Sol Tenebrarum

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Melancholie wurde noch immer oft mit dämonischer Besessenheit oder bösen Geistern assoziiert. Die Dogmen aus dem Malleus Maleficarum waren noch immer einflussreich und man unterschied mehrere Arten, wie Teufel ihre Opfer angreifen konnten: Sie besetzten nur den Körper oder den Körper und den Geist, sie verursachten temporären Wahnsinn, lösten Geisteskrankheiten aus und verwandelten Menschen in rasende Bestien. Man glaubte, dass Menschen von melancholischer Natur nicht nur in Träumen von Dämonen heimgesucht wurden, sondern auch nach ihrem Tod. Jene, die „von einem Rausch befallen waren oder eine andere melancholische Störung” im Leben hatten, litten auch, nachdem ihre Seelen den Körper verlassen hatten, große Qualen.21 Ähnlich verhielt es sich mit denen, die das Leben „in Unzufriedenheit, Melancholie oder unruhigen Geistes” verließen. Man glaubte, dass solche Leute wiederkehrten und „ohne Schrecken verursachen und Häuser und Familien alarmieren zu wollen nur nach einer Möglichkeit suchten, ihr eigenes Leben ungeschehen zu machen, um endlich ihre ersehnte Ruhe zu finden.” Das betraf speziell diejenigen, die eines gewaltsamen Todes gestorben waren:

Solche Personen, die insgeheim ermordet wurden oder die selbst insgeheim Morde begangen haben, sind am anfälligsten dafür, wieder zu erscheinen und an den Orten umzugehen, wo sich die Katastrophe ereignete.22

Den Teufel hielt man allgemein nicht nur für Sünde und Verzweiflung verantwortlich, sondern auch für andere Krankheiten und alle Arten von Obsessionen. Wahnsinn, Manie, Hysterie, Gewalttätigkeit und selbst Lust und Leidenschaft waren teuflische Erfindungen und ihr Hauptzweck bestand darin, menschliche Seelen in die Hölle zu führen:

Da die Teufel beständig auf der Suche nach jenen sind, die sie verschlingen können, sind sie immer auf der Wacht und bereit, jeden Gedanken aufzufangen, der sich zu ihrem Zwecke wenden ließe; und wenn sie erst soweit gekommen sind, den kleinsten Platz im Geist zu besetzen … wird es sich als nicht leicht erweisen, sie auszutreiben.23

Man glaubte, dass die Teufel nicht nur in den infernalen Regionen hausten, sondern auch die Sphäre der Luft zwischen Himmel und Erde beherrschten. Diese luftigen Dämonen störten die Harmonie des Universums und zerrissen die Stabilität des menschlichen Geistes. Es gab auch Dämonen, die für alle Sünden verantwortlich waren: Stolz, Unzucht, Habgier, Zorn, Völlerei, Neid und Faulheit.

Dies war auch die Zeit, in der die Literatur und Kunst zunehmend grimmig und makaber wurden. Die Klischeeelemente waren Geister, Friedhöfe, Leichenhäuser, Inzest, Wahnsinn, Ehebruch, Vergewaltigung, brutale Morde, Kindsmord, Selbstmord, Brandstiftung, Vergiftung und Verrat. Die Charaktere wurden als „Mikrokosmos der Hölle” präsentiert und die Welt war eine Bühne, auf der böswillige Schurken ihre gräulichen Taten mit „sardonischem Genuss” verübten und „immer bizarrere Methoden, Menschen zu zerstören” ersannen. Der Tod wurde „das Hauptthema in ihrem Plan und Mord ihre Erholung.”24 Die zeitgenössische Literatur, insbesondere das Drama, bezog auch eine tiefe psychologische Einsicht in die Persönlichkeit der Charaktere ein, mit der Betonung auf die dunkle Seite der menschlichen Natur. Die Literatur widerspiegelte alles, was im zeitgenössischen Europa geschah. Sie behandelte die wichtigsten Erscheinungen wie die Stellung der Frau in der Gesellschaft, Spannungen zwischen Rassen und Klassen, religiöse und politische Verwirrung, soziale Veränderungen und die vorherrschende Philosophie des Pessimismus. Dieser und die melancholischen Tendenzen trugen stark zur Entwicklung der Rachetragödie bei, dem düstersten literarischen Genre der Zeit. Der Puritanismus und die religiösen Lehren betonten die Sündigkeit aller menschlichen Wesen und erinnerten die Menschen beständig an Höllenfeuer und Leiden. In der Kultur des siebzehnten Jahrhunderts ist die Vision der Hölle immer in den Gedanken der Sünder gegenwärtig und die größte Qual für die Seele ist: „In der Hölle muss ich leben und kann nicht sterben.”25 Der barocken Ansicht nach ist die Hölle ein Teil jeder menschlichen Seele. Sie ist die dunkle Seite der menschlichen Natur und die Quelle von Sünde und allem Bösen. Das Interesse des siebzehnten Jahrhunderts am Theater resultierte aus dem Verhältnis zwischen Melancholie, Grandeur und düsterer Schaustellung, die charakteristisch für die barocke Ausdrucksweise war. Der Vergleich des Lebens mit der theatralischen Darstellung veranschaulichte die zeitgenössische Blickrichtung auf die Kürze der menschlichen Existenz, den illusorischen Charakter von Glück, Macht oder Stabilität, und betonte die stete Veränderlichkeit von Rollen, Launen und Gefühlen. Die Metapher des Theatrum mundi verwandelte die düstere Sicht des menschlichen Lebens und Todes in ein gewaltiges Theaterspektakel, in dem sich die Melancholie mit feierlicher Majestät vermischte. Das Leben wurde zu einem Traum, einem schrecklichen Albtraum, in dem die Figuren ihre Rollen unfreiwillig spielten und in dem alles möglich war.

Das bedeutendste Werk zu dem Thema war in jener Zeit Robert Burtons The Anatomy of Melancholy (1621). Burton (1577-1640) war ein englischer Gelehrter und Vikar der Oxford-Universität. The Anatomy of Melancholy wird als sein Lebenswerk betrachtet. Seine stimmungsorientierte Behandlung der Melancholie ist von Hippokrates und Galen abgeleitet und assoziiert die Melancholie mit einem Überschuss an schwarzer Galle. Seiner Ansicht nach war die Melancholie nicht nur eine körperliche Krankheit, sondern auch eine geistige, die aus einer Disharmonie zwischen Körper und Seele resultierte. Sie stand mit Schwäche und einem Mangel an Lebensenergien in Verbindung. Burton glaubte, dass Melancholie keine Serie von Anfällen war, sondern ein fixes Verhalten, Morbus chronicus, eine allgemeine Qualität, der die menschliche Existenz unterliegt. Andere Gelehrte, die in jener Zeit ihre Werke dem Thema der Melancholie widmeten, waren Thomas Wright mit Passions of the Mind (1601), Thomas Adams mit Deseases of the Soul: A Discourse Divine, Moral and Physical (1616), Richard Baxter mit seiner Christian Directory (1673) und der französische Arzt André du Laurens, dessen Ein Diskurs über die Wahrung der Sicht: Von melancholischen Krankheiten, von Rheuma und hohem Alter (1599) sehr einflussreich und weithin bekannt waren in Europa.

Die Aufklärung: Vom Geist zum Fleisch


„Die Ärzte nennen jene Krankheit eine Melancholie, in der der Patient lange und hartnäckig ohne ein Fieber deliriert und immer auf ein- und demselben Gedanken beharrt.”26

Das Ende des siebzehnten Jahrhunderts brachte die Entstehung völlig neuer Betrachtungsweisen der Melancholie mit sich. Die übernatürlichen Aspekte von Wahnsinn, Obsessionen, Sorgen oder Passivität wurden allmählich durch eine Lehre der Melancholie als einer geistigen Krankheit oder eines Zustands von emotionaler Instabilität ersetzt. Die Entwicklung der Medizin im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert verwarf die Humoralpathologie und führte zur Verbreitung von Begriffen wie Neurosis oder Phobia. Zeitgenössische Ärzte wie William Cullan (1710-1790) sprachen erstmals von einer Erkrankung des Nervensystems, die viele emotionale und mentale Störungen einschloss. Melancholische Menschen wurden nun in Asylen untergebracht und medizinisch behandelt.

Die neuen Vorstellungen sollten die Weltanschauung und die medizinischen Theorien von der zweiten Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts an durch die Zeit der Aufklärung hinweg beeinflussen. Einer der ersten Neuerer, war Thomas Willis (1621-1685), ein Gründungsmitglied der Royal Society in London. Er verwarf die Säfte und lehnte den Glauben daran ab, dass die schwarze Galle irgendeine Rolle bei der Melancholie spielte, die „eine komplizierte Krankheit von Gehirn und Herz” war. Seiner Ansicht nach konnte Melancholie entweder eine kognitive Funktionsstörung sein oder etwas, das das Verhältnis zwischen Vernunft und Leidenschaften betraf. Willis prägte den Begriff „Neurologie“, mit dem die „Lehre von den Nerven“ bezeichnete. Seine Anatomie des Gehirns und der Nerven ist ausführlich in Cerebri anatomi (1664) beschrieben. Er war nicht der Einzige, der das Studium des Geistes zu einem Studium des Gehirns umwandelte. Die neue Zeit brachte ein Heranwachsen von Materialismus und Atheismus, Wissenschaft und atomistischer Philosophie. Im Jahre 1689 veröffentlichte der englische Autor Thomas Tryon A Treatise of Dreams and Visions, worin er Galens Säfte „eher Formen und Worte denn Realitäten” nannte und darlegte, dass alle geistigen Krankheiten „entweder durch irreguläre Leidenschaften des Geistes oder giftige Ablagerungen durch schlechte Ernährung oder unstimmigen Wuchs des Körpers” entstanden. Alle Antworten waren in der Physiologie enthalten.27

Die Vorstellungen von den Säfte verschwanden jedoch nicht. Sie wurden einfach durch ihre psychologischen Äquivalente ersetzt. Während einst der menschliche Organismus als eine Mischung von subtilen Energien und eine perfekte Widerspiegelung der kosmischen Harmonie angesehen wurde, wurde er nun als eine Masse von Nerven, Geweben, Fasern und Zellen angesehen. Die Säftelehre wurde jedoch als psychologisches Modell benutzt und es gab noch immer einen Platz für sie in der neuen Philosophie, in der der Geist zu Materie gemacht worden war. Als die Humoralpathologie offiziell verworfen wurde, wurden neue Vorstellungen über die Existenz und die Natur der Seele in die zeitgenössische Weltanschauung eingeführt. Die Philosophie des achtzehnten Jahrhunderts umfasste mehrere Bewegungen, von denen die wichtigsten der biologische Mechanismus und der Vitalismus waren. Während Ersterer den kartesianischen Ideen des vorangegangenen Jahrhunderts folgte und ein materialistisches und rationales Herangehen an den Menschen und das Universum vertrat, regte Letzterer eine alternative Annahme an: Die Prozesse des Lebens waren nicht durch die Gesetze der Physik allein erklärbar und das Leben war zu einem gewissen Teil selbstbestimmt. Der Vitalismus entwickelte eine neue Vorstellung vom lebenden Organismus, der nun als mit innerer mystischer Kraft ausgestattet angesehen wurde, die im Blut und den Nerven enthalten war. Diese Kraft hielt man für das vitale Prinzip, die oft auch als „Lebensfunke” oder „élan vital” bezeichnet und manchmal mit älteren Vorstellungen von der Seele gleichgesetzt wurde. In den folgenden Jahrhunderten sollte diese Ansicht eine signifikante Rolle bei der Entwicklung des westlichen Okkultismus und Lehren wie der „odischen Kraft” von Carl Reichenbach oder des „animalischen Magnetismus” von Anton Mesmer spielen.

 

Jetzt herrschten die materialistischen und mechanistischen Ideen der Zeit vor. Die Ärzte, die den Körper und das Gehirn untersuchten, waren primär am Verständnis der Ursachen und der Natur der Krankheit interessiert, und überließen die Angelegenheiten der Seele der Religion. Der holländische Arzt und Humanist Herman Boerhaave (1668-1738) veröffentlichte im Jahre 1735 eins seiner bekanntesten Werke: Aphorismen: Über das Wissen und die Heilung von Krankheiten, in dem er die Vorstellungen jener Zeit über die Melancholie populär behandelt. Er behält die stimmungsorientierte Sprache früherer Jahrhunderte bei und stellt fest, dass die Krankheit aus „der Bösartigkeit des Blutes und der Säfte” entsteht, die die Alten die „schwarze Galle” nannten, doch für ihn war die schwarze Stimmung ein pathologisches Nebenprodukt eines rein mechanischen Geschehens im Blut. Unter den Formen von Melancholie nannte er Spleen und Hypochondrie im Sinne von Unzufriedenheit und Untätigkeit, die aus einer Verdickung und Verlangsamung der Körperflüssigkeiten resultierten. Er unterschied auch „die sorgenvolle Art der Melancholie” von Wahnsinn, den er als eine „wilde Raserei” beschreibt und der durch extreme Wahnvorstellungen charakterisiert wird.28 In den frühen 1700ern stellten sich viele Gelehrte wie Boerhaave den Organismus noch immer nach dem traditionellen Säftemodell vor. Es war nicht ungewöhnlich, sich Teilchen vorzustellen, die in Flüssigkeiten durch die Nerven reisten und Melancholie als ein Ergebnis von Veränderungen in der Qualität dieser Flüssigkeiten und der Bewegung der Teilchen vorzustellen.

In den späten 1700ern wurde Melancholie primär als eine neurologische Erkrankung verstanden. Der erste, der neurologische Krankheiten nach ihren Symptomen klassifizierte, war William Cullen, dessen Lehren einen signifikanten Einfluss auf andere Ärzte und Philosophen ausübten. Im Jahre 1801 veröffentlichte der französische Doktor Philippe Pinel (1745-1826), der auch als einer der Väter der modernen Psychiatrie bekannt ist, seine Abhandlung über die Verrücktheit. Pinel unterschied fünf Arten von geistigen Störungen: Melancholia (“Delirium über ausschließlich ein Thema”), Mania ohne Delirium, Mania mit Delirium, Dementia und Idiotie. Seiner Ansicht nach war Melancholie eine sehr breit gefächerte Kategorie, die Fälle von vorübergehenden Anfällen, gewohnheitsmäßiger Depression und Angst, lang anhaltende Charakterzüge und ernste Zustände einschloss, die in Selbstmord enden oder zur Manie degenerieren konnten. Er schrieb auch geistige Störungen einem weiten Bereich von vermutlichen Ursachen zu wie Erblichkeit, schlechter Behandlung, den Schrecken von Kriegen, unregelmäßigem Lebenswandel, „spasmodischen” und „schwächenden” Leidenschaften, Trunk, Anomalien der Schädelstruktur, dem Zustand der Haut, häuslichem Unglück, religiösem Fanatismus, Menstruation und Menopause bei Frauen, und vielen anderen psychologischen Faktoren.29 Seine Theorien übten einen großen Einfluss auf die entstehende Psychiatrie des neunzehnten Jahrhunderts aus und wurden von anderen Gelehrten wie Jean-Étienne Dominique Esquirol (1772-1820) weiterentwickelt. Esquirol sah das Konzept des Wahnsinns als institutional und national an, wobei die Hilfe von Ärzten eine entscheidende Rolle bei der Behandlung der Armen spielte oder von Leuten, die wegen Verbrechen angeklagt, aber wegen ihrer Verrücktheit nicht verantwortlich für ihre Taten waren. Er unterteilte die allgemeine Klassifizierung der Melancholie in Lypemania und Monomania und schlug vor, dass Verrücktheit in speziellen Hospitälern von Ärzten mit einer speziellen Ausbildung behandelt werden sollte, was stark zur Verbesserung der Pflege und Behandlung der geistig Gestörten beitrug. Neue Trends in der Psychiatrie wurden auch von anderen Theoretikern beeinflusst. Im Jahre 1812 veröffentlichte der amerikanische Arzt Benjamin Rush (1745-1813) sein Werk Medical Inquiries and Observations upon the Diseases of the Mind, das seine Theorie der Melancholie enthielt und im zeitgenössischen Europa sehr einflussreich wurde. Rush entwickelte den Begriff der Hypochondrie und führte eine neue Terminologie in das Studium der Melancholie ein. Er ersetzte den Begriff „Hypochondria” durch „Tristimania”, was seiner Ansicht nach die Form des Wahnsinns bezeichnet, wenn das Leiden des Patienten in Wahnvorstellungen über seine Person, seine Angelegenheiten oder seinen Zustand bestand. Anstelle des Begriffs „Melancholia” setzte er „Anemomania”, was sich auf Wahnvorstellungen über die umgebende Welt bezog. Als wirksame Mittel gegen diese Leiden nannte er „solche Mittel, die direkt auf den Körper wirken” wie Aderlass, Abführ- und Brechmittel, eine reduzierte Ernährung, Stimulantien und Medizinen, warme und kalte Bäder, Körperübungen und das Zufügen von mildem Schmerz.30

Wahnsinn und Verrücktheit nahmen eine signifikante Stellung in der zeitgenössischen Psychiatrie und dem philosophischen Denken ein. Einer der größten Vertreter des Zeitalters der Vernunft, Immanuel Kant (1724-1804), verstand geistige Störungen als einen Defekt des Verstandes. Er unterteilte sie in drei Kategorien: Melancholia, Mania und Verrücktheit. Melancholia war eine wahnhafte Störung, die mit falschen Glaubensvorstellungen zu tun hatte, die Kant mit Hypochondria gleichsetzte, wobei er den Begriff im modernen Sinne gebrauchte, um jemanden zu beschreiben, der eingebildete Krankheiten für tatsächliche hält.

Im achtzehnten Jahrhundert wurden Psychiatrie, Medizin und Philosophie zu getrennten Bereichen. John Locke (1632-1704) stellte den Gedanken vor, dass alle geistigen Prozesse, einschließlich des Verstandes, aus der Erfahrung erwuchsen, und im Verlauf des Jahrhunderts half diese Ansicht beim Verständnis des Deliriums in Begriffen der individuellen psychologischen Geschichte. Wahnsinn war nicht mehr eine Frage übersteigerter Leidenschaften, sondern eine Störung der kognitiven Fähigkeiten. Der Geist wurde zum Studienobjekt für die neue Wissenschaft der Psychiatrie, die Medizin kümmerte sich um den Körper und die Seele überließ man den Moralphilosophen und Theologen.

Doch geistig kranke Menschen waren nicht nur Bündel von Nerven. Sie waren Personen und sie hatten die spirituellen Angelegenheiten niemals vergessen. Die neuen Wissenschaften boten keinerlei Verständnis der Natur des (spirituellen) Geistes. Gewaltige Mechanismen konnten Fabriken bauen, aber keine „zerbrechlichen Seelen trösten oder zerbrochene Körper reparieren.”31 Die Unbefriedigtheit mit der zeitgenössischen Philosophie und der schnelle Fortschritt der Wissenschaft führte zu einer Zunahme von Furcht und der Rückkehr des Pessimismus, der bald seinen Ausdruck in der Romantik und dem neuen Versuch einer Suche nach der Seele und der spiritualisierten Natur finden sollte. Einmal mehr würde die Melancholie Verrücktheit mit Genie verbinden, und die Welt sich der Leidenschaft und Verzweiflung zuwenden, der Ekstase und dem Leiden, inspiriertem Wahnsinn und spirituellem Tod und Wiedergeburt.

Das neunzehnte Jahrhundert: Begeisterung und Spleen


„Ich kann mir kaum eine Art von Schönheit denken, in der keine Melancholie ist.”32

Das Verhalten und die emotionalen Zustände von melancholischen Menschen wurden bald als „manisch-depressive Psychose” klassifiziert und zum Forschungsthema vieler prominenter Psychoanalytiker und Psychiater. Sigmund Freud und Carl Gustav Jung versuchten melancholische Zustände durch die Deutung von Träumen, freien Assoziationen und das tiefe Studium des menschlichen Selbst zu erklären. Gleichzeitig entwickelten moderne Philosophen ihre eigenen Theorien, in denen Melancholie als eine Krankheit der Seele beschrieben wird, ein spirituelles Gefühl von Hoffnungslosigkeit. Der Aufstieg von Zivilisation und Technologie führte zum Identitätsverlust, und in den Zeiten dieser Veränderungen fühlten sich die Einzelnen verloren und mussten eine neue Bedeutung in der umgebenden Welt finden. Diese Suche begründete Bewegungen wie den Vitalismus und Mesmerismus, die sentimentale Rückkehr zur Natur in der Philosophie von Jean Jaques Rousseau (1712-1778), die Naturtheologie und die verstörende Sicht der Menschheit, wie sie in solchen Werken wie Mary Shelleys Frankenstein zum Ausdruck kommt.

Mesmerismus ist ein Begriff, der sich auf die magnetischen Experimente bezieht, die am Ende des achtzehnten Jahrhunderts von dem deutschen Arzt und Astrologen Franz Anton Mesmer (1734-1815) durchgeführt wurden. Er entwickelte die Theorie, dass alle lebenden Wesen mit einem „animalischen Magnetismus” ausgestattet seien, einer unsichtbaren magnetischen Flüssigkeit, die den Körpern innewohnt und mit den Planeten in Verbindung steht. Von der Mitte der 1770er an benutzte er Magneten, um den Fluss von Energien durch die Körper von Menschen zu induzieren, die an verschiedenen Leiden litten. Er verstand Gesundheit als den freien Fluss von Energien durch tausende von Kanälen im menschlichen Körper. Krankheit wurde durch Behinderung dieses Flusses verursacht. Die Gesundheit konnte wiederhergestellt werden, indem diese Hindernisse überwunden wurden und der Fluss wieder ins Gleichgewicht gebracht war, was mittels eines magnetischen Leiters geschah. Mesmer erklärte, dass der Körper durch seine magnetische Flüssigkeit mit dem Universum verbunden war, kanalisiert durch externe Magnete und Metalle. Seine Theorie und medizinischen Experimente lieferte eine attraktive Alternative für jene, die auf der Suche nach einer anderen Behandlung waren als derjenigen, die von den Praktizierenden des Mainstream angeboten wurde. Das Zentrum seiner Methode war das populäre Konzept der Hypochondrie und sie schien bei psychosomatischen Krankheiten Wunder zu wirken. Die Natur der Behandlung unterschied sich jedoch von den zeitgenössischen Trends der Medizin. Mesmer schuf ausgefeilte Settings für seine Sitzungen mittels seltsamer Klänge, Dunkelheit, dicker Vorhänge, Flöten, fließendem Wasser, Spiegeln und anderen Elementen, von denen man die Erzeugung einer „Krise” erwartete, welche die Blockade auflöste, die die körperliche Krankheit verursachte.33 Der Mesmerismus markiert den Beginn der Periode, in der die Welt des Okkulten den Geist des Einzelnen wieder zu faszinieren und zu inspirieren begann.

Die rationale und mechanistische Herangehensweise an Krankheiten wurde durch ein vitalistisches Denken ersetzt, und Verrücktheit wurde nicht mehr als eine Störung des Verstandes angesehen, sondern als ein Ergebnis gewaltsamer und stürmischer Leidenschaften, die die Seele der Freiheit beraubten und Störungen des Geistes verursachten. Im Jahre 1818 veröffentlichte der deutsche Arzt Johann Heinroth (1773-1843) sein Werk Störungen des Seelenlebens, das die zeitgenössische romantische Philosophie stark beeinflusste. Er klassifizierte geistige Störungen in drei Hauptkategorien: Exaltationen, Depressionen und „gemischte Zustände” von Exaltation und Schwäche. Seine Theorien der Verrücktheit waren von den Ansichten der Ethik und Moral beherrscht. Er glaubte, dass die Seele die Herrschaft über den Körper hatte und dass Geisteskrankheit und viele somatische Krankheiten von den Interaktionen zwischen Körper und Seele verursacht wurden. Heinroth betrachtete auch Sünde als eine Ursache von Geisteskrankheit. Diese Ansicht wurde von einem anderen Psychiater der Romantik geteilt, Wilhelm Griesinger (1817-1868), der an die Einheit von Körper und Seele glaubte und die Symptome der Melancholie als gefühls- und launenzentriert ausmachte. In seinem bekanntesten Buch Mentale Pathologie und Therapeutik legte er dar, dass die Melancholie ein Zustand war, der der Verrücktheit voranging: Zuerst gab es melancholische Zustände, denen Zustände von mentaler Exaltation folgten, und schließlich endete der Patient in chronischer Demenz. Für ihn war das Stadium melancholicum die einleitende Periode der Geisteskrankheit.34

 

In den bildenden Künsten, der Musik und Literatur war die Romantik eine Revolte gegen die aristokratischen gesellschaftlichen und politischen Normen in der Zeit der Vernunft und eine Reaktion gegen die wissenschaftliche Rationalisierung der Natur. Leidenschaften und Emotionen wurden zur Quelle ästhetischer Erfahrung, begleitet von einer Faszination von Horror und Ehrfurcht. Melancholie wurde als eine Mischung von Freude und Leiden angesehen, Energie und Passivität, Vitalität und Verzweiflung, wie es in dem Gedicht Ode an die Melancholie von dem englischen romantischen Dichter John Keats (1795-1820) dargestellt wird. Schwarze Stimmungen und melancholische Gedanken wurden mit Wonne genossen, und die Phasen von Schwermut und Launenhaftigkeit inspirierten Neigungen zu Perversion, Masochismus, Sadismus und Dekadenz. Die führende Figur der leidenschaftlichen und melancholischen Bewegung in der europäischen Romantik war George Gordon, Lord Byron (1788-1824), der von seinen Zeitgenossen oft als ein Mann von „aufgewühlten Leidenschaften” und „rastloser Melancholie” beschrieben wurde. Lord Byrons Ruhm beruht auf seinen literarischen Werken ebenso wie auf seinem ungestümem und unbeständigem Lebenswandel. Er hatte den Ruf, extravagant zu sein, melancholisch, exzentrisch, schrill und unkonventionell, und seine Freunde waren von seinen Stimmungsumschwüngen so verwirrt, dass sie ihn für geistig krank hielten. Feurig, unbeständig, mit einem Temperament, das als „natürlich brennend” beschrieben wurde, geriet Byron oft in extreme Depressionszustände. In seiner Poesie beschrieb er den romantischen Menschen als „halb Staub, halb Gottheit, gleichsam unfähig zu sinken oder aufzusteigen”, eine „gemischte Essenz”, einen „Konflikt der Elemente.” Seine autobiografischen Gedichte waren voll von extremen Emotionen, melancholisch, oft sardonisch, mit einem Gefühl von verlorenem Sinn und missbrauchten Leidenschaften, Erhöhung und Horror, Kummer und Vergnügen, Ewigkeit und Veränderung.35 Über sich selbst schreibt Byron: „Schwer von Liebe, verzehrt vom Spleen.” Diese Neigung zu Unzufriedenheit, Freudlosigkeit, Untätigkeit und Entrücktheit wurde in der Zeit der Romantik als Byronismus oder Wertherismus bekannt und bezeichnete die zeitgenössische Neigung zu Exzessen, heroischer Verzweiflung und Melancholie.

Seit der Entstehung des Existentialismus assoziierten die Philosophen melancholische Geisteszustände mit dem Gefühl von Weltschmerz, mangelnder Erfüllung, Unbefriedigtsein und hoffnungsloser Sehnsucht. Die Melancholie wurde zu einem Zustand der spirituellen Dunkelheit, der schwarzen Leere, in der alle menschlichen Anstrengungen vergeblich und die Existenz sinnlos war. Eine der bedeutendsten modernen philosophischen Theorien über die Melancholie waren die Vorstellungen des dänischen Philosophen Søren Kierkegaard (1813-1855). In Entweder/Oder definiert er die Melancholie als „spirituelle Hysterie”, einen Prozess der spirituellen Reifung, der zu Selbsterkenntnis und Ewigkeit führt, die jedoch nicht erlangt werden kann. Die andere und extremere Form von Kierkegaards „spiritueller Hysterie” war die Verzweiflung. Dem dänischen Philosophen nach war der Zustand der Verzweiflung die Krankheit des Selbst, das Siechtum bis zum Tod. Sie war eine spirituelle Schwäche, die den Körper jedoch nicht töten konnte. Ein Leidender war todkrank, aber die Krankheit führte nicht zum Tod, weil ihre Natur das Leiden und die Unfähigkeit war, zu sterben und sich vom Schmerz zu befreien. Langeweile war ein Lieblingsthema der Mehrheit der existentialistischen Philosophen. Besprechungen dieses Konzeptes sind in den Schriften von Arthur Schopenhauer (1788-1860) zu finden, jenes deutschen Philosophen, der für seinen atheistischen Pessimismus bekannt war, und später in den Werken von Martin Heidegger (1889-1976). Heidegger schrieb über die Langeweile in seinem Die fundamentalen Konzepte der Metaphysik und in dem Essay Was ist Metaphysik? Schopenhauer benutzte das Konzept der Langeweile, um die Vergeblichkeit und Sinnlosigkeit der menschlichen Existenz zu beweisen.

Die milde Form der „spirituellen Hysterie” war die Nostalgie, eine schwärmerische und sentimentale Sehnsucht nach etwas Vergangenem und üblicherweise Unwiederbringlichem. Johannes Hofer (1669-1752) beschrieb die Nostalgie als Heimweh, die starke Sehnsucht nach Haus und Familie (der Begriff „Nostalgie” ist vom griechischen nostos, was „heimkehren” bedeutet und algos – Leiden abgeleitet). Seine Bedeutung reicht jedoch viel tiefer. Nostalgie war die melancholische Sehnsucht nach etwas, das unwiederbringlich verloren war. Es war der Mangel an Harmonie zwischen jemandes Vision des Universums und der feindseligen Realität. In der zeitgenössischen Literatur war sie die Krankheit der Unzufriedenheit.

Eine andere moderne Theorie war das Konzept des Spleen oder Ennui. Der Begriff „Spleen” tauchte in England im frühen siebzehnten Jahrhundert als Synonym für Hypochondrie auf. In den folgenden Jahrhunderten wurde er zum populärsten Ausdruck in den Beschreibungen von Melancholie. Zuerst hatte man geglaubt, dass die Krankheit aus Störungen der Milz (engl: Spleen) resultiere und ihre Symptome wurden allgemein mit Hysterie in Verbindung gebracht. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert jedoch wurde der Begriff „Spleen” mit einer bestimmten Art von Depression assoziiert, einer Mischung aus Langeweile und Schwermut, die aus einer pessimistischen und zynischen Sichtweise der umgebenden Realität resultierte. Ennui war ein französischer Begriff für denselben emotionalen Zustand (abgeleitet vom altfranzösischen Enui – Verärgerung), der fast zur selben Zeit auftauchte und von Charles Baudelaire (1821-1867) in seinem Les Fleurs du Mal entwickelt und bekannt gemacht wurde. Der in Baudelaires Poesie dargestellte Zustand von Melancholie ist dunkel, erschreckend, schmerzhaft, hoffnungslos und voll von Verzweiflung. Diese Stimmung prägt auch berühmte zeitgenössische Werke der Literatur wie z.B. Oscar Wildes Das Bildnis des Dorian Gray (1890) oder J-K Huysmans À rebours (Wider die Natur, 1884). Im neunzehnten Jahrhundert bezeichneten Spleen und Ennui den Zustand von Schlaffheit und Unbefriedigtsein, der aus Interesselosigkeit oder Langeweile resultiert, dem anhaltenden Erleben der Zeit als einer Last. Die Monotonie der weltlichen Routinen und ermüdenden Handlungen verursachte Langeweile, schwächte den Willen und führte schließlich zu einem Gefühl von tiefer Depression. Spleen oder Ennui waren das Stadium der absoluten Passivität, der Zustand, in dem alle Taten sinnlos waren, ermüdend und stumpf.

Es war das Lebensgefühl der Dekadenzbewegung im späten neunzehnten Jahrhundert, als Künstler, Autoren und Philosophen das Künstliche über die typisch romantische spiritualisierte Sicht der Natur setzten. Die Dekadenz oder Fin de siècle war die Zeit des Niedergangs und einer wahrgenommenen Erosion der moralischen Werte und Traditionen. Der Ausdruck Fin de Siècle bezieht sich üblicherweise auf das Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Europa, speziell Frankreich, und wird mit bestimmten französischsprachigen Kreisen in Paris und Brüssel assoziiert, zu denen Dichter und Schriftsteller wie Stéphane Mallarmé (1842.1878), Oscar Wilde (1854-1900), Comte de Lautréamont (1846-1870), Joris-Karl Huysmans (1848-1907) oder Arthur Rimbaud (1854-1891) gehörten. Die Bewegung der Dekadenz wurde auch mit anderen Bewegungen wie dem Symbolismus oder der Ästhetik assoziiert und drückte sich in erwartungsvoller Aufgeregtheit und Verzweiflung angesichts des bevorstehenden Jahrhundertwechsels aus. Fin de Siècle wird oft als die melancholischste Periode der westlichen Kultur bezeichnet.