Wie bringe ich die Kuh tanzend vom Eis?

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Ein kleiner Ausflug zur Selbsthypnose und den Klopftechniken

Wenn wir uns nun den unglücklichen Smileys zuwenden, die in der Abbildung 5 zwar abgekoppelt sind, aber doch immer noch über Anton schweben, und damit Antons negative Erfahrungen aus seiner Schulzeit repräsentieren, können wir hier beispielsweise mithilfe der Selbsthypnose oder auch der Klopftechniken regulierend und heilend eingreifen.

Durch die dadurch entstehende Verknüpfung mit Ressourcen und der Unterstützung aus dem Jetzt können die schwierigen Ereignisse aus der Vergangenheit in der Gegenwart neutral oder sogar als Ressourcen erlebt werden, sodass aus den unglücklichen Smileys glückliche Smileys werden können (Abb. 6). Somit werden diese Erlebnisse in der Zukunft nicht mehr negativ aktiviert und können demzufolge auch in anderen Kontexten höchstwahrscheinlich keine Problemtrancen mehr anregen.

Besonders geeignet sind die Selbsthypnosen im Kapitel »Die Selbsthypnose zur Gestaltung des Erlebens« (S. 102) sowie die Klopftechniken (S. 130).

Abb. 6: Heilung der vergangenen Erlebnisse: Antons zurückliegende Erfahrungen, die mit Hilflosigkeit gekoppelt waren, werden geheilt und haben somit keinen oder kaum noch einen negativen Einfluss, sondern sind nun auch mit dem Erleben von Selbstwirksamkeit gekoppelt.

Der Sympathikus und Parasympathikus des autonomen Nervensystems

Im Folgenden möchte ich auf das autonome Nervensystem eingehen, weil es die oben beschriebenen Darstellungen auf einer anderen Ebene erklärt bzw. ergänzt und einen elementaren Einfluss auf unsere Gefühle, Empfindungen, Gedanken und Wahrnehmung hat.

Unser autonomes Nervensystem8 reguliert in einer sehr komplexen Art und Weise unser Überleben, indem es für sämtliche Grundfunktionen des Körpers zuständig ist. Ich möchte es hier in einer vereinfachten und reduzierten Form beschreiben.

Die wichtigsten Funktionen des autonomen Nervensystems werden in diesem Zusammenhang von den zwei Strängen, dem Sympathikus und dem Parasympathikus, bestimmt. Durch ihre Aktivität reagieren wir im Wechselspiel körperlich und psychisch auf Anforderungen der Umgebung. Die beiden stellen Gegenspieler, sogenannte Antagonisten, dar und reagieren völlig autonom und unbewusst. Im Grunde ist es wie bei einem Tanzpaar: Geht der eine nach vorne, geht der andere automatisch zurück. Oder anders ausgedrückt: Ich entspanne mich und die Anspannung wird unmittelbar reduziert.

Der Sympathikus

Hierbei ist der Sympathikus zuständig für Anspannung und Stressreaktionen. Wenn wir uns bedroht fühlen, löst der Sympathikus die sogenannte Kampf- oder Fluchtreaktion als aktives Verteidigungsverhalten aus. Dann steigen zum Beispiel Blutdruck und Herzschlag, die Verdauung und die Blasenkontraktion hingegen werden gehemmt, die Pupillen und Bronchien weiten sich, und es kommt zur Ausschüttung der Stresshormone Adrenalin und Noradrenalin. In gefährlichen Situationen, in denen man sich wirklich körperlich wehren oder fliehen muss, ist diese Hormonausschüttung sehr sinnvoll. Allerdings kommt es hierbei auch zu massiven Aktionen aus dem Affekt heraus, die der betreffenden Person in dem Moment unkontrollierbar erscheinen.

Innerhalb der sogenannten Kampf- oder Fluchtreaktion findet durch die stattfindende Hormonausschüttung von Adrenalin und Noradrenalin ein Rückkopplungsstopp statt, da der Sympathikus durch die bereits aktivierten Hormone noch mehr Neurotransmitter ausschüttet, der dann wiederum eine noch stärkere Hormonausschüttung aktiviert.

Wie man sich leicht vorstellen kann, können Menschen dadurch in eine Art Dauerschleife von Stresserleben geraten, was sich gesundheitlich sehr schädigend auswirken kann. Es kann dazu führen, dass Menschen häufig Angst haben oder permanent körperlich und psychisch angespannt sind.

Entstanden ist dieses Programm im Laufe der stammesgeschichtlichen Entwicklung des Menschen. Es hat die Funktion, vor Gefahren jeglicher Art zu schützen, und unterscheidet nicht, ob es sich dabei um einen angreifenden Tiger oder um beruflichen Stress handelt. Sobald eine Bedrohung oder eben auch nur eine vermeintliche Bedrohung im Leben eines Menschen auftaucht, reagiert dieses Programm, um das Überleben des Menschen zu sichern, indem es seine körperlichen Fähigkeiten zu kämpfen oder zu fliehen maximiert und viel Energie zur Verfügung stellt. Das führt natürlich in der heutigen Zeit in unserem Lebensumfeld zu viel unnötigem und vermeidbarem Stressempfinden.

Der Parasympathikus

Der Parasympathikus dahingegen ist zuständig für die inneren Organe und für jegliche Entspannungsphasen des Organismus. Er verlangsamt den Herzschlag, senkt den Blutdruck, kontrahiert die Pupillen, Blase und Bronchien und stimuliert die Verdauungsprozesse. Also ist der Sympathikus zuständig für die Aktivierung der akut notwendigen Körperfunktionen und der Parasympathikus für die Beruhigung der Grundfunktionen des Körpers. Es ist ein lebendiges Wechselspiel, welches ganzheitlich auf die Anforderungen der Umwelt reagiert und dafür sorgt, dass der Körper im Gleichgewicht und das Überleben gesichert ist.

Hier kommt das sogenannte Stress-Toleranz-Fenster ins Spiel. Es illustriert das Wechselspiel und die daraus folgenden Konsequenzen für Körper und Psyche.

DAS STRESS-TOLERANZ-FENSTER

Wir erleben also tagtäglich permanent ein Wechselspiel von den Reaktionen des Sympathikus und Parasympathikus. In diesem Zusammenhang möchte ich Ihnen das sogenannte Stress-Toleranz-Fenster vorstellen. In ihm kann man die Reaktionen beider Wechselspieler des autonomen Nervensystems abbilden, welche all unsere Entscheidungen beeinflussen (s. auch Der achtsame Therapeut von Daniel Siegel 2010, ab S. 89).

Abb. 7: Das Stress-Toleranz-Fenster9: Im Wechselspiel des Anspannungsniveaus von Sympathikus und Parasympathikus gibt es ein optimales Lernfenster, in dem es keine Ausschläge in Bereiche mit zu hoher oder zu niedriger Anspannung gibt.

Es ist normal, dass das Anspannungsniveau im Laufe eines Tages im Wechsel steigt und sinkt. Jeder Mensch hat ein individuelles Stress-Toleranz-Fenster, also eine Ober- und eine Untergrenze für den Bereich, in dem Informationen verarbeitet werden können. Solange man sich innerhalb dieses Fensters bewegt und sich in einem optimalen Anspannungs-Entspannungs-Gleichgewicht befindet, funktioniert unser sogenanntes kognitives Gehirn hervorragend. Wir können denken, über all unsere Kompetenzen verfügen, Wissen aufnehmen, lernen und abrufen und dadurch Leistung erbringen sowie im Flow sein. Körper und Psyche sind in einem ausgeglichenen Zustand, in dem wir alle Fähigkeiten abrufen und nutzen können (s. auch Abb. 7).

Wenn Sie an Anton zurückdenken, beschreibt das den Zustand, den er nach Verknüpfung seiner Ressourcen mit der herausfordernden Situation der Prüfung erreichen kann – ein kleiner Ausflug zur Selbsthypnose und zu den Klopftechniken.

Wir haben innerhalb dieser Zone die Fähigkeit, unser Verhalten angemessen und überlegt zu steuern. Schwierig wird es allerdings, wenn der Stress zu sehr zunimmt und wir aufgrund unser steigenden Anspannung an die Grenzen dieses Fensters kommen. Bevor ich das näher erkläre, möchte ich Ihnen einen Aspekt derjenigen Struktur unseres Gehirns vorstellen, der mit unserer stammesgeschichtlichen Entwicklung in der Evolution zusammenhängt.

EIN AUSFLUG ZU UNSEREN DREI GEHIRNEN

In unserem Gehirn sind verschiedene Stufen der Evolution integriert. Zu nennen sind die Stufe der Reptilien, der Säugetiere und der Primaten, welche allesamt über unterschiedliche Fähigkeiten und Funktionen verfügen.

Der Ebene der Reptilien entspricht hier der Hirnstamm, der sich am oberen Ende des Rückenmarks befindet. Der Hirnstamm reguliert unsere lebensnotwendigen Körpersysteme wie beispielsweise Atmung, Herzschlag, Blutdruck und Verdauung, außerdem steuert er teilweise unser Verhalten.

Der Ebene der Säugetiere entspricht das sogenannte limbische System. Es befindet sich in der Mitte des Kopfs und über dem Hirnstamm. Hier liegt das Zentrum unserer Gefühle, das unser durch Emotionen begründetes Verhalten steuert.

Der Ebene der Primaten entspricht die Hirnrinde oder auch Kortex genannt. Mit dem Kortex denken wir, können Vergangenheit und Zukunft einordnen und uns intellektuell betätigen. Beheimatet sind hier zudem soziale Fertigkeiten wie Sprache, Empathie und Kooperation. Hier können Informationen verarbeitet werden, wenn wir uns innerhalb unseres Stress-Toleranz-Fensters befinden.

VIER BRILLANTE PROGRAMME SICHERN UNSER ÜBERLEBEN

Das limbische System, welches der Ebene der Säugetiere entspricht, ist außerdem zuständig für die vier brillanten Überlebensprogramme10, die wir benötigen, wenn der Stress zu groß wird und wir ihn nicht mehr regulieren können (s. auch Abb. 8, S. 36). Diese Programme haben sich in der Evolutionsgeschichte entwickelt und sind nicht kontrollierbar. Situationen können lebensbedrohlich sein oder aber auch nur so erscheinen, weil sie vom inneren System entsprechend interpretiert werden. Wie oben beschrieben laufen die Stressverarbeitungsprogramme nach demselben Muster ab. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um eine Kobra handelt, die sich mir nähert, um meinen tobenden cholerischen Partner oder um Anton, der sich angsterfüllt in einer Prüfungssituation befindet.

 

Das Kampfprogramm

Das erste brillante Programm ist das Kampfprogramm. Es läuft ab, wenn ich bedroht werde. Also kämpfe ich ganz automatisch und habe eine gute Chance zu überleben.

Das Fluchtprogramm

Das zweite brillante Programm ist das Fluchtprogramm. Stelle ich bei einer Bedrohung fest, dass es keine Chance gibt zu überleben, stellt sich der Organismus klugerweise auf Flucht um. Ich fliehe, und auch hier erhöhen sich die Chancen, mit dem Leben davonzukommen.

Der Totstellreflex

Beim dritten brillanten Programm handelt es sich um den sogenannten Totstellreflex. Er wird für Situationen, in denen wir weder fliehen noch kämpfen können und es kein Entkommen gibt, eingesetzt. Wir frieren quasi ein, sind bewegungslos und körperlich und psychisch erstarrt, können weder denken noch reflektieren, wir fühlen nichts mehr und dissoziieren (s. auch Abschnitt »Dissoziation als Rettungsanker im Trauma«, S. 41). Dieser Reflex ist sehr sinnvoll fürs Überleben. Stellen Sie sich vor, wie eine Katze mit einer Maus spielt. Die Katze reagiert auf die Bewegungen der Maus und spielt mit ihr, bis sie tot oder bewegungslos ist. Geht die Maus nun in diesen beschriebenen Freeze-Zustand, verliert die Katze sehr schnell das Interesse an dieser erstarrten Maus. Ihr Angriffsimpuls sinkt, und sie lässt die vermeintlich tote Maus liegen und geht ihrer Wege. Die Maus hat überlebt!

Die Erschlaffungsreaktion

Das vierte brillante Überlebensprogramm ist die Erschlaffungsreaktion. Sie tritt als allerletzte Konsequenz ein, wenn alle anderen drei Programme das Überleben nicht sichern können (s. auch Zanotta 2018, ab S. 55): wenn also weder Flucht noch Kampf noch die Erstarrung als dritte Möglichkeit erfolgversprechend sind. Diese Erschlaffung ist so extrem, dass es wirkt, als sei das betroffene Lebewesen plötzlich gestorben.

Ein Raubtier frisst nur, was es selbst gejagt und getötet hat. Nur dann ist es sich sicher, dass die Beute gesund war. Ansonsten könnte sich das Raubtier beim Fressen vergiften. Der Körper des Beutetieres ist wie tot, erschlafft völlig, und auch hier herrschen Gefühllosigkeit und Dissoziation vor (s. auch Abschnitt »Dissoziation als Rettungsanker im Trauma«, S. 41). Diese unwillkürlich ablaufende Reaktion sichert dadurch in Extremsituationen das Überleben auf eine ganz spezielle Art und Weise. Wir brauchen keinem Bären in freier Wildbahn zu begegnen, um diese Erschlaffungsreaktion auszulösen. In unserem Alltag können wir schon in diesen Zustand geraten, wenn wir das Dilemma, in dem wir uns gerade befinden, nicht lösen können.

Kommen wir kurz auf unser Fallbeispiel Anton und seine abwertende Lehrerin zurück.

Wird Anton in der Schule von seiner Lehrerin vor seinen Mitschülern bloßgestellt und lächerlich gemacht, springt mit Sicherheit der Sympathikus an und damit sein Kampf- und Fluchtprogramm, damit er dieser Bedrohung entkommen und sein Überleben sichern kann. Auch wenn es sein innigster Wunsch ist, können wir uns lebhaft vorstellen, dass Anton in dieser Situation weder kämpfen noch fliehen kann. Er ist regelrecht ausgeliefert. In diesem Moment kann er nicht mehr lernen, kein Wissen abrufen und sich nichts merken. Höchstwahrscheinlich wird er aufgrund dieser hochbelastenden, unabwendbaren und nicht lösbaren Situation zuerst erstarren und dann womöglich auch noch in einen Erschlaffungszustand verfallen. Lernen und Informationen verarbeiten können wir weder in einer zu hohen Anspannung (Übererregung oder Hyper-Arousal genannt) noch in einer zu niedrigen (Untererregung oder Hypo-Arousal genannt). Somit wird Anton dem Spott und dem Unmut der Lehrerin immer stärker ausgesetzt sein. Er befindet sich in einem Teufelskreis, aus dem es aus seiner Sicht kein Entkommen gibt, was die Stressreaktion wiederum massiv verstärkt. Blockaden, Blackouts und andere Symptome sind in Lernsituationen somit völlig normale Reaktionen auf Bedingungen, die dem inneren System unaushaltbar erscheinen.

DAS STRESS-TOLERANZ-FENSTER UND DIE VIER BRILLANTEN ÜBERLEBENSPROGRAMME

Wichtig für uns ist es zu wissen, dass diese Überlebensprogramme nicht nur im unmittelbaren Kontakt mit Raubtieren reflexhaft anspringen, sondern auch in alltäglichen Situationen, die für unser autonomes Nervensystem lebensbedrohlich sind oder eben auch nur so erscheinen.

Erinnern wir uns jetzt noch einmal an das beschriebene Hebbsche Gesetz, so wird deutlich, dass diese Programme auch anspringen, wenn wir unbewusst an eine vergangene Bedrohung erinnert werden, obwohl wir uns im Moment eigentlich in einer sicheren Situation befinden.

Gehen wir noch einmal zu Anton: In seinem Berufsleben wird immer wieder das Überlebens-Notprogramm aktiviert, was er überhaupt nicht verstehen oder nachvollziehen kann. Dadurch erlebt er sich als erwachsener Mann als wenig selbstwirksam und stattdessen hilflos und ausgeliefert. Wie wir inzwischen wissen, wird die Aktivierung der Stressprogramme dadurch noch verstärkt.

Abb. 8: Schwankungen der Anspannung innerhalb des Stress-Toleranz-Fensters und die daraus aktivierten 4 brillanten Überlebensprogramme: Flucht- und Kampfprogramm, Totstellreflex und Erschlaffungsreaktion

In der Abbildung 8 sind große Schwankungen innerhalb des Stress-Toleranz-Fensters und die daraus aktivierten vier Überlebensprogramme dargestellt.

Im ersten Bogen nach oben verlässt die Anspannungskurve das Stress-Toleranz-Fenster der Person, weil die Spannung so hoch wird, dass die Person sozusagen aus diesem Toleranzbereich nach oben ausschert. Genau in diesem Moment springen die beschriebenen Programme an. Es beginnt mit dem Kampf- und Fluchtprogramm.

Wenn es eine unlösbare Situation zu sein scheint, in der weder die Flucht gelingt noch ein Kampf irgendeine Aussicht auf Erfolg hat, kann die Übererregung in eine Erstarrung münden – in den sogenannten dissoziativen Freeze- Zustand, eine Überreaktion des Sympathikus. Wenn die Umstände günstig sind, geht die Anspannung wieder nach unten. Der Mensch befindet sich nun innerhalb seines Stress-Toleranz-Fensters und ist erneut handlungsfähig. Sollte der Stress allerdings immer weiter ins Unaushaltbare ansteigen, fällt diese Person in eine nicht kontrollierbare Untererregung und damit in einen dissoziativen Erschlaffungszustand, einer parasympathischen Überreaktion. Bei der Abbildung 8 sehen Sie das bei der vorletzten Kurve, die im Stress-Toleranz-Fenster nach unten ausschlägt.

In dem Augenblick, in dem die Person ihr Stress-Toleranz-Fenster verlässt, hat sie keine Kontrolle mehr über ihr Verhalten, die körperlichen Abläufe, ihre Gefühle und Empfindungen. Deshalb helfen in solchen Fällen auch meistens keine Strategien, die wir uns vorher überlegt haben. Es ist, als würde der ICE vorbeifahren und nicht halten. Ich wohne beispielsweise in einem kleinen Ort zwischen München und Augsburg. Dort hält der ICE niemals an: Ein- und aussteigen kann man nur in den genannten Städten. Da kann ich an meinen Bahnsteig so viel winken, wie ich möchte, der ICE fährt unbeeindruckt weiter. Wie oben schon beschrieben handelt es sich dabei um autonome, nicht kontrollierbare und unbewusste Prozesse unseres autonomen Nervensystems.

Somit sehen wir, dass diese vier Überlebensprogramme in alltäglichen Kontexten als hochbelastend empfunden werden können und den Stress häufig massiv verstärken. Schon das Erleben von Demütigung oder Scham kann man wie bei dem Fallbeispiel als Bedrohung erleben, wodurch eine Erstarrungs- oder auch eine Erschlaffungsreaktion ausgelöst wird.

Im Folgenden möchte ich kurz auf das Thema Trauma eingehen, um danach den Begriff der Dissoziation zu erklären.

EIN KLEINER EXKURS ZUM THEMA TRAUMA

Bis vor einiger Zeit war der Begriff des Traumas ausschließlich auf existenzielle Erfahrungen beschränkt, die das eigene Leben oder das Leben anderer bedroht haben. Dazu gehörten Erlebnisse wie schwerer sexueller oder emotionaler Missbrauch oder Gewalterfahrungen und massive Unfälle, Verletzungen, schwere lebensbedrohliche Erkrankungen und Naturkatastrophen sowie Kriegserlebnisse. Inzwischen weiß man, dass ein Trauma nicht das Ereignis an und für sich darstellt, sondern dass es abhängig ist von der Art und Weise, wie jemand diese Erfahrung innerhalb seines Nervensystems verarbeitet.

Beispielsweise war ich selbst einmal in einen schweren Motorradunfall verwickelt, bei dem der Motorradfahrer frontal mit dem mich überholenden Pkw auf meiner Höhe zusammenstieß. Er wurde dabei lebensbedrohlich verletzt. Ich leistete an der Unfallstelle Erste Hilfe, bis nach 20–30 Minuten zuerst der Notarzt und dann der Rettungshubschrauber eintrafen. Der Motorradfahrer lag daraufhin sehr lange im Krankenhaus und musste sich in diesem Zeitraum vielen Operationen unterziehen. Seine rechte Körperhälfte war regelrecht zertrümmert.

Interessanterweise fing der Motorradfahrer mit dem Namen Helmut schon im Krankenhaus wieder an, mit Telefon und Laptop für seine eigene Firma zu arbeiten. Als ich ihn besuchte, wirkte er in keiner Weise traumatisiert, sondern er beschrieb, dass er sehr dankbar und glücklich über verschiedene Ereignisse an dem Unfalltag sei:

Seine Tochter sei nicht, wie ursprünglich geplant, mitgefahren und deshalb von dem Unfall verschont geblieben.

Er sei in dem Wald, in den er nach dem Aufprall geschleudert wurde, zwischen den Bäumen gelandet und nicht mit einem kollidiert.

Meine Anwesenheit und mein Beistand hätten ihm geholfen, alles zu überleben und zu überstehen.

Viele Menschen wären nach solch einem schweren Unfall und den darauffolgenden Behandlungen und Operationen sicherlich traumatisiert.

Natürlich gab es auch bei ihm Zeiten, in denen es ihm wirklich schlecht ging und er das Geschehene und die daraus folgenden gesundheitlichen Konsequenzen verarbeiten musste.

Im Folgenden beschreibt er sein Erleben und seine Sichtweise:

»Ich war ein halbes Jahr im Krankenhaus und hatte mehr als 30 Operationen und war danach noch 8 Wochen auf Reha. Meine rechte Körperhälfte war mit mehrfach schwersten Verletzungen regelrecht zertrümmert. ›Auf so einen Patienten musste ich nun 25 Jahre warten‹, waren die Worte des behandelnden Chefarztes der Unfallchirurgie an der Universitätsklinik. Eine wirkliche Herausforderung.

Von Trauma keine Spur.

Wichtig zu wissen: Auch ich hatte meine Tiefen, und nur, wenn man solch eine Erfahrung gemacht hat, weiß man, wie weit man hier absinken und verzweifeln kann. Man kann das auch zulassen, es durchleben. Aber man muss hier auch wieder auftauchen.

Mir half hier, Pläne für die Zukunft zu machen. Für meine Firma Zukunftspläne zu schmieden.

Ich habe mir vom Krankenhausbett aus einen Roadster BWM Z3 gekauft. Mir immer wieder die Bilder des Autos angesehen und Pläne gemacht, wohin ich damit überall fahren würde.

Meine Träume verwirklichen, die ich bislang immer zurückgesteckt hatte.

Mache ich, wenn ich mal Zeit habe … Nein, jetzt. Jetzt ist die Zeit. Meine Zeit …«

Helmut, der keinerlei Psychotherapie in Anspruch genommen hat, leidet nicht unter einer Traumafolgestörung und sieht nach vorne. Im Gegenteil: Er betrachtet das Geschehen im Gesamten als positiv, obwohl er nie wieder wird richtig laufen oder Sport machen können – eben von Trauma keine Spur!

 

Andersherum betrachtet können weitaus harmlosere Geschehnisse als Trauma verarbeitet werden. Das können Dinge wie Eingriffe beim Arzt oder sehr belastende Krankenhausaufenthalte sein, Verletzungen und Stürze, der Verlust eines geliebten Menschen oder auch eines Haustieres, Unfälle oder auch Mobbing beispielsweise in der Schule bzw. permanente Abwertungen im Elternhaus. Ebenso sind Verlassenwerden, Verraten- oder Vernachlässigtwerden in der Kindheit zu nennen.

Eine Traumatisierung erfolgt also dann, wenn eine als bedrohlich wahrgenommene Erfahrung unsere Fähigkeit, damit angemessen umzugehen und sie entsprechend zu verarbeiten, übersteigt.

Wie in dem Fallbeispiel von Anton beschrieben können solche Erfahrungen in anderen Lebenskontexten immer wieder getriggert werden und bestimmen somit in einer negativen und belastenden Art und Weise den weiteren Verlauf des Lebens. Oftmals ist es diesen Menschen nicht bewusst, dass ihre Verhaltensweisen und Reaktionen, ihre Empfindungen und Emotionen sowie ihre Gedanken von dieser vorangegangenen, traumatisch verarbeiteten Erfahrung massiv beeinflusst werden.

Falls so ein Trauma über einen längeren Zeitraum bestehen bleibt, zeigen sich oft nach und nach Veränderungen innerhalb der Person in Bezug auf Verbindungen zu anderen Menschen, zu sich selbst und zu ihrem Körper. Sie bemerkt, dass sie sich in bestimmten Situationen anders verhält, bringt es aber nicht mit vorangegangenen, nicht verarbeiteten traumatischen Erlebnissen in Verbindung. Womöglich beginnt sie, bestimmte Situationen zu meiden oder von sich zu glauben, dass sie grundsätzlich so ängstlich oder so aggressiv ist bzw. unabänderlich über so wenig Selbstbewusstsein, Selbstwertgefühl oder Stressverarbeitungskompetenzen verfügt. Aus diesem Grunde ist es so wichtig, sich achtsam und liebevoll den inneren Welten und den unverarbeiteten Erlebnissen zuzuwenden und sie heilen zu lassen. Sollten Sie sich nicht sicher sein, ob Sie ein Ereignis Ihres Lebens traumatisch verarbeitet haben, können Sie dies mit einer Traumatherapeutin abklären und ggf. bearbeiten und heilen.