Maritime E-Bibliothek: Sammelband Abenteuer und Segeln

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»Wovon leben sie?« fragte Elga.

»Sie arbeiten in der Stadt«, sagte Peter, »als Schauerleute, Taxifahrer, Ladengehilfen, Omnibusschaffner, Boten – ach, so alles mögliche. Auf dem Lande arbeiten sie als Plantagenarbeiter. Sie arbeiten, wenn sie Lust haben oder Geld brauchen. Lust haben sie nie, Geld brauchen sie immer.«

»So ging’s mir auch«, sagte ich mit Nachdruck.

»Man kann sich nicht auf sie verlassen«, sagte Peter.

»In welcher Hinsicht?«

»Sie denken anders als wir. Also – ein schwarzer Lagerhalter ist angewiesen, Meldung zu machen, wenn ein Artikel ein bestimmtes Minimum erreicht hat. Es geschieht, daß der Lagerbestand dann doch plötzlich geräumt ist. Zur Rede gestellt, sagt unser großer, schwarzer Lagermeister: ›O mistarr, das ist schrrecklich, ich weiß. Aberr gesterrn warr noch viel zu viel da!« Es handelt sich um einen Artikel, der seit Jahren einen völlig gleichmäßigen Abgang hat.«

»Die Regierung ist schwarz?« fragte ich. »Wie geht denn das Regieren?«

Peter bremste das Auto scharf, weil eine hoffnungsfrohe Negermammy in schneeweißem Kleid und unter einem Federhut riesigen Ausmaßes mit drei schokoladenfarbigen Kleinkindern gravitätisch über die Straße zur Kirche schritt.

Dann sagte er: »Regierungs- und Verwaltungsleute werden in England ausgebildet. Manchmal kommt bei ihrem Regieren und Verwalten etwas heraus, als ob sie zuviel gelernt haben – manchmal, als ob sie alles vergessen haben.«

Weitere Kirchgänger kamen uns entgegen. Die meisten Frauen und Mädchen waren sonntäglich weiß gekleidet. Alle trugen Hut, Schirm, Handtasche und Stöckelschuhe. Dicke Mammies freilich gingen barfuß, trugen aber die viel zu kleinen Schuhe in der Hand. Und alle hatten sorgfältig gesträhntes Haar.

Glattes Haar, wie es weiße Frauen haben, das ist der höchste Wunsch jeder schwarzen Eva. Wenn’s mit Gewalt und Pomade nicht geht – und es geht meist nicht – muß ein Zopf gemacht werden. Und ist das Krusselhaar nicht mit einem Zopf zu bändigen, dann tun es eben mehrere.

»Sieh, sieh bloß!« rief Elga. »Die hat fünf – nein, sieben Zöpfe!« Sie fiel ins Rückenpolster zurück. »Und alle mit kleinen roten Schleifen.«

Was bei den Frauen die Frisur, war bei den Männern der Hut. Es gab keine Farbe und keine Form, die nicht getragen wurde. Der Vielfalt war nichts hinzuzufügen und auch nicht dem Stolz, mit dem diese Hüte getragen wurden.

»Sie sind großartig«, sagte ich. »Ich mag sie!«

»Die Hüte?« fragte Elga und schnappte nach Luft.

»Nein, nein. Die Schwarzen, die Neger. In dieser Schicksalsstunde beginne ich eine tiefe Zuneigung zu farbigen Menschen zu fassen – jawohl!«

Peter seufzte. »Du hast noch nie mit ihnen arbeiten müssen.«

Meine neue Völkerliebe war zu allem bereit. »Na, und?« fragte ich aggressiv. »Ich habe ihre Frisuren und Hüte gesehen. Was ist das schon: mit ihnen arbeiten – mit ihnen lustig sein will ich!«

»Das kannst du haben«, sagte Peter.

»Ich nehme dich beim Wort, Seemann. Wann?«

»Heute abend.«

Wir fuhren durch Zuckerrohrfelder zur Ostküste, wo der Atlantik in riesenhafter Brandung zu stäubender Gischt verdampfte.

Elga starrte ängstlich-fasziniert auf die donnernde See. »Da zu stranden – na, ich danke.«

»Für die Besatzung ein böses Ende, ja«, antwortete Peter. »Gewinn freilich für den, der das Strandgut birgt.«

Wir sahen ihn fragend an.

»Es ist ein Märchen«, erklärte Peter, »ein karibisches Märchen – grausam, piratenhaft, gewinnbringend. – Laßt uns hier picknicken.«

Auf einer Hangwiese verzehrten wir das von Elga vorbereitete Essen. Peter erzählte: »Vor zweihundert Jahren lebte ein Mann namens Sam Lord hier auf der Insel. Er ließ sich ein festungsähnliches Haus an der Südspitze bauen, direkt am Strande hinter dem Cobbler Reef. Er gewann seinen sagenhaften Reichtum dadurch – also, er hatte auch Zuckerrohrplantagen, die großen Gewinn abwarfen. Aber nebenher pflegte er Schiffe mit falschen Feuern aufs Cobbler Reef zu lenken. – Noch heute heißt das Haus Sam Lords Castle. Ein Amerikaner hat es kürzlich gekauft und natürlich ein Luxushotel daraus gemacht.«

Die Südspitze der Insel schob sich flach ins Wasser. Viereckig festungsgleich steht auf ihr ein Haus, in grauen Steinquadern erbaut. Von der Gartenmauer am Strand sahen wir das Riff. Es lag etwa eine Seemeile vor der Küste. Die See tobte über ihm.

Sam Lord vor zweihundert Jahren brauchte nichts weiter zu tun, als hier an Land einige Lichter wie Ankerlaternen von Schiffen aufzuhängen. Bei den groben Navigationsmethoden seiner Zeit genügte das, um das Opfer zumindest unsicher zu machen.

»Mann, merkwürdige Lichter. Gefallen mir nicht«, mag der Kapitän eines zur Carlisle Bay bestimmten Schiffes gesagt haben.

»Es müssen Ankerlichter sein, Sir«, antwortet der Maat. »Die Schiffe liegen ruhig. Das ist bereits im Lee der Insel.«

Die beiden Männer starren in die Nacht.

»Lassen Sie die Bramsegel wegnehmen und schicken Sie einen Mann nach vorn zum Loten«, ordnet der Kapitän an. »Ausguck in den Vortopp! Ja, es scheint der Ankerplatz zu sein.«

Die Segel werden festgemacht. Von vorne klingen bald die ausgesungenen Lotmessungen. Aber das Riff springt steil zur Oberfläche.

»Brecher« brüllt der Ausguck im Vortopp plötzlich. »Brecher voraus!«

»Abfallen, Gott im Himmel!« Der Kapitän mag selbst rasend in das Steuerrad gegriffen haben.

Es ist zu spät. Mit knirschender, splitternder Präzision vollzieht sich die Strandung. Von Land kommen Boote, Sam Lords Boote, um zu bergen, was zu bergen ihnen nach dem Strandrecht zusteht. Menschenleben stehen nicht hoch in Kurs bei diesem Bergungsunternehmen.

In der Halle des Hotels standen wir vor Sams Bild. Es war nicht gut gemalt, aber gerade darum zeigte es primitive Dämonie. Sams Gesicht ist völlig ausdruckslos. Was war er für ein Mensch? Saß er so, wie das Bild ihn zeigt, am Fenster und betrachtete unbewegt die Katastrophe? Sprang er selbst in eines der Boote, um die Beute im geborstenen Laderaum zu prüfen? Wurde sein Treiben niemals durchschaut? Überlebte kein Zeuge die Strandungen?

Die Palmen am Strande beantworten diese Fragen nicht; ebensowenig die See, die sich über dem Riff zu Brechern formt und schäumend zerbricht, was ihr widerstehen will. Unzählige Fragen dieser Art heben sich mit den Brechern, die die Karibische See auf ihre Inseln wirft – Fragen, die in Gier und Mordlust, in Leid und Blut ihren Ursprung haben und ohne Antwort bleiben werden bis zum Jüngsten Tag.

Abends saßen wir in dem Schuppen einer Negerbar und tranken Rum mit Cola. Wir konnten unsere Füße nicht stillhalten, denn der Rhythmus des Kalypso war hinreißend. Er ist Volksgesang in bestimmter Taktfolge, in die hinein der Text vom Sänger improvisiert werden muß. Zu Zeiten des Karnevals werden Sängerkriege zwischen Kalypsosängern ausgetragen, bei denen das Publikum bis zur Raserei mitgeht. King Fighter, Lord Sivers, Big Sir Bell sind die Künstler-, besser Kriegsnamen berühmter Sänger. Glorious Cry war im letzten Jahr unbestrittener Matador gewesen. Ihn erwarteten die Schwarzen hier in schnatternder Ausgelassenheit.

Er kam in grauer Hose, rot-grün karierter Jacke, lila Schlips und mit einem Hut, der seinem jüngsten Sohn zu klein gewesen wäre. Er hatte ein kluges Pferdegesicht und aufmerksame Augen. Er strahlte vor Freude. Das Publikum war bereits von seinem Anblick begeistert.

Glorious Cry sang. Die Zuhörer belohnten ihn mit Toben, Aufspringen, Mitsingen, Tanzen. Wir waren in eine Vorhölle der Freude geraten. Wir lachten und klatschten ebenfalls.

Glorious Cry merkte sehr schnell, was dem Publikum gefiel, und machte es zum Refrain, in den alle einfielen:

Mathildá, Mathildá!

She take me money and go Venezuela!

Die Kapelle lärmte und alle sangen, wir auch, und lachten und tanzten und hüpften. Peter tanzte irgendwie mit Elga, ich tanzte irgendwie mit einer kleinen Schwarzen, alle tanzten irgendwie. Und Trommeln trommelten und Gitarren winselten und Tamburins rasselten und Hölzer schnarrten und gestopfte Trompeten jaulten. Der Schuppen zitterte.

Glorious Cry kam und fragte: »Sie frreuen sich?« Der Barbesitzer kam und fragte: »Sie frreuen sich, mistarr?«

Wir sagten »Ja!«, und die beiden grinsten, wie nur westindische Neger grinsen können.

Augen begannen zu rollen. Schweißgeruch breitete sich aus. Tanz, Tanz! Was sonst bleibt den Nachfahren jahrhundertelanger Sklaverei? Götter und Sitten blieben im afrikanischen Busch. Tanz, Tanz! Der Weiße Mann fing sie wie Tiere und brachte sie zu diesen Inseln. Tanz, Tanz! Sie waren entwurzelt und unfrei: Sklavenpeitsche! Tanz! Doch jetzt sind sie frei: Demokratie! Tanz! Sie sind immer noch entwurzelt. Tanztanz! Was der Weiße Mann will, ist das gut gewollt? Tanztanz! Was ihnen bleibt, ist vitale Kraft zum Leben. Tanztanztanz! Sonst nichts – nur Tanz in die Ekstase tiefsten Vergessens.

»Woran denkst du, wenn du tanzt?« fragte ich wie ein Tanzschüler – und wirklich, ich war einer.

»Tanztanztanz!« grinste die kleine Schwarze und tanzte wie eine Feder, die jeder Wind verweht.

Später standen wir schwitzend am Strand hinter dem bebenden Schuppen. Eine sanfte Brandung wisperte. Vollmondschein machte die Dinge ringsum unwirklich.

Peter fragte: »Na, Alter, warst du lustig mit ihnen?«

»Ja-ja-ja!« tanzte ich ihm vor, wie ich gelernt hatte.

»Oh!« entfuhr es Elga.

»Du darfst nur nicht über sie nachdenken dabei«, fügte ich hinzu und stand still. »Aber ich fürchte, das erwarten sie auch nicht von uns.«

Am nächsten Tage verließen wir Barbados. Knapp 24 Stunden später fiel unser Anker hier. Nun ist Weihnachten.

 

Und wir baden mit gewaltigem Wasserspritzen. Einige Negerkinder – Nackedeis in einem zerbrochenen Ruderboot, das in übergroßen, schiefen Buchstaben den Namen »Miraculous Image« trägt – werden durch unser Treiben angelockt und sehen ihm ehrfürchtig lächelnd aus sicherer Entfernung zu.

Bevor wir am Abend zur »Kinya« hinüberrudern, sitzen wir noch für eine Weile bei uns an Bord. Der Westhimmel beginnt der untergegangenen Sonne nachzuleuchten. Das bewegungslose Wasser der Bucht wird zu himmlischem Spiegel, über dem und in dem erster Sternenschein flimmert. Die Firma, bei der ich in Hamburg tätig war, schickte uns einen kleinen Tannenbaum, dessen Silhouette winzig vor dem großen Glanz von Himmel und Wasser steht.

Es ist Sitte hierzulande, daß Kinder am Heiligen Abend von Haus zu Haus ziehen und vor den Türen Musik machen. Sie dehnen ihre Tournee per »Miraculous Image« zu unserem Ankerplatz aus und spielen uns auf mit Gitarren und Tamburins. Bootsbänke klingen wie Urwaldtrommeln. Welche Sehnsucht, von schwarzen Kinderhänden erzeugt, steigt in die Stille Nacht.

An Land beginnt die Glocke von Port Elizabeth die Weihnacht einzuläuten. Wie bei einem Weihnachtstransparent erleuchten sich die Fenster der Kirche mit goldgelbem Petroleumlicht. Vor ihrem Schein sehen wir die Schwarzen zum Gottesdienst gehen. Schnell verscheppert der Glockenklang im Summen der Zikaden und im Singen der Baumfrösche – ein Geräusch so anhaltend gleichmäßig, daß man es nach einiger Zeit nicht mehr wahrnimmt. Stille umgibt uns.

Der Pfarrer dort drüben erzählt seinen Pfarrkindern nun die Weihnachtsgeschichte. »Es begab sich aber zu der Zeit …« Mit all der Intensität, zu der jeder Neger fähig ist, lauscht die Gemeinde, wie das Christkind in die Krippe gelegt wird. Die Mammies, deren Geburtenfolge ja unaufhörlich ist, bekommen jetzt gewiß schon ganz runde Kulleraugen bei der heiligen Vorstellung, wie schön, wie süß mit rosa Hand- und Fußballen dieses Baby in der Krippe gewesen sein muß. Und die Hütte, in der die Krippe stand, gleicht so sehr ihrer eigenen dort am Hang: vier Holzvvände, Stallaterne, Stroh, Kuh, Esel, Schaf. »Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend …«

Später kommt schwach der Klang eines Chorals zu uns hergeweht. Aha – wir lächeln und machen uns bereit, zur »Kinya« hinüber zu rudern – jetzt dürfen sie singen, laut und mit verhaltenem Taktwiegen des Körpers, ganz erfüllt von der Geschichte, die auch das einfachste Gemüt versteht, und ganz hingegeben dem Takt, den auch der feierlichste Choral hat.

Bong-bong, bing-bang – so klang es schon wenig später vom Ufer her, als die Gemeinde aus der Kirche kam. In den Hütten gingen die Stallaternen an, und Musik, Musik klang über die dunkle Bucht.

Peter segelte am zweiten Weihnachtstage zurück nach Barbados. Auf Antigua wollen wir uns wiedertreffen, wohin er in Geschäften segeln wird. Wir gingen mittags zur Landungsbrücke, wo der Schooner aus Kingstown mit der Steelband erwartet wird.

Auf der Landungsbrücke drängt sich eine aufgeregte, buntgekleidete Menschenmenge. Männer, lässig unter zu kleinem Hut; Mädchen, das Haar: leg dich oder ich pomade dich, das Kleid: hauteng, besonders am Po; Mammies, einem baldigen Ereignis wohlgeschwellt entgegensehend; alte Herren, etwas zerlumpt doch Häuptlingshaltung; dazwischen Kinder, Kinder, sehr liebevoll und sauber angezogen.

Das alles wogt und wallt und schnattert durcheinander. Die Steelband kommt – haha, hoho! Während der Schooner anlegt, spielt die Steelband mit ihren aufgesägten Benzinfässern bereits an Deck. Und an Land beginnt sofort der Tanz. Der Opa tanzt, das Kleinkind tanzt, die Männer vergessen ihre Lässigkeit, die Mädchen die Schönheit ihrer Frisur, die Mammies das baldige Ereignis. In unbändiger Ausgelassenheit zieht die Bevölkerung, voran die Steelband, zum Schuppen des Feuerwehrautos. Der uralte Ford – springt sein Motor nicht mehr an? – wird herausgeschoben und das Fest beginnt.

Während des Krieges gab es keine Musikinstrumente. Leere Benzinfässer jedoch lagen haufenweise herum. Man muß schon ein westindischer Neger sein, um in einem leeren Benzinfaß ein Musikinstrument zu sehen. Sie versuchten es – bongbong! Und siehe: jedes Faß hatte einen anderen Klang – bangbang! Durch Aufschneiden der Fässer in verschiedenen Längen konnten sie jede gewünschte Klangnuance erreichen.

Man kann auf einer Säge geigen. Es gibt einen jaulend-wehmütigen Ton. Diesen Ton stelle man sich getrommelt vor, gleichzeitig auf vielen Fässern verschiedener Klanghöhe. Steelbands machen eine wehmütig-singende Musik, steigern sich zu heulendem Paukenschlag. Trommler und Tanzende werden eins in Rausch und Ekstase.

Abends kommen wir nach einem Spaziergang am Feuerwehrschuppen vorbei. Bongbungbangbuiiim! Sie tanzen. Wir stehen fassungslos.

Gebleckte Zähne, schweißnasse Gesichter, rollende Augen, zuckende Glieder. Unheimlich wirken die Überreste europäischer Kleidung an diesen Körpern. Sie tanzen keinen afrikanischen Buschtanz, keinen westindischen Kalypso, auch keinen amerikanischen Rock’n roll. Sie tanzen das absolute Nichts, um sich zu vergessen. Unsichtbar steht hinter ihnen der Schatten des Weißen Mannes. Denn unsere Vorväter brachten ihre Vorväter in Ketten hierher.

Sie tanzen rasend, gleich werden sie Fackeln entzünden.

Sollen wir uns verstecken hinter dem uralten, nutzlosen Ford? – Wie mutlos.

Sollen wir verächtlich den Kopf schütteln ob dieser barbarischen Tanzerei? – Wie herzlos.

Morgen, die Ruhe vollkommener Erschöpfung wird über das Dorf gefallen sein, müssen wir absegeln.


St. Lucia, im Januar 1965

Wir segelten nach Norden an der Insel St. Vincent vorüber, die ihre 1000 Meter hohen Berge dunkel, fast drohend zu den Wolken hob. Wir gingen unsere üblichen Ruderwachen. Die Nacht wurde ruhig mit flauem Ostnordost-Passat. Im Lee der Insel nahmen wir die Maschine zur Hilfe.

Bei Sonnenaufgang standen wir zwischen St. Vincent und St. Lucia. Der Passat frischte auf und schuf einen harten, kurzen Stromseegang. Wir wurden stark nach West versetzt. Die Pitons, zwei steile Bergkegel an der Südwestküste von St. Lucia, färbten sich sonnenbeschienen. Zum Mittag verloren sie alle Farben, als sich Hitze dunstgleißend über die Insel legte.

In Port Castries, dem Hafen von St. Lucia, klarierten wir ein, kauften Proviant und ergänzten Wasser. Wir machten anschließend einen Gang durch die Stadt. Schiefe Negerhütten, moderne Neubauten und wie verfallen wirkende Häuser im Kolonialstil säumten die heißen Straßen. Alles, was wir sahen, wirkte arm und verstaubt. Bunt waren nur die hölzernen Autobusse. Über die schreienden Farben ihrer Karosserien waren großzügig Bilder gemalt mit erklärenden Namen. »Neptun«, »Gliding Star«, »Roaring Lion«.

Ich fragte einen der Busfahrer nach dem Sinn solcher künstlerischen Kraftentfaltung.

»O mistarr«, sagte er und zeigte grinsend sein Raubtiergebiß, »das sind die Bus-Linien. Ich hierr mit ›Flying Crrocodile‹ fahrre zurr Ostküste – zweimal am Tag.«

Während wir auf dem Rückwege diese Errungenschaft gesprächsweise in Hamburg einführten – »Tobender Elefant« nach Blankenese, bitte einsteigen!« – dämmerte uns, daß Busnummern den Schwarzen nichts sagen würden, da sie keinen Sinn für Zahlen haben.

Am nächsten Tage segelten wir in die 5 Seemeilen südlich gelegene Marigot Bay. Ihre Einfahrt liegt schmal zwischen hohen Felsen. Hinter ihnen weitet sich die Bucht, die von einer flach-sandigen Miniaturlandzunge geteilt wird. Der hintere Teil, in dem wir ankern, bildet einen vollkommen geschützten Naturhafen. Er ist von Mangroven umwachsen. Hinter ihrem Dickicht heben sich Palmen. Am inneren Buchtufer liegt ein kleines Hotel auf blumenbunter Hangterrasse.

Als ein englischer Admiral zum Ende des 18. Jahrhunderts auf St. Lucia landete, um die Insel zum soundsovielten Male den bösen Franzosen zu entreißen, geriet er in arge Bedrängnis. Seine Landetruppen kamen nicht voran, und seine Landungsflotte wurde von einem französischen Geschwader hartnäckig attackiert. Man schickte dem »löwenhaft kämpfenden« Admiral ein Verstärkungsgeschwader aus Antigua, das die französischen Schiffe zwar fortlocken konnte, aber den Franzosen ebenfalls nicht gewachsen war. Die Engländer ergriffen die Flucht und wären wohl in Grund und Boden gebohrt worden, hätte ihr Geschwaderkommandant nichts von der Marigot Bay gewußt. Er fand die schmale Einfahrt, ließ einsegeln und im hinteren Teil der Bucht ankern. Die hohen Schiffsmasten wurden mit Palmenwedeln getarnt. Die Franzosen suchten lange nach den »vom Meer verschluckten« Engländern, besannen sich dann auf ihre Hauptaufgabe und kehrten um. Sie kamen zu spät. »Der Löwe von St. Lucia«, befreit von den ihn in den Schwanz zwickenden Kriegsschiffsschwärmen, hatte Port Castries inzwischen erobert. Zum soundsovielten Male sank die Trikolore in den Staub, und der Union Jack begann zu flattern. Er flatterte nicht lange. Die Franzosen kamen wieder.

Auch damals schon war die Banane Hauptexportartikel der Insel. Sie reifte unter dem Union Jack ebensogut wie unter der Trikolore. Die schwarzen Sklaven auf der Insel entwickelten bei dem lärmvollen Wechsel ihrer Herren eine besondere Sprache: ein französisch-englisches Kauderwelsch, das unter dem Union Jack ebensogut verstanden wurde wie unter der Trikolore.

Heute ist die Insel englischer Besitz. Sie soll demnächst unabhängig werden. Banane und Kauderwelsch werden auch das überleben.

Nachmittags rief uns ein Mann aus einem Mahagoni-Motorboot an: »Wenn Sie etwas über Hamburg hören wollen, besuchen Sie mich heute abend!«

Elga faßte sich zuerst. »Sind Sie aus Hamburg? Kommen Sie an Bord!«

»Nein, vielen Dank«, sagte er und ließ seinen Renner vorschnellen. »Ein anderes Mal.«

»Welche Jacht?« rief ich ihm nach.

»›Walanka‹ – dort!«

Wir sahen zu der großen Motorjacht hinüber, die am Vormittag eingelaufen war.

In stolzer Linie hob sich der fleckenlose Bug der »Walanka«. Ihre Brücke schien uns himalayahoch. Am Heck wehte das britische Blue Ensign. Wir ruderten – ruck und ruck – zur Gangway, wo unser Gastgeber lächelnd stand.

»Herzlich willkommen! Mein Name ist S.«. Er trug nun nicht mehr Shorts und Sporthemd wie am Nachmittag, sondern lange Hosen und Hemd mit Schlips.

Wir stellten uns vor. Ich betrachtete heimlich meine Shorts, die etwas fleckig, und meine Füße, die zwar fleckenlos doch nackt waren. Elga war glücklicherweise passender angezogen.

Mr. S. führte uns in den Salon, wo – meine nackten Zehen krallten sich in den dicken Teppich – etwa zwölf Personen in Abendkleidung zu einer Cocktailparty versammelt waren. Ich sagte also etwa zwölfmal »How do you do«. Dann setzte ich mich in einen Sessel, der halb so groß wie unsere Kajüte war und ausgezeichnete Möglichkeit bot, meine Füße unter ihm zu verstecken. Elga wurde von einigen Herren in die Sofaecke mit Stehlampe und Rauchtisch entführt.

»Whisky, please«, flüsterte ich dem lautlos vor mir erschienenen Steward zu.

»Mir auch noch einen!« sagte der alte Kapitän neben mir mit Kommandostimme. In seinen jungen Tagen, wie er mir erzählte, hatte er Rahschiffe um Kap Hoorn gesegelt.

»Well«, sagte er und holte in aller Ruhe seine schwarze Pfeife aus der Tasche, die er auf den Hochglanztisch legte. »Es war manchmal hart da unten, Sie können’s mir glauben. Aber was hatten wir für herrliche Schiffe!«

Er stopfte seine abgewetzte Pfeife. »Ich bin kein Jachtsmann, no, nie gewesen. Sah Ihr Boot, als wir einliefen. Was ich nicht verstehe, ist, wie Sie mit Ihrem Grashopper in schlechtem Wetter klar kommen.«

Ich versuchte, ihm die Seetüchtigkeit einer Hochseejacht zu erklären.

»Well«, sagte er schließlich, »das leuchtet mir ein. Ihre Jacht kann nicht kentern, weil sie entsprechenden Ballast hat. Sie kann nicht vollschlagen, weil sie starke Luken und ein selbstlenzendes Cockpit hat. Das Rigg ist kräftig – well, und der liebe Gott hilft bei allem ein wenig. Aber, Junge, die Bewegungen im Seegang müssen euch ja umbringen.«

»Ja, manchmal«, sagte ich. »Und die Ruderwache ist ein nasser Job.«

Seine Augen schienen durch die Wände des Salons hindurchzublicken und die grauen Seen vor Kap Hoorn zu sehen. »Das war’s bei uns auch. Und im Logis spülte das Wasser manchmal die Matratzen aus den Unterkojen. Bei Ihnen auch, was?«

 

Ich vergaß meine nackten Füße. »Wir haben noch nie Seewasser im Schiff gehabt«, sagte ich. »So ein kleines Schiff liegt ja im Vergleich zu einem großen viel besser auf der See. Es ist leicht, es weicht aus, es wird gehoben. Die See findet keine Masse, die sie zerschlagen kann. Freilich, wir segeln nicht in solchen Sturmgebieten wie vor Kap Hoorn.«

Mr. S. hatte sich zu uns gesellt. Auch andere sahen zu uns herüber. Meine Füße wanderten wieder unter den Schutz des Sessels.

Der alte Kapitän sah mich interessiert an. »Würden Sie um Kap Hoorn segeln – well, mit Ihrer Jacht?«

»Nein.«

»Es ist gemacht worden, soviel ich weiß«, warf Mr. S. ein.

»Ja«, sagte ich, »verschiedene Male auf kleinen und großen Jachten.«

Der alte Kapitän schmauchte gewaltige Rauchwolken aus seiner Pfeife. Seine harten, blauen Augen blickten mich unverwandt an. »Es gibt drei Grundregeln«, sagte ich zögernd, »nach denen wir unsere Weltumsegelung durchführen wollen: Sicherheit erst, Wohlergehen dann, Schnelligkeit schließlich. Mit einer Jacht vor Kap Hoorn ist jede dieser Regeln infrage gestellt. Da war die Ketsch ›Tzu Hang‹. Ihr Skipper versuchte, das Kap von West nach Ost zu runden. Die Jacht wurde von einer mitlaufenden Sturmsee überrannt und kenterte in Längsrichtung über den Bug. Die ›Tzu Hang‹ war ein bewährtes Seeschiff.«

»Und die Besatzung?«

»Die Frau des Skippers wurde über Bord gewaschen, griff in die Takelage, die nachschleppte, als sich das Schiff mit gebrochenen Masten und eingedrückter Kajüte wieder aufgerichtet hatte. So konnte sie an Bord gelangen. Der Skipper und ein Freund befanden sich unter Deck. Sie brachen sich nicht das Genick. Man konnte die Jacht lenzpumpen und unter Nottakelage nach Südamerika segeln.«

»Großartige Seemannschaft«, sagte der alte Kapitän.

»Unsichere Reise in totaler Erschöpfung auf einem Wrack«, entgegnete ich. »Diese Menschen waren eisenhart. Sie versuchten später, wiederum Kap Hoorn zu bezwingen. Wiederum kenterte die ›Tzu Hang‹, wiederum erreichte man in Müh und Not Südamerika. Die See ist frei, captain, wirklich frei, und jeder segelt auf ihr nach eigenem Willen die Kurse seiner Bestimmung.«

Der alte Kapitän rauchte gedankenverloren. »Wieviele gute Schiffe«, sagte er schließlich mit einer vagen Handbewegung, »… wieviele gute Schiffe machte Kap Hoorn zuschanden.«

Mr. S. sagte herzlich: »Jetzt will ich Ihnen einmal zeigen, wie wir mit der ›Walanka‹ zur See fahren. Und dabei will ich mich mit Ihnen über Hamburg unterhalten. Ich emigrierte in den dreißiger Jahren. Es blieb mir nichts anderes übrig. Aber ich liebe die Stadt immer noch …«

Und während wir durch sein Schiff gingen, erzählte er Hamburger Geschichten. An der Gangway gaben wir uns die Hand. Elga und ich dankten ihm und seiner Frau. Der alte Kapitän qualmte gewaltige Wolken aus seiner schwarzen Pfeife.

Ich ruderte uns – ruck und ruck – aus dem blendenden Schein der Gangwaylampe. Ein Schlauchboot ist kein Salonsessel.

»Haben Sie Ihre Schuhe an Bord vergessen?« rief Mr. S.

»Keine angehabt!« schrie ich zurück.

Er lachte und hob grüßend die Hand.

»Fair winds!« rief der alte Kapitän mit Kommandostimme.

Am nächsten Morgen schickten sie uns einen gekochten Hummer zum Frühstück und die Einladung zu einem Duschbad für den Nachmittag. Wir freuten uns.

Kuchendüfte wehten am Nachmittag des Silvestertages durch die Kajüte bis hinauf zum Deck, wo ich Ausbesserungsarbeiten machte, die unter der ständigen Einwirkung des Tropenklimas sich nun unaufhörlich fortsetzen.

»Na, wird er was?« rief ich neugierig.

»Nicht so laut!« Elga steckte erhitzt den Kopf aus der Luke. »Sonst wird er klitschig.«

Elga hat in ihrer Patent-Deckelpfanne sogar schon Brot gebacken. Die ständige Gefahr bei solchen Unternehmen ist nur, daß nach kunstvollem Backen Brot oder Kuchen zusammenfallen. Wir ließen bisher nichts unversucht, um diese Gefahr zu bannen – von der Hitzeregulierung bis hin zu magischen Beschwörungen. Die letzteren sind meine große Aufgabe.

»Pfanaseisogut – kuchoprobelei«, flüsterte ich und kramte Farbdosen und Werkzeug zusammen, wobei ich mich der Luke näherte. »Wenn er fertig ist, laß mich probieren, gutes Kind – hungroimmaso –« Aber Elgas Kopf war verschwunden. Ich legte mich in den Schatten des Sonnensegels und sah zum sonnengebadeten Ufer hinüber, wo einige weiße Reiher bewegungslos standen. Darüber schlief ich ein.

Nach dem festlichen Abendessen saßen wir im Cockpit und tranken französischen Rotwein. Kurz vor der Dämmerung waren die weißen Reiher aufgeflogen. Als der Abendschimmer im Westen verglomm und das Konzert von Baumfröschen und Grillen begann, setzte im Uferdickicht das Spiel der Glühwürmchen ein. An immer neuen Stellen glühten sternhafte Punkte auf, verweilten sekundenlang und löschten aus.

Wir hörten Musik im Radio, tanzten ein wenig – so klein ist »Kairos« gar nicht – und unterhielten uns. Der Zauber dieser Inseln war ein unerschöpfliches Gesprächsthema für uns.

Columbus glaubte, den westlichen Weg zum reichen Indien gefunden zu haben. Aber er hatte einen neuen Kontinent entdeckt. Er hinterließ seinen Traum vom Golde, an dem er zerbrach, der spanischen Conquista. Mit Wünschelrute, Schwert und Kreuz wurden die »Westindischen« Inseln während des 16. Jahrhunderts durchstöbert, wurde das Festland im Westen der Karibischen See durchsucht und für die spanische Krone in Besitz genommen. Es wurde ein Abenteuer ohne Grenzen, das den Irrtum des Columbus hinsichtlich des entdeckten Kontinents berichtigte: es war nicht Indien. Aber es steigerte seine Phantasterei vom Gold: man fand niemals genug.

Die Spanier blieben nicht allein. Englands Weg zur Seeherrschaft begann in der Karibischen See. Hawkins und Drake kamen und plünderten die spanischen Niederlassungen wie Piraten. Wirbelsturmgleich stießen sie in die Häfen und schossen alles, was dort schwamm, kurz und klein. Phantastisch, was sie in den besetzten Häfen an Reichtum vermuteten. Sie verlangten Millionen an Lösegeldern, und jede Woche sank ein Straßenzug oder ein Häuserblock in Schutt und Asche, wenn ihre Erpressungen nicht erfüllt wurden. Mit einem Bruchteil von Millionen mußten sie sich begnügen, aber rauchende Trümmer ließen sie zurück. Ruhm und Admiralsrang waren ihnen sicher.

Frankreich durfte nicht zurückstehen. Nicht weniger maßlos als die Engländer handhabte der Pirat Florentin das Geschäft. Holländer und Dänen folgten in Bescheidenheit.

Die Ureinwohner, Kariben und Indios, überlebten den wüsten Einzug des Weißen Mannes nicht. Ihre Arbeitskraft fehlte bald auf den Plantagen. So fingen die Piraten Neger an den Küsten Afrikas und verkauften sie zu lohnenden Preisen, bevor sie brandschatzten und kaperten. Reichtum und Ruhm waren für Flibustier in jenen Tagen ebenso schnell zu gewinnen wie Untergang und Tod.

Weder Blut noch Pulverqualm vermochten den Zauber der Inseln auszulöschen. Ihre Namen sprechen von Träumen und Hoffnungen – Trinidad, Granada, Montserrat, Iles des Saintes, Virgin Islands. Eine Säbelscheide voll Frömmigkeit und ein Pulverhorn voll Romantik schenkten die Räuber und Schmuggler den Inseln ebenso wie tödliche Breitseiten.

Im 17. Jahrhundert werden aus diesen Piraten und Schmugglern Regierungsbeamte und Gouverneure. Die europäischen Mächte wollen verwalten und kolonisieren, was Seeräuber eroberten. Als Gouverneur von Jamaica, geadelt, gut ernährt, mit Richtlinien des Philosophen John Locke für die Verwaltung, die später in der nordamerikanischen Verfassung wiederzufinden sein werden, stirbt Sir Henry Morgan. Als Captain Morgan hing er gefangene Spanier an den Daumen auf, bis sie starben, und die Stadt Panama löschte er mit Schwert und Feuer so gründlich aus, daß sie nur neben den Trümmern neu erbaut werden konnte.

Ein Mäntelchen von Menschlichkeit sollte nun alles haben, einen diplomatischen Hintergrund. So gründet der Franzose d’Esnambuc zunächst eine Regierungsgesellschaft »der Herren der amerikanischen Inseln«, bevor er im Namen Frankreichs kolonisiert – kapert und plündert. Zu Gouverneuren und Regierungsbevollmächtigten gesellen sich die Pflanzer. Ihr Reichtum wird von den Negersklaven erarbeitet, die nun nicht mehr von Piraten sondern von Händlern angeboten werden.

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