Safe an«, erklärte er Hübner und zog sich wieder in den Konferenzraum zurück. Bevor er sich an den etwa fünf Meter langen Tisch mit einer Baumkanten-Platte setzte, ging er zur Fensterseite und betätigte den Schalter für die elektrische Jalousie. Langsam wurde das Zimmer mit Sonnenlicht durchflutet. Sein Blick fiel auf die Massener Straße, wo zahlreiche Passanten in Richtung Innenstadt pilgerten. In dem Raum fielen Teubner mehrere Gemälde von Segelbooten an den Wänden auf. Als er sie aus der Nähe betrachtete , erkannte er die Signatur TS. Ob Sobek sie selbst gemalt hatte? Teubner schaltete das elektrische Licht aus, zog sich den Aktenordner zu einem Stuhl, der nahe am Fenster stand, und setzte sich. Ihm fiel sogleich auf, dass der Ordner nicht beschriftet war. Zudem wirkte er alt, als hätte er schon eine lange Zeit im Safe gelegen. Neugierig schlug er den Aktendeckel auf. Nach einigem Blättern erkannte er, dass die hier gesammelten Informationen nichts mit der Kanzlei oder Sobeks Beruf als Anwalt zu tun hatten.

»Der Ordner betrifft Torben«, murmelte er und blätterte weiter. Scheinbar waren hier Abmachungen in einem persönlichen, inoffiziellen Vertrag abgeheftet. Vertragspartner war ein Heiner Straube. Was es mit diesem Vertrag auf sich hatte, konnte Teubner nicht auf einen Blick ausmachen. Ganz unten im Ordner befand sich eine Klarsichthülle mit einer Urkunde. Teubner zog sie heraus.

»Eine Geburtsurkunde«, murmelte er und las. »Torbens Geburtsurkunde«, rief er überrascht und fragte sich, warum die sich nicht im Familienstammbuch der Sobeks befand. Als sein Blick den Namen der Eltern traf, schob er erregt seinen Stuhl zurück und sprang auf. »Das gibt es doch nicht.« Er stürmte aus dem Raum direkt auf Hübner zu, der gerade ein Telefonat beendete.

»Torben ist nicht das leibliche Kind der Sobeks!«, begann er und hatte sofort die Aufmerksamkeit seines Vorgesetzten. »Seine leibliche Mutter heißt Jessika Waas. Als Vater ist ein Jens Müller eingetragen.«

Hübner nahm ihm das Dokument aus der Hand und überflog es. »Seltsam, dass Alessia Sobek hiervon nichts erwähnt hat. Geht aus den Akten hervor, ob eine legale Adoption stattgefunden hat?«

Teubner schüttelte den Kopf. »Nein. Das sieht eher nach einer internen Kungelei aus. So wie ich die Aufzeichnungen deute, hat ein Heiner Straube das Baby der Jessika Waas an die Sobeks vermittelt.«

Hübner nickte und rieb sich nachdenklich den konturierten Bart. »Dann sollten wir schnellstens herausfinden, wer dieser Straube ist und was er macht. Immerhin ist es möglich, dass er oder die leibliche Mutter hinter dem Mord an Sobek stecken. Vielleicht wollten sie den Jungen zurückhaben. Andersherum stellt sich natürlich die Frage, warum sie Torben dann hier zurückgelassen haben. Kollegin Graf soll darüber mit Alessia Sobek reden. Wenn wir Glück haben, ist sie noch in der Kinderklinik Dortmund und wir wissen gleich mehr. Ich werde sie sofort instruieren.« Er griff nach seinem Smartphone, und Teubner staunte, wie schnell er die Nummer von Maike parat hatte. So ganz gleichgültig schien dem Ermittlungsleiter seine Ex-Freundin wohl nicht zu sein.

8. Kapitel

Maike hatte während der gesamten Fahrt von Unna im Notarztwagen nach Dortmund die Hand von Torben gehalten und ihm dabei sanft mit dem Daumen über den Handrücken gestreichelt. Sein blasses Gesicht wirkte zerbrechlich wie hauchdünnes Porzellan. Seine Atmung verlief gleichmäßig, allerdings sei die Sauerstoffsättigung im Blut unzureichend, erklärte der Notarzt. Man wollte ihn zur Vorsicht auf die Intensivstation bringen. Dort lag Torben nun an mehrere Schläuche und Kabel angeschlossen und im Beisein seiner Mutter, die nicht lange nach ihm eingetroffen war. Über die anhaltende Bewusstlosigkeit machten sich die Ärzte Sorgen, ansonsten sei sein Gesundheitszustand stabil.

Als der Anruf von Jochen Hübner einging, drückte Maike das Gespräch schnell weg und verabschiedete sich leise. Dann eilte sie durch die verwinkelten Gänge des Gebäudes, bis sie endlich den Ausgang bei der Kinderchirurgie fand und befreit aufatmend ins Freie trat. Krankenhäuser waren ihr immer ein Gräuel gewesen. Die Kinderklinik südlich der Innenstadt war Teil der Klinikum-Dortmund-GmbH, das als das größte Krankenhaus Nordrhein-Westfalens galt.

Maike wählte die Rückruffunktion und blickte auf die rötliche Backsteinfassade der mehrstöckigen Kinderklinik, während sie wartete, dass Jochen das Gespräch annahm. An der Beurhausstraße näherte sich mit eingeschaltetem Martinshorn ein Rettungswagen, der das Klinikum auf der gegenüberliegenden Straßenseite ansteuerte. Er bog ein Stück weiter von der Straße ab, erst da konnte die Hauptkommissarin ihren Gesprächspartner verstehen.

»Hallo, Maike«, grüßte Hübner kurz. »Es haben sich Hinweise ergeben, dass die Sobeks nicht Torbens leibliche Eltern sind. Wenn es möglich ist, sprich Alessia Sobek darauf an.« Hübner brachte Maike mit knappen Worten auf den aktuellen Ermittlungsstand. »Die Staatsanwältin hat eine erste Dienstbesprechung heute um 18 Uhr im KK 11 anberaumt. Kommst du von der Kinderklinik ins Präsidium oder soll ich dich abholen lassen?«

Maike blickte auf die U-Bahnstation direkt vor ihrer Nase. »Macht euch keine Mühe, ich werde pünktlich sein.« Sie verabschiedete sich von Jochen, dabei fiel ihr Blick auf die mehrgeschossigen Gründerzeithäuser in einer Seitenstraße, wo sich im Erdgeschoss neben einem Getränkeshop auch eine Grillstube befand. Seit dem Frühstück um 9 Uhr hatte sie nichts mehr gegessen und nun zeigte ihr Smartphone bereits 16.15 Uhr an. Eine Viertelstunde später betrat Maike die Kinderklinik mit zwei Pizzakartons sowie zwei Bechern Coffee to go und steuerte erneut die Intensivstation an, wo sie eine Schwester bat, Alessia Sobek hinauszubitten. Kurz darauf gesellte sich die brünette Italienerin zu ihr und sie betraten gemeinsam den Aufenthaltsraum, wo sie sich an einen Zweiertisch setzten.

»Gibt es schon Neuigkeiten über den Gesundheitszustand Ihres Sohnes?«, begann Maike.

»Nein. Er ist immer noch bewusstlos. Vermutlich wurde ihm eine Überdosis des Betäubungsmittels gespritzt.« Sie hatte Mühe, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten, und ihre Stimme klang weinerlich, als sie weitersprach. »Torben ist so zart.« Sie rieb sich die Augen. »Ich bete jede Sekunde, dass er das Verbrechen an seinem Vater nicht bewusst miterleben musste.«

Maike nickte. Sie nippte an ihrem Kaffee und griff nach einem Stück Pizza. »Frau Sobek«, begann sie, »meine Kollegen haben eine Geburtsurkunde von Torben gefunden, die eine Jessika Waas und einen Jens Müller als leibliche Eltern Ihres Sohnes ausweist. Warum haben Sie uns das verschwiegen?«

Die Italienerin verschränkte die Arme vor der Brust, ihr Gesichtsausdruck wirkte verbissen. »Das ist unmöglich!«, sagte sie knapp.

»Unmöglich, weil Sie Torben selbst zur Welt gebracht haben, oder unmöglich, da diese Urkunde nicht existieren darf?«, fragte Maike.

Alessia Sobek griff nach ihrem Kaffee und trank den Becher halb leer. »Ihre Kollegen müssen sich irren. Torben ist mein Sohn!«

Maike zog ihr Smartphone aus der Hose. »Ich werde ein Foto der Urkunde anfordern.« Sie schickte eine Kurznachricht an Teubner, kurz darauf konnte sie Alessia Sobek das Dokument zeigen.

»Dieser Idiot«, murmelte sie. »Ich dachte, Thomas hätte alle Unterlagen vernichtet. Wir besitzen eine legitime Geburtsurkunde vom Standesamt, die Thomas und mich als leibliche Eltern ausweist.«

»Die Sie aber nicht sind?«, hakte Maike nach.

Torbens Mutter seufzte und ließ die Hand, mit der sie gerade nach einem Stück Pizza greifen wollte, sinken. »Nein. Nach zwei Totgeburten haben mir die Ärzte empfohlen, auf eigene Kinder zu verzichten. Das Risiko sei zu groß. Wir wollten damals ein Baby adoptieren. Ganz legal. Allerdings sind die Hürden, die das Jugendamt setzt, sehr hoch.« Sie griff nun doch nach der Pizza, nahm einen winzigen Biss, spülte mit einem Schluck Kaffee nach und warf dann schwungvoll ihre langen Haare auf den Rücken. »Man musste immer wieder Fragen beantworten und warten. Das zog sich bei uns schon fast ein Jahr hin. Ich glaube, eine Schwierigkeit war, dass ich gebürtige Italienerin bin, obwohl ich doch einen deutschen Pass habe. Man hat das nie so direkt gesagt, aber … na ja … Dann ging es um die Wohnverhältnisse, die Berufstätigkeit, die psychologische Eignung, Gesundheit und was weiß ich nicht noch alles. Und plötzlich ergab sich die Sache mit Torben.« Sie lächelte, lehnte sich zurück und biss erneut zaghaft von der Pizza ab.

 

»Die Sache mit Torben müssen Sie mir genauer erklären«, forderte Maike.

»Dazu kann ich leider nicht viel sagen«, erwiderte Alessia Sobek. »Ich war damals mit den Nerven ziemlich am Ende. Schon schlimm genug, dass ich keine Kinder gebären sollte, da machte mir das Jugendamt noch das Leben schwer. Und plötzlich kam Thomas mit einem Baby nach Hause. Ich sah das kleine Würmchen mit den damals noch blauen Augen und war sofort verliebt.« Sie lächelte versonnen. »Als ich ihn auf dem Arm hielt, spürte ich ein Glücksgefühl, als sei ich tatsächlich Mutter geworden. Für kein Geld der Welt hätte ich das Baby wieder hergeben wollen.«

»Das ist ja alles schön und gut«, erklärte Maike ungeduldig und stand auf. »Mich interessiert: Woher hatte Ihr Mann das Baby?«

Die Gesichtszüge von Alessia Sobek spiegelten einen gewissen Trotz wider. »Das hat Thomas mir damals nicht gesagt. Er meinte, es sei besser für mich, keine Einzelheiten zu wissen.«

»Und damit gaben Sie sich zufrieden?«

Alessia Sobek warf das angebissene Pizzastück zurück, schloss den Karton und stand schwungvoll auf. Mit ihrer kräftigen Figur schob sie den Stuhl so rasant zurück, dass er umfiel. Zwei Mütter, beide mit Kopftuch, die am anderen Ende des Aufenthaltsraums mit ihren etwa 6-jährigen Kindern Karten spielten, blickten neugierig herüber. »Haben Sie eine Ahnung, wie es ist, wenn man sich über alles in der Welt ein Baby wünscht, es aber nicht klappt? Wissen Sie, wie es sich anfühlt, zwei Mal ein totes Baby zur Welt zu bringen?« Ihre Augen blitzten wütend, ihre Stimme hatte einen schrillen Klang angenommen.

Maike schüttelte langsam den Kopf. »Frau Sobek, wir suchen den Mörder Ihres Ex-Mannes. Wir müssen dabei jeder Spur nachgehen. Es ist durchaus möglich, dass diese Geschichte von damals eine Rolle bei dem Mordfall spielt. Schließlich war zunächst Torben verschwunden, und wir wissen immer noch nicht, ob er gestern mit Ihrem Mann mitgegangen ist oder vielleicht sogar mit dem Mörder Ihres Mannes.«

Die Kinnlade von Alessia Sobek klappte herunter. Sie hob den Stuhl wieder auf und setzte sich. »Sie glauben, Torbens leibliche Eltern könnten mit dem Mord an meinem Ex-Mann zu tun haben?«

Maike setzte sich ebenfalls. »Wir können es jedenfalls nicht ausschließen. Wir stehen ja noch ganz am Anfang der Ermittlungen.«

Alessia Sobek rieb sich die Handflächen an ihrer schwarzen Hose trocken. »Ich kann Ihnen dennoch nicht helfen. Natürlich habe ich Thomas noch einige Male auf die Herkunft des Babys angesprochen, er hat sich jedoch nie zu den Umständen geäußert. Es tut mir leid.«

»Die Namen Jessika Waas und Jens Müller sagen Ihnen nichts?«

Torbens Mutter schüttelte den Kopf.

Maike blickte die junge Frau einen Moment schweigend an. Sie glaubte ihr. Warum hätte sie lügen sollen? »Sie sagten gestern, Ihre Ehe sei nicht besonders glücklich gewesen. Als Sie sich von Ihrem Mann trennten, kam das Thema von Torbens Herkunft da noch einmal auf den Tisch? Haben Sie ihn damit vielleicht unter Druck gesetzt, um an das Sorgerecht zu gelangen? Schließlich hätte ihm diese Geschichte beruflich zum Verhängnis werden können.«

Der Blick der Italienerin wirkte überrascht. »Nein«, sagte sie. »Ich habe tatsächlich kurz an diese Möglichkeit gedacht. Aber ich hätte mir wohl auch selbst geschadet. Zudem erschien mir das Risiko zu groß, dass Torben auf diese Weise erfahren würde, dass wir nicht seine leiblichen Eltern sind.«

»Wie würden Sie Ihren Ex-Mann einschätzen? Glauben Sie, er arbeitet immer auf seriöse Art und Weise? Oder gab es andere Fälle, die dem der illegalen Babyvermittlung ähnlich sind?«

Alessia Sobek hob die Schultern. »Ich habe mich nie sonderlich für die Arbeit von Thomas interessiert. Ich war damals viel zu fokussiert auf seine ständigen Frauengeschichten. Außerdem sind wir inzwischen vier Jahre geschieden. Sie sollten seine Sekretärin fragen. Die kann Ihnen über sein Geschäftsgebaren gewiss Auskunft geben.«

»Was wissen Sie über die Hobbys Ihres Ex-Mannes?«

Alessia Sobek schaute nervös auf die Uhr. »Wir sitzen hier nun schon über eine halbe Stunde. Ist das wirklich wichtig? Mein Gott … damals hat er viel gemalt, um runterzukommen. Das hat ihn entspannt. Er liebte die See und das Segeln. Das spiegelte sich auf seinen Bildern wider. Ach ja, und sein Schießtraining natürlich, das war ihm heilig.«

»Hat er das Schießen nur als Hobby gesehen oder fühlte er sich bedroht? Wann hat er damit begonnen?«

Die Italienerin seufzte und wurde immer unruhiger. »Als wir uns kennenlernten, war er bereits Sportschütze. Sein bester Freund war Polizist, der hat ihn wohl dahingebracht. Und wenn Sie mich nun entschuldigen würden, ich möchte zurück zu Torben.« Ihre Stimme nahm einen gereizten Tonfall an und sie machte Anstalten, aufzustehen. Im selben Moment öffnete sich die Tür des Aufenthaltsraums und eine Großfamilie trat ein. Die etwa zehn Personen stürmten mit großem Bohei auf die beiden Frauen mit den Kleinkindern zu und begrüßten sie überschwänglich. Alessia Sobek stand auf und wirkte überaus genervt.

Maike erhob sich ebenfalls. »Gehen wir auf den Flur«, rief sie gegen die Lautstärke im Raum an. »Ich habe nur noch zwei Fragen.« Maike sah, wie Alessia Sobek ihre fast unberührte Pizza in den Müll warf. Auch, wenn ihre eigene jetzt kalt geworden war, sie würde sie gleich im Auto essen, das forderte ihr knurrender Magen. Sie nahm die leeren Kaffeebecher und warf sie in einen bereitstehenden Mülleimer, dann verließ sie hinter Alessia Sobek den Aufenthaltsraum und schloss die Tür hinter sich. »Sie haben heute früh mit Ihrem Mann telefoniert. Wann war das? Kam Ihnen sein Verhalten dabei merkwürdig vor oder wirkte er so wie immer?«

Die Italienerin verdrehte die Augen und schlug den Weg Richtung Intensivstation ein. »Was weiß ich? Ich war stinksauer, weil ich dachte, Thomas habe Torben bei sich. Aber nein … er hat reagiert wie immer, wenn ich auf hundertachtzig war: überlegt und besonnen. Er hat das Gespräch ziemlich abrupt beendet, weil es bei ihm an der Tür geklingelt hat.«

Maike hob überrascht die Augenbrauen. »Wann genau war das? Hat er gesagt, wen er erwartet?«

Alessia Sobek zog ihr Smartphone aus der Hosentasche und wischte einige Male darüber. »Ich habe ihn um 11.36 Uhr angerufen. Das Telefonat hat keine zwei Minuten gedauert. Thomas meinte, es müsse die Polizei sein, die sein Büro durchsuchen will. Da hat er sich wohl geirrt.«

Maike bedankte sich. Sie hatten inzwischen den Eingang zur Intensivstation erreicht. »Eine letzte Frage, dann sind Sie mich los. Hatte Ihr Ex-Mann Feinde? Fällt Ihnen irgendjemand ein, der ihm nach dem Leben trachten könnte?«

Alessia Sobek betätigte die Klingel zur Intensivstation und nannte kurz darauf ihren Namen. Der Türöffner summte und sie drückte die Tür einen Spalt auf. »Wie ich Ihnen gestern bereits sagte, konnte Thomas sehr dominant sein und wusste, seinen Willen durchzusetzen. Damit hat er sicher vielen Menschen auf die Füße getreten. Dennoch wüsste ich niemanden, der dafür einen Mord begehen könnte. Aber mein Kontakt zu ihm beschränkte sich in den letzten vier Jahren auf das Nötigste.«