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Der Weg ins Freie

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Das Wiedersehen mit Heinrich hatte für Georg eine Enttäuschung bedeutet. Der Dichter, nach den ersten Begrüßungsworten, hatte wie gewöhnlich nur von sich geredet, und zwar in den Tönen tiefster Selbstverachtung. Er war endlich darauf gekommen, daß er eigentlich kein Talent besäße, sondern nur Verstand, den allerdings in enormem Maße. Was er aber an sich am heftigsten verdammte, das waren die Disharmonien seines Wesens, unter denen, wie er wohl wußte, nicht nur er zu leiden hatte, sondern alle, die in seine Nähe gerieten. Er war herzlos und sentimental, leichtfertig und schwerblütig, empfindlich und rücksichtslos, unverträglich und doch auf Menschen angewiesen… zuzeiten wenigstens. Ein Subjekt mit solchen Eigenschaften konnte nun seine Daseinsberechtigung nur durch eine ungeheure Leistung erweisen, und wenn das Meisterwerk, zu dem er verpflichtet war, nicht bald, sehr bald in die Erscheinung träte, so war er als anständiger Mensch verpflichtet sich totzuschießen. Aber er war kein anständiger Mensch… daran lag es eben. Georg dachte: Natürlich wirst du dich nicht totschießen, hauptsächlich, weil du zu feig dazu bist. Er sprach das natürlich nicht aus, war vielmehr sehr liebenswürdig, redete von Stimmungen, denen schließlich jeder Künstler unterworfen sei, und erkundigte sich freundlich nach den äußern Umständen in Heinrichs Leben. Da zeigte sich bald, daß es mit ihm gar nicht so schlimm bestellt war. Er führte sogar, wie es Georg scheinen wollte, ein sorgenloseres Leben als je zuvor. Durch eine kleine Erbschaft war die Existenz von Mutter und Schwester für die nächsten Jahre gesichert; trotz aller Feindseligkeiten, die gegen ihn am Werke waren, wuchs der Ruf seines Namens von Tag zu Tag; die klägliche Geschichte mit der Schauspielerin schien endgültig vorbei, und eine ganz neue, erwünscht leichte Beziehung zu einer jungen Dame brachte sogar einige Heiterkeit in sein Dasein. Auch die Arbeit ging gut vonstatten. Der erste Akt des Operntextes war so gut wie fertig und für die politische Komödie vieles aufgezeichnet. Er hatte die Absicht, im nächsten Jahre Parlamentssitzungen zu besuchen, Versammlungen mitzumachen, spielte mit dem eingestandenermaßen kindisch-phantastischen Plan, sich als sozialdemokratischer Genosse aufzuspielen, bei den Führer, Anschluß zu suchen und sich, wenn es anging, sogar als tätiges Mitglied in irgendeiner Organisation aufnehmen zu lassen, nur um im Getriebe einer Partei vollkommen Bescheid zu wissen. Ah, wenn er mit einem Menschen nur einmal fünf Minuten lang sprach, so hatte er ihn ja ganz. Irgendein Wort, dessen Bedeutung ein anderer gar nicht merkte, riß für ihn wie ein Sturmwind die Schleier von den Seelen. Sein Traum war es, in der Operndichtung sich als Meister des Phantastischen, in der Komödie des realistischen Moments zu zeigen und so der Welt zu beweisen, daß er im Himmel und auf Erden gleichermaßen zu Hause wäre. Bei einer spätern Zusammenkunft ließ Georg sich vorlesen, was vom ersten Akt der Oper vollendet war; er fand die Verse sehr sangbar und bat Heinrich um die Erlaubnis, das Manuskript Anna mitzubringen. Diese konnte dem, was Georg ihr vortrug, nicht viel Geschmack abgewinnen; er aber, ohne rechte Überzeugung, behauptete, daß sie eben gleichsam die Sehnsucht dieser Verse nach Vertonung spüre, was sie notwendig als Mangel empfinden müsse.

Als Georg heute zu Heinrich ins Zimmer trat, saß dieser an dem großen Tisch in der Mitte des Zimmers, der mit Blättern und Briefen überdeckt war. Auch auf dem Pianino und auf dem Diwan lagen beschriebene Papiere aller Art. Ein vergilbtes Blatt hielt Heinrich noch in der Hand, als er aufstand und Georg mit den Worten begrüßte: »Nun, wie gehts auf dem Land?« Dies war die Art, in der er sich nach Annas Befinden zu erkundigen pflegte, und die Georg jedesmal von neuem als zu intim empfand. »Danke, sehr gut«, erwiderte er. »Ich komme Sie übrigens fragen, ob Sie heute vielleicht mit mir hinauskommen wollen.«

»O ja, sehr gern. Die Sache ist nur die, daß ich da eben im Ordnen verschiedener Papiere begriffen bin. Ich könnte erst abends kommen, so gegen sieben. Ist es Ihnen recht?«

»Gewiß«, sagte Georg. »Aber ich störe Sie, wie ich sehe«, setzte er hinzu, indem er auf den übersäten Tisch wies.

»Durchaus nicht«, erwiderte Heinrich, »ich ordne ja nur, wie ich Ihnen eben sagte. Es ist der schriftliche Nachlaß meines Vaters. Das da sind Briefe an ihn. Und hier tagebuchartige Aufzeichnungen, hauptsächlich aus seiner parlamentarischen Zeit. Ergreifend, sag ich Ihnen. Wie hat dieser Mann sein Vaterland geliebt! Und wie hat man's ihm gedankt! Sie haben keine Ahnung, in welcher raffinierten Weise man ihn aus seiner Partei hinausgedrängt hat. Ein verwirrendes Ineinanderspiel von Tücke, Beschränktheit, Brutalität… echt deutsch, mit einem Wort.«

Georg lehnte sich auf. Und er wagt es, dachte er, sich über den Antisemitismus aufzuhalten? Ist er besser? Gerechter? Vergißt er, daß auch ich ein Deutscher bin… ?

Heinrich sprach weiter. »Aber ich werde diesem Mann ein Denkmal setzen… Er, kein anderer, wird der Held meines politischen Dramas sein. Er ist die wahrhaft tragikomische Mittelpunktsfigur, die mir noch gefehlt hat.«

Der innere Widerstand Georgs wuchs. Er bekam große Lust, den alten Bermann gegen seinen Sohn in Schutz zu nehmen. »Tragikomische Figur?« wiederholte er fast feindselig.

»Ja«, entgegnete Heinrich bestimmt. »Ein Jude, der sein Vaterland liebt… ich meine, so wie mein Vater es getan, mit Solidaritätsgefühlen, mit dynastischer Begeisterung, ist unbedingt eine tragikomische Figur. Das heißt… er war es zu jener liberalisierenden Epoche der siebziger und achtziger Jahre, da auch kluge Menschen dem Phrasentaumel der Zeit unterlegen sind. Heute wäre ja ein solcher Mensch allerdings ausschließlich komisch. Ja, selbst wenn er sich endlich am erstbesten Nagel aufhinge, ich könnte sein Schicksal nicht anders empfinden.«

»Es ist eine Manie von Ihnen«, erwiderte Georg. »Man hat wirklich manchmal den Eindruck, daß Sie überhaupt nicht mehr imstande sind, etwas anderes in der Welt zu sehen als immer und überall die Judenfrage. Wenn ich so unhöflich wäre, als es Ihnen zuweilen zu sein passiert, so würde ich Sie… Sie verzeihen schon, verfolgungswahnsinnig nennen.«

»Verfolgungswahnsinnig«… , wiederholte Heinrich tonlos und sah an die Wand. »So, also Verfolgungswahnsinn nennen Sie das… Na!« Und plötzlich mit zusammengepreßten Zähnen, heftig, fuhr er fort: »Ich will Sie einmal was fragen, Georg, aufs Gewissen fragen.«

»Ich höre.«

Er stellte sich gerade vor Georg hin und bohrte ihm seine Augen in die Stirn: »Glauben Sie, daß es einen Christen auf Erden gibt, und wäre es der edelste, gerechteste und treueste, einen einzigen, der nicht in irgendeinem Augenblick des Grolls, des Unmuts, des Zorns selbst gegen seinen besten Freund, gegen seine Geliebte, gegen seine Frau, wenn sie Juden oder jüdischer Abkunft waren, deren Judentum, innerlich wenigstens, ausgespielt hätte?« Und ohne Georgs Antwort abzuwarten: »Keinen gibt es, ich versichere Sie. Sie können übrigens auch einen andern Versuch machen. Lesen Sie z. B. die Briefe von irgendwelchen berühmten, sonst ganz klugen und vortrefflichen Menschen, und beachten Sie die Stellen mit feindlichen und ironischen Äußerungen über Zeitgenossen. Neunundneunzigmal handelt es sich um ein Individuum ohne Berücksichtigung der Abstammung oder Konfession, im hundertsten Fall, wo das übelbehandelte Menschenkind das Unglück hat, Jude zu sein, vergißt der Verfasser gewiß nicht, diese Tatsache zu erwähnen. So ist es nun einmal, ich kann Ihnen nicht helfen. Was Sie Verfolgungswahnsinn zu nennen belieben, lieber Georg, das ist eben in Wahrheit nichts anderes als ein ununterbrochen waches, sehr intensives Wissen von einem Zustand, in dem wir Juden uns befinden, und viel eher als von Verfolgungswahnsinn könnte man von einem Wahn des Geborgenseins, des Inruhegelassenwerdens reden, von einem Sicherheitswahn, der vielleicht eine minder auffallende, aber für den Befallenen viel gefährlichere Krankheitsform vorstellt. Mein Vater hat an ihr gelitten, wie viele andre seiner Generation. Er ist allerdings so gründlich kuriert worden, daß er darüber verrückt geworden ist.«

Tiefe Falten erschienen auf Heinrichs Stirn, und er sah wieder zur Wand hin, über Georg weg, der auf dem harten, schwarzledernen Divan Platz genommen hatte.

»Wenn das Ihre Auffassung ist«, erwiderte Georg – »ja, dann müßten Sie sich doch logischerweise Leo Golowski anschließen… «

»Und mit ihm nach Palästina wandern – finden Sie? Politisch-symbolischerweise oder gar in Wirklichkeit – wie?« Er lachte. »Hab ich denn behauptet, daß ich von hier fort will? Daß ich irgendwo anders lieber leben möchte als hier? Insbesondere, daß ich unter lauter Juden existieren möchte? Das wäre, für mich wenigstens, eine recht äußerliche Lösung einer höchst innerlichen Angelegenheit.«

»Das denk ich mir eigentlich auch. Und darum verstehe ich, die Wahrheit zu sagen, immer weniger, was Sie wollen, Heinrich. Im vorigen Herbst auf der Sophienalpe, wie Sie sich mit Golowski herumgezankt haben, da hatte ich doch den Eindruck, daß Sie die Sache viel hoffnungsvoller ansähen?«

»Hoffnungsvoller?« wiederholte Heinrich beleidigt.

»Ja. Da mußte man doch denken, daß Sie an die Möglichkeit einer allmählichen Assimilation glauben.«

Heinrich zuckte verächtlich die Mundwinkel. »Assimilation… Ein Wort… Ja, sie wird wohl kommen, irgendeinmal… In sehr, sehr langer Zeit. Sie wird ja nicht so kommen, wie manche sie wünschen – nicht so, wie manche sie fürchten… es wird auch nicht gerade Assimilation sein… aber vielleicht etwas, das sozusagen im Herzen dieses Wortes schlägt. Wissen Sie, was sich wahrscheinlich am Ende herausstellen wird? Daß wir, wir Juden, mein ich, gewissermaßen ein Menschheitsferment gewesen sind – ja, das wird vielleicht herauskommen in tausend bis zweitausend Jahren. Auch ein Trost, denken Sie sich!« Er lachte wieder.

 

»Wer weiß«, sagte Georg nachsichtig, »ob Sie nicht recht behalten werden – in tausend Jahren. Aber bis dahin?«

»Ja, früher, lieber Georg, wird es wohl mit der Lösung der Frage nichts werden. Für unsere Zeit gibt es keine Lösung, das steht einmal fest. Keine allgemeine wenigstens. Eher gibt es hunderttausend verschiedene Lösungen. Weil es eben eine Angelegenheit ist, die bis auf weiteres jeder mit sich selbst abmachen muß, wie er kann. Jeder muß selber dazusehen, wie er herausfindet aus seinem Ärger, oder aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel, irgendwohin, wo er wieder frei aufatmen kann. Vielleicht gibt es wirklich Leute, die dazu bis nach Jerusalem spazieren müssen… Ich fürchte nur, daß manche, an diesem vermeintlichen Ziel angelangt, sich erst recht verirrt vorkommen würden. Ich glaube überhaupt nicht, daß solche Wanderungen ins Freie sich gemeinsam unternehmen lassen… denn die Straßen dorthin laufen ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden darauf an, seinen inneren Weg zu finden. Dazu ist es natürlich notwendig, möglichst klar in sich zu sehen, in seine verborgensten Winkel hineinzuleuchten! Den Mut seiner eigenen Natur zu haben. Sich nicht beirren lassen. Ja, das müßte das tägliche Gebet jedes anständigen Menschen sein: Unbeirrtheit!«

Georg dachte: Wo ist er nun schon wieder? Er ist in seiner Art genau so krank, wie sein Vater es war. Dabei kann man doch nicht sagen, daß er persönlich schlimme Erfahrungen gemacht hat. Und er hat einmal behauptet, daß er sich mit niemandem zusammengehörig fühle! Es ist ja nicht wahr. Mit allen Juden fühlt er sich zusammengehörig, und mit dem letzten von ihnen noch immer enger als mit mir. Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, fiel sein Blick auf ein großes Kuvert, das auf dem Tisch lag, und er las darauf die mit großen, römischen Buchstaben geschriebenen Worte: »Nicht vergessen, nie dran vergessen.«

Heinrich gewahrte Georgs Blick, nahm das Kuvert in die Hand, auf dessen Rückseite drei gewaltige, graue Siegel zum Vorschein kamen, warf es dann wieder auf den Tisch, ließ wie verächtlich die Unterlippe sinken und sagte: »Diese Sache hab ich nämlich auch heute in Ordnung gebracht. Es gibt solche Tage des großen Reinemachens. Andre Leute hätten das Zeug verbrannt. Wozu? Ich werd es vielleicht einmal mit Vergnügen wieder lesen. In diesem Kuvert sind nämlich die anonymen Briefe, von denen ich Ihnen einmal erzählt habe.«

Georg schwieg. Bisher hatte Heinrich über die Umstände, unter denen seine Beziehungen mit der Schauspielerin geendet hatten, nichts verlauten lassen; nur eine Stelle in dem Brief nach Lugano hatte darauf hingedeutet, daß er die einst Geliebte nicht ohne innern Schauer wiedergesehen hatte. Fast gegen den eigenen Willen kam es über Georgs Lippen.»Sie kennen doch die Geschichte von Nürnbergers Schwester, die in Cadenabbia begraben liegt?«

Heinrich bejahte. »Wie kommen Sie darauf?«

»Ich habe ihr Grab besucht, ein paar Tage vor meiner Abreise.« Er zögerte. Heinrich sah ihn starr an, mit einem heftig fragenden Blick, der Georg zum Weitersprechen zwang. »Und nun denken Sie, wie sonderbar, seither vermengen sich in meiner Erinnerung immer diese zwei Wesen, von denen ich das eine nie gesehen habe, das andre nur flüchtig, auf dem Theater, wie Sie wissen – nämlich die tote Schwester Nürnbergers und… diese Schauspielerin.«

Heinrich wurde blaß bis in die Lippen. »Sind Sie abergläubisch?« fragte er höhnisch, aber es klang, als fragte er sich selbst.

»Durchaus nicht«, antwortete Georg. »Was hat übrigens diese Sache mit Aberglauben zu tun?«

»Ich will Ihnen nur sagen, daß mir alle Dinge, die irgendwie mit Mystik zusammenhängen, im Grund der Seele zuwider sind. Über Dinge zu reden, von denen man nichts wissen kann, ja, deren Wesen es ist, daß man nie und nimmer was von ihnen wissen kann, das scheint mir von aller Art Geschwätz, die auf Erden für Wissenschaft ausgegeben wird, die unerträglichste.«

Sollte sie gestorben sein, diese Schauspielerin? dachte Georg.

Plötzlich hielt Heinrich das Kuvert wieder in der Hand, und in dem trockenen Tone, den er gerade dann anzuschlagen beliebte, wenn er bis ins Tiefste durchwühlt war, sagte er: »Daß ich diese Worte hergeschrieben habe, ist kindische Spielerei – oder Affektation, wenn Sie wollen. Ich hätte auch wie Daudet vor seine Sappho die Worte hersetzen können: Meinen Söhnen, wenn sie zwanzig Jahre alt sein werden… Zu dumm übrigens. Als wenn ein Mensch mit den Erfahrungen eines andern das geringste anfangen könnte! Die Erfahrungen des einen können für den andern manchmal amüsant, öfters verwirrend, aber nie lehrreich sein… Und wissen Sie, woher es kommt, daß jene beiden Gestalten sich in Ihrem Kopf vermengen? Ich will's Ihnen sagen. Einfach daher, daß ich in einem meiner Briefe für meine einstige Geliebte den Ausdruck Gespenst angewandt habe. So erklärt sich dieses geheimnisvolle Ineinanderfließen.«

»Das wäre nicht unmöglich«, entgegnete Georg.

Von irgendwoher, undeutlich, kam schlechtes Klavierspiel. Georg blickte hinaus. Auf der gelben Mauer drüben lag die Sonne. Viele Fenster waren offen. An einem saß ein Junge, die Arme aufs Fensterbrett gestützt, und las. Von einem andern schauten zwei junge Mädchen hinunter in den Gartenhof. Das Klappern von Geschirr war hörbar. Georg sehnte sich nach freier Luft, nach seiner Bank am Waldesrand. Bevor er sich aber zum Gehen wandte, fiel ihm ein: »Was ich Ihnen noch sagen wollte, Heinrich, Ihre Verse haben auch Anna sehr gefallen. Haben Sie weitergeschrieben?«

»Nicht viel.«

»Es wäre hübsch, wenn Sie alles, was vom Text fertig ist, heute mit hinausbrächten und uns vorläsen.« Er stand am Pianino und schlug ein paar Akkorde an.

»Was ist das?« fragte Heinrich.

»Ein Thema«, erwiderte Georg, »das mir für den zweiten Akt eingefallen ist. Es soll den Moment begleiten, in dem der merkwürdige Fremde auf dem Schiff erscheint.«

Heinrich schloß das Fenster, Georg setzte sich nieder und begann weiterzuspielen. Da klopfte es an die Tür, und unwillkürlich rief Heinrich »herein«.

Eine junge Dame trat ein, in lichtem Tuchrock mit roter Seidenbluse, ein weißes Samtband mit einem kleinen Goldkreuz um den Hals. Ein Florentinerhut, rosengeschmückt, beschattete breitkrämpig das kleine, blasse Gesicht, aus dem zwei große, schwarze Augen blickten.

»Guten Tag«, sagte die fremde Dame mit einer dunkeln Stimme, die zugleich trotzig und verlegen klang. »Verzeihen Sie, Herr Bermann, ich wußte nicht, daß Sie Besuch haben.« Und sie sah Georg, der sie gleich erkannt hatte, neugierig an.

Heinrich war blaß und hatte Falten auf der Stirn. »Ich habe allerdings nicht vermutet… «, begann er, dann stellte er vor und sagte zu der Dame: »Wollen Sie nicht Platz nehmen?«

»Danke«, erwiderte sie unwirsch und blieb stehen. »Ich komme vielleicht später wieder.«

»O bitte«, fiel Georg ein. »Ich war eben daran, mich zu verabschieden.« Er sah, wie der Blick der Schauspielerin im Zimmer umherirrte, und fühlte ein seltsames Mitleid mit ihr, wie man es manchmal im Traum mit Toten fühlt, die nicht wissen, daß sie gestorben sind. Dann sah er noch den Blick Heinrichs auf diesem blassen, kleinen Gesicht mit unbegreiflicher Härte ruhen und ging. Er erinnerte sich jetzt sehr deutlich, wie er sie auf der Bühne gesehen hatte, mit dem rotblonden Haar, das in die Stirn fiel, und den irrenden Augen. So sehen Wesen nicht aus, dachte er, die dazu bestimmt sind, nur einem zu gehören. Und das sollte Heinrich nie gefühlt haben, der sich auf seine Menschenkenntnis so viel zugute tat? Was wollte er nun eigentlich von ihr? Eitelkeit war es, die in seiner Seele brannte, nichts anderes als Eitelkeit.

Auf der Straße schritt Georg wie durch trockene Gluten. Die Häusermauern warfen den eingetrunkenen Sommer in die Luft. Georg fuhr mit der Pferdebahn den Hügeln und Wäldern entgegen und atmete freier, als er auf dem Lande war. Langsam spazierte er zwischen Gärten und Villen weiter, dann, am Friedhof vorbei, nahm er eine allmählich ansteigende, weiße Straße, die mit einem ihn freundlich anmutenden Namen Sommerhaidenweg hieß und zu dieser sonnigen Spätnachmittagsstunde von Menschen kaum begangen war. Von dem bewaldeten Höhenzug zur Linken kam noch kein Schatten, nur ein mildes Wehen von Lüften, die in den Blättern geschlafen hatten. Zur Rechten senkte der grüne Hang sich abwärts, gegen das länglich dahinziehende Tal, wo zwischen Ästen und Wipfeln Dächer blinkten. Drüben, hinter Gartenzäunen strebten Weinberge und Äcker auf, zu Wiesen und Steinbrüchen, über denen durchglitzertes Gestrüpp und Buschwerk hing. Im Gelände oft verloren, zog als schmale Linie der Weg, den Georg an andern Tagen manchmal zu wandern pflegte, und sein Auge suchte die Stelle am Waldesrand, wo seine Lieblingsbank stehen mochte. Wiesen und Waldeshöhen hielten am Talesende den Blick auf, und im Spiegel der Luft ließen abendliche Fernen mit neuen Tälern und Hügeln sich ahnen.

Dieser Landschaft fühlte Georg sich wunderbar vertraut, und der Gedanke, daß Beruf und Wille ihn in die Fremde rief, webte um seine einsamen Spaziergänge schon in diesen Tagen oft Stimmungen des Abschieds, die freilich von Sehnsucht schwerer waren als von Trauer. Zugleich aber regte sich in ihm ein Vorgefühl reichern Lebens. Es war ihm, als bereite sich in seiner Seele manches vor, das er nicht mit sorgenvollen Sinnen aufstören dürfte; und in den Untergründen seiner Seele, wo heute schon hineinzuhören ihm nicht gegeben war, rauschte es von Melodien kommender Tage. Auch war er nicht müßig geblieben, um die äußern Umrisse seiner Zukunft klar zu ziehen. Nach Detmold hatte er einen höflichdankenden Brief geschrieben, in dem er sich mit Vorbehalt dem Intendanten für den kommenden Herbst zur Verfügung stellte; auch den alten Professor Viebiger hatte er aufgesucht, ihm seine Pläne eröffnet und ihn gebeten, sich bei vorkommenden Gelegenheiten des einstigen Schülers zu erinnern. Aber auch wenn wider Erwarten im Herbst nirgends eine Stellung für ihn sich fände, war er entschlossen, Wien zu verlassen, sich vorläufig in eine kleine Stadt oder aufs Land zurückzuziehen und in der Stille für sich weiter zu arbeiten. Wie sich unter diesen Umständen seine Beziehungen zu Anna weiter gestalten sollten, darüber gab er sich keine klare Rechenschaft; er wußte nur, daß sie niemals enden durften. Es schwebte ihm vor, daß er und Anna einander besuchen und zu gelegener Zeit gemeinschaftliche Reisen unternehmen würden; später übersiedelte sie wohl an den Ort, wo er lebte und wirkte. Doch schien es ihm nutzlos, all dem in die Tiefe nachzugrübeln, ehe die Stunde da war, da sich sein eigenes Schicksal, wenigstens für die Dauer der nächsten Jahre entschieden hatte.

Der Sommerhaidenweg lief in den Wald, und Georg nahm den breiten Villenweg, der an dieser Stelle das Tal durchquerend nach abwärts bog. In wenigen Minuten befand er sich auf der Straße, an deren Ende waldesnah, neben bescheidenen, gelben Parterrehäuschen, nur durch die Balkonmansarde mit dem dreieckigen Holzgiebel über jene erhöht, die kleine Villa stand, in der Anna wohnte. Er durchschritt das Vorgärtchen, wo inmitten des Rasens zwischen Blumenbeeten, auf viereckigem Postament, der kleine blaue Tonengel ihn grüßte; den schmalen Gang, neben dem die Küche lag, das kahle Mittelzimmer, auf dessen Boden durch die schadhaften grünen Jalousien Sonnenlinien hinspielten, und trat auf die Veranda. Er wandte sich nach links und warf einen Blick durchs offne Fenster in Annas Zimmer, das er leer fand. Nun ging er im Garten längs der Fliederbüsche und Johannisbeerstauden nach aufwärts, und schon von weitem sah er Anna unter dem Birnbaum auf der weißen Bank sitzen, in ihrem weiten blauen Kleide. Sie sah ihn nicht kommen, schien ganz in Gedanken versunken. Er näherte sich langsam. Noch immer blickte sie nicht auf. Er liebte sie sehr in solchen Augenblicken, da sie sich unbeobachtet wähnte und auf ihrer klaren Stirn unbeirrt die Gütigkeit und der Friede ihres Wesens ruhten. Sonnenkringel zitterten auf dem Kies zu ihren Füßen. Ihr gegenüber, auf dem Rasen, lag schlafend die fremde Bernhardinerhündin. Das Tier war es, das, erwachend, Georgs Kommen zuerst bemerkte. Es erhob sich, und schwerfällig trappelte es Georg entgegen. Jetzt sah Anna auf, und ein beglücktes Lächeln schwebte über ihre Züge. Warum bin ich so selten da, fuhr es Georg durch den Sinn. Warum wohn ich nicht heraußen und arbeite oben auf dem Balkon unter dem Giebel, wo man die hübsche Aussicht auf den Sommerhaidenweg hat? Die Stirne war ihm feucht geworden, so heiß brannte noch immer die Spätnachmittagssonne.

Er stand vor Anna, küßte sie auf Aug' und Mund und setzte sich an ihre Seite. Das Tier war ihm nachgeschlichen und streckte sich zu seinen Füßen hin.

»Wie gehts, mein Schatz?« fragte er, indem er seinen Arm um ihren Nacken legte.

 

Es ging ihr sehr gut, wie gewöhnlich, und heute war ein besonders schöner Tag gewesen. Seit dem Morgen schon war sie sich ganz selbst überlassen, denn Frau Golowski hatte wieder einmal in die Stadt fahren müssen, um nach den Ihren zu sehen. Es war wirklich nicht übel, manchmal so völlig allein mit sich zu bleiben. Da konnte man sich ungestört in seine Träume versenken. Es waren freilich immer dieselben, aber sie waren so hold, daß man ihrer nicht müde wurde. Von ihrem Kinde hatte sie sich träumen lassen. Wie sehr liebte sie es schon heute, noch ehe es geboren war. Nie hätte sie das für möglich gehalten. Ob Georg es denn auch verstünde?… und da er versonnen nickte, schüttelte sie den Kopf. Nein, nein… ein Mann konnte das nicht verstehen, auch der beste, der gütigste nicht. Sie fühlte ja das kleine Wesen schon sich regen, spürte das Klopfen seines zarten Herzens, fühlte diese neue unbegreifliche Seele in ihrer atmen, geradeso wie sie den neuen jungen Leib in ihrem blühen und erwachen fühlte. Und Georg sah vor sich hin, wie beschämt, daß sie dem, was nahe war, mit so viel reinern Sinnen entgegenlebte als er. Denn daß hier, von ihm gezeugt, ein Wesen wurde wie er und selbst wieder bestimmt, neuen Wesen Leben zu verleihen; daß in dem gesegneten Leib dieser Frau, nach dem ihm schon lange nicht mehr verlangte, nach ewigen Gesetzen ein Leben schwoll, das vor einem Jahre noch ein ungeahntes, ungewolltes, im Unendlichen verlorenes war und nun wie ein seit Urzeit vorherbestimmtes zum Licht empordrängte; – daß er selbst sich nun in der geschlossenen Kette von Urahnen zu Urenkeln gleichsam an beiden Händen gefaßt, unentweichbar einbezogen wußte,… von diesem Wunder fühlte er sich nicht so mächtig aufgerufen, als es fordern durfte.

Und ernsthafter, als sie es sonst zu tun pflegten, besprachen sie heute, was nach des Kindes Geburt zu geschehen hätte. In den ersten Wochen behielt Anna es natürlich bei sich, dann mußte man es wohl zu fremden Leuten geben; jedenfalls aber sollte es ganz nahe wohnen, so daß Anna es zu jeder Zeit ohne Schwierigkeit sehen konnte.

»Und du«, sagte sie mit einem Mal ganz leicht, »wirst du manchmal herkommen uns besuchen?«

Er sah ihr in das verschmitzt lächelnde Gesicht, nahm ihre beiden Hände und küßte sie. »Liebste, was soll ich tun, sag selbst? Du kannst dir denken, wie schwer es mir sein wird. Aber was bleibt mir anders übrig? Es muß ein Anfang gemacht werden. Hab ich dir schon gesagt«, setzte er hastig hinzu, als wäre damit jeder Rückzug abgeschnitten, »die Wohnung ist gekündigt. Felician geht wahrscheinlich nach Athen. Ja, wenn ich dich gleich mitnehmen könnte, das wär freilich schön! Aber das ist ja leider nicht möglich, eine gewisse Sicherheit muß vor allem da sein. Ich meine, wenigstens die Sicherheit, daß ich längere Zeit an einem Ort bleibe… «

Sie hatte ernsthaft-ruhig zugehört. Dann kam sie bedächtig-wichtig auf ihre neueste Idee zu sprechen. Er sollte nicht glauben, daß sie daran dächte, ihm alle Sorgen aufzubürden. Sie war entschlossen, sobald es sich machen ließe, eine Musikschule zu gründen. Wenn er sie noch lange allein ließe, hier in Wien; wenn er bald käme sie holen, dort, wo sie mit ihm zu Hause sein würde. Und wenn sie einmal auf eigenen Füßen stände, dann wollte sie auch ihr Kind zu sich nehmen, ob sie nun seine Frau wäre oder nicht. Sie wäre weit davon entfernt sich zu schämen, das wüßte er wohl. Sie wäre eher stolz… ja stolz, daß sie Mutter wurde!

Er nahm ihre Hände zwischen die seinen und streichelte sie. »Es wird schon alles werden«, sagte er ein wenig bedrückt. Er sah sich plötzlich in einem sehr bürgerlichen Heim, unter dem bescheidenen Licht einer Hängelampe, beim Abendessen sitzen, zwischen Frau und Kind. Und aus dieser geträumten Familienszene wehte es ihm entgegen wie ein Hauch von sorgenvoller Langeweile. Ah, es war noch zu früh dazu, er war noch zu jung. Wie sollte es denn werden? War es denn möglich, daß sie die letzte Frau blieb, die er umarmt hätte? Vielleicht konnte sie es werden, in Jahren, in Monaten schon… aber heute noch nicht. Trug und Lüge in ein wohlgeordnetes Heim zu tragen, davor scheute er wohl zurück. Doch der Gedanke, von ihr fortzueilen zu andern, die er begehrte, mit dem Bewußtsein, Anna so wieder zu finden, wie er sie verlassen, war lockend und beruhigend zugleich.

Der bekannte Pfiff von drüben tönte. Die Hündin erhob sich, ließ sich von Georg noch einmal über den gelb gefleckten Rücken streichen und schlich traurig ihren Weg hinab.

»Herr Gott«, sagte Georg, »das hätte ich ja beinahe vergessen. Heinrich kann jeden Augenblick da sein.« Er erzählte Anna von seinem Besuch und verschwieg auch nicht, daß er zwischen Tür und Angel die ungetreue Schauspielerin kennen gelernt hatte.

»Ist es ihr also gelungen?« rief Anna aus, die für Damen mit irrenden Augen keine Neigung fühlte.

»Ich glaube nicht«, erwiderte Georg, »daß ihr irgend etwas gelungen ist. Heinrich war von ihrem Erscheinen sogar ziemlich unangenehm berührt, kam mir vor.«

»Nun, vielleicht bringt er sie mit«, sagte Anna mit Spott, »und du hast wieder wen zum kokettieren wie in Lugano die Königsmörderin.«

»Ach Gott«, machte Georg unschuldig, und beiläufig fügte er hinzu: »Was ist's denn übrigens mit Therese, warum kommt sie denn gar nicht mehr zu dir? Demeter ist ja nicht mehr in Wien. Sie hätte wohl Zeit genug.«

»Sie war erst vor ein paar Tagen da. Ich hab dir's ja gesagt, stell dich doch nicht so.«

»Ich hatte es wirklich vergessen«, erwiderte er mit Aufrichtigkeit. »Was hat sie dir denn erzählt?«

»Alles mögliche. Die Geschichte mit Demeter ist aus. Ihr Herz schlägt wieder ausschließlich für die Armen und Elenden – bis auf Widerruf.« Und unter dem Siegel strengster Verschwiegenheit vertraute ihm Anna Theresens Winterpläne an. Als armes Weib verkleidet, wollte sie Wanderungen durch Wärmestuben, Suppen- und Teeanstalten, Asyle für Obdachlose und Arbeitshäuser unternehmen, um einmal dem sogenannten goldnen Herzen von Wien in die verborgensten Winkel hineinzuleuchten. Sie schien gefaßt und hoffte vielleicht ein wenig darauf, Ungeheuerlichkeiten zu entdecken.

Georg sah vor sich hin. Er erinnerte sich der eleganten Dame, im weißen Kleid, die im Sonnenglanz von Lugano vor dem Postgebäude gestanden war, fern von allem Jammer der Welt. Sonderbares Geschöpf, dachte er. »Sie will natürlich ein Buch daraus machen«, sagte Anna. »Also daß du keinem Menschen was davon erzählst, auch deinem Freund Bermann nicht.«

»Fällt mir nicht ein. Aber sag, Anna, mußt du nicht was vorbereiten für abend?«

Sie nickte. »Komm, begleit mich hinunter, ich will nachsehen, was da ist, und mich im übrigen mit der Marie beraten… soweit das möglich ist.«

Sie standen auf. Die Schatten waren lang. Im Garten nebenan lärmten die Kinder. Anna nahm den Arm des Geliebten und ging langsam mit ihm hinab. Sie erzählte die neuesten Beispiele von der fabelhaften Dummheit der Magd. Ich Ehemann, dachte Georg und hörte mit Nachsicht zu. Beim Haus angelangt sprach er die Absicht aus, Heinrich entgegenzusehen, verließ Anna und begab sich auf die Straße. Da rüttelte eben ein Einspänner heran; Heinrich sprang heraus und entließ den Kutscher. »Grüß Sie Gott«, sagte er zu Georg, »haben Sie mich am Ende schon erwartet? Es ist ja noch gar nicht so spät.«

»Gewiß nicht, Sie sind sehr pünktlich. Ist es Ihnen recht, so machen wir noch einen kleinen Spaziergang.«