Za darmo

Wie Satan starb

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Empfanden so alle das Wort Luzern als den endgültigen Abschluß eines traurigen Kapitels und den Ausgangspunkt eines neuen Lebens, so war es für Peter nur eine Etappe auf dem Wege zu dem Ziel, das die Vorsehung ihm bestimmt hatte.

Völlig teilnahmlos nahm er seinen kleinen Koffer und schob sich durch den Gang zur Tür. Die vielen Menschen auf dem Bahnsteig sah er kaum. Als ein kräftiges Hurra zu den Wagen emporscholl und die Hunderte von Ausgetauschten körperlich schmerzhaft wie ein elektrischer Schlag traf, der das Blut wieder in Fluß brachte und Körper und Seele wie von einer Lähmung befreite und sie wieder zu vollwertigen Menschen machte – auch da empfand Peter noch immer nichts. Es glitt an ihm ab wie der beliebige Ruf eines Bahnbeamten. Automatisch folgte er den andern, ließ sich von fremden Menschen und früheren Kameraden teilnahmlos die Hände schütteln und bewegte sich mit der Menge in das nahegelegene Hotel du Lac, wo sie nach einem feierlichen Empfange für die Nacht einquartiert wurden.

Als sie dann die geschmückte Hotelhalle betraten und das Lied: »Deutschland, Deutschland über alles!« den Heimkehrenden entgegentönte, da traten selbst den Starknervigen die Tränen in die Augen. In dieser Stunde war Peter unter vielen Hunderten von Menschen der einzige, dessen Gesichtsausdruck unverändert und dessen Lippen geschlossen blieben.

Der rangälteste Offizier sprach patriotische Worte. Peter hörte sie kaum. Und als er zum Schluß nicht mit in das Hoch einstimmte, fiel er einigen neben ihm stehenden Offizieren zum ersten Male unangenehm auf.

Ein aus Deutschland zum Empfang gesandter würdiger Geistlicher trat vor.

»Kameraden!« rief er den Heimkehrenden zu. »Ich war zu einer Zeit, da noch Frieden war, eines Sommers in Norderney. Das Meer spülte die Leiche eines jungen Mannes an den Strand. Es schien ein Engländer zu sein. Die Badegäste standen in einiger Entfernung neugierig und entsetzt um den Toten herum. Da trat eine vornehme Dame an den Toten heran, kniete vor ihm nieder, beugte sich über ihn und küßte ihn auf die Stirn. ›Im Namen der fernen Mutter!‹ sagte sie. – So stehe auch ich hier als Abgesandter eurer fernen Mutter und heiße euch im Namen der heißgeliebten deutschen Mutter Erde willkommen!«

War es Zufall oder göttliche Eingebung, daß der würdige alte Herr jetzt auf Peter zuschritt, obgleich er in ziemlicher Entfernung von ihm stand, ihm die Hand auf den Kopf legte und ihn auf die Stirn küßte?

Ein wohliges Gefühl von Ruhe und Frieden empfand Peter. Unter dem weichen Druck der Hand sank Peter willenlos in die Knie, faltete die Hände und betete laut:

»Unser Vater in dem Himmel. Dein Name werde geheiligt. Dein Reich komme. Dein Wille geschehe. Auf Erden wie im Himmel. Unser täglich Brot gib uns heute. Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unsern Schuldigern. Und führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel. Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen.«

Alle falteten die Hände und beteten mit. Und die tiefe Inbrunst seines Gebetes ging wie die Stimme der fernen Mutter in aller Herzen ein.

Und der würdige geistliche Herr, die Hand noch immer auf dem Haupte des knienden Peter, erhob die Stimme und fuhr fort:

»Denn so ihr den Menschen ihre Fehler vergebt, so wird auch euer himmlischer Vater euch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben.«

Dann wandte er sich an seinen Platz zurück und die Feier nahm ihren Fortgang.

Wie eine zusammenstimmende Folge von Akkorden lösten sich in Peter die starren Glaubenssätze. Alles drückend Schwere fiel von ihm ab, und als er eine Stunde später oben in seinem Bett lag, hatte er noch immer das Gefühl, als wenn die weiche Hand des würdigen Herrn auf seinem Haupte ruhte.

IV

Frau Julie war infolge der Aufregungen nachts erkrankt. Durchaus unbedenklich, aber doch so, daß der Medizinalrat sie nicht in die Schweiz reisen ließ. Am frühen Morgen erhielt Peter, der noch in tiefem Schlafe lag, ihr Telegramm. Als der Hotelpage sein Zimmer betrat und ihn weckte, wußte er zunächst nicht, wo er sich befand. Er erschrak und rief entsetzt:

»Venére! Hilfe! Venére!«

Der Page legte ihm das Telegramm auf die Bettdecke und entfernte sich schnell. Peter richtete sich auf, starrte in das noch dunkle Zimmer, fuhr sich mit der Hand über die Stirn, tastete vor sich das Bett ab und fand das Telegramm.

Jetzt kam ihm zum Bewußtsein, wo er sich befand. Er knipste das Licht an und sah sich im Zimmer um. Stark empfand er die Wiederkehr der freien Bestimmung. Jahrelang unter Zwang, hatte er längst verlernt, über Person und Zeit zu bestimmen. In der gedankenlosen Ausführung der Weisungen, die andere gaben, hatten sich seine Tage erschöpft. Nun saß er da in seinem Bett, und niemand kam und erteilte Befehle. Etwas ratlos saß er da mit sich und wußte nicht, was beginnen. Er konnte das Licht wieder löschen, sich hinlegen und weiterschlafen. Ganz wie er wollte. Er konnte auch aufstehen, sich anziehen und gehen, wohin er wollte. Es gab keine Wachen und niemand würde ihn fragen, wohin er ging. Auf dem Tisch in der Mitte des Zimmers lagen Blumen und Zeitungen, die freundliche Menschen ihm in den Arm gelegt hatten. Er konnte auch lesen. Er hatte solange kein Blatt mehr in der Hand gehabt. Er erschrak vor der Fülle der Entschlüsse, die sich ihm boten. Wie schwer war es, sich zu entschließen, wenn man jahrelang keinen selbständigen Entschluß gefaßt hatte. Er sah sich im Zimmer um. Dort an der Wand stand ein Schreibtisch; Tinte und Papier; alles lag bereit. Peter streckte den Arm aus, griff in Gedanken nach Feder und Papier, wünschte sich den Schreibtisch herbei, ganz dicht ans Bett, lächelte, bewegte leicht den Kopf und dachte:

»Mutter! – du!« und faßte den Entschluß, an sie zu schreiben.

»Aufstehen,« dachte er. »Ich brauche es nur zu wollen. Es hängt nur von mir ab. – Von mir!« wiederholte er laut. »Und ich, – ich bin mein eigner Herr.« – Und wieder mit jenem weichen Lächeln sagte er vor sich hin, langsam und breit: »An – meine – Mutter – schreiben. – Wann ich will und so oft ich will. Von mir allein hängt das ab! Mutter, hörst du? Niemand mehr kann’s mir nehmen.«

Er hielt noch immer verschlossen das Telegramm in Händen. Jetzt erst achtete er darauf. Er sah es sich an: »Dr. Peter von Reinhart« stand darauf. Er lächelte wieder und sagte laut: »Dr. Peter von Reinhart? Das war ich einmal. Bevor sie mich zerschlugen, die Hunde!« – Er stutzte und es schien, als wenn er sich mühte, die Gedanken zusammenzufassen. – »Bin ich es denn wieder? Bin ich es denn noch?« fragte er sich. »Am Ende haben sie mich zusammengeflickt wie eine zerbrochene Puppe.« Er befühlte sein Herz. »Es schlägt!« sagte er. »Ich lebe! Aber ich bin krank. Mir fallen die Gedanken alle auseinander. Ich wollte doch an die Mutter schreiben. Aber nein, hier, dies Telegramm sollte ich öffnen.« Er riß es auf und las:

»Junge! mein Junge! Wir haben uns wieder! Ich komme zu dir! Freust du dich, Junge? Ich bin so selig! Mutter.«

Er las es immer wieder. Und fühlte es mehr, als daß er es verstand.

»Die Mutter hat mich wieder,« sagte er vor sich hin. »Ja, Mutter, komm nur und bringe die Aenne mit.« – Er stutzte und erschrak. Dann sah er traurig vor sich hin und sagte leise: »Die Aenne ist tot! Die Aenne! – Ich habe schon lange nicht mehr an sie gedacht. Woran – warum mußte sie sterben? – Ohne die Aenne, Mutter, weißt du, daß ich da lieber gar nicht kommen möchte. Viel lieber bliebe! – Ja, wo? wo?« fragte er laut. »Nein! nein! Das ist ja gar nicht möglich. Mutter, verzeih’, ich habe die Gedanken noch nicht beieinander. Solange ohne alle Gedanken leben und dann auf einmal wieder so mitten hineingestellt sein ins Leben. – Das geht noch alles so durcheinander. Die Schläge, Mutter, die vielen Schläge!«

Peter sprang aus dem Bett. Der Kopf war ihm zum Springen heiß. Er ging ans Fenster, öffnete es und sah auf See und Berge, an denen eben der neue Tag emporstieg.

Ihm wurde leichter. Er las noch einmal das Telegramm der Mutter, ging an den Schreibtisch und antwortete ihr:

»Mutter! Komme! Ich brauche dich ja so nötig! Die Menschen sind schlecht. Es war so schlimm. Mutter, ich bin noch ängstlich. Aber ich habe doch Mut. Und nicht wahr, Mutter, ich finde zurück? Da die Aenne doch tot ist, so hilfst du mir! Komme nur schnell! Ich bin so allein. Die andern mußten bleiben, die Armen! Komme schnell, Mutter, dein Peter.«

Peter erhielt bald darauf noch Stöße von Telegrammen, die er kaum las. Er zog sich an, ging zum gemeinsamen Frühstück hinunter und fiel, da alle andern sprachen, durch sein Schweigen nicht auf. Als man dann nach Engelberg aufbrach, wo die Internierung erfolgte, nahmen sich Lux, der blonde Husar, und der Arzt Peters an.

»Sie müssen viel in der Sonne sitzen,« sagte der Arzt, »und gute, heitere Bücher lesen.«

Peter erwiderte:

»Meine Mutter kommt.«

Und der Arzt, der das zufriedene Gesicht sah, sagte:

»Freilich, das ist noch besser.«

Peter zeigte Interesse für See und Berge, die er von früheren Reisen her genau kannte.

»Wissen Sie,« sagte er zum Arzt, »wenn das mit Uebergängen geschähe! Aber dies völlig unvermittelte von einem Extrem ins andere! Man hat in den Ohren noch das Geräusch von den Schlägen, die auf unsere Leiber niederprasselten, und plötzlich tönt einem von den Bergen her das Horn des freien Hirten entgegen.«

»Recht so!« erwiderte der Arzt. »Es gibt Erlebnisse, wie Ihre, die sind so tief in das Gefühlsleben eingedrungen, haben sich da so festgesetzt und stehen so außerhalb jeder Verbindung mit allem Alltäglichen, daß es für ein Zurück keinen Uebergang mehr gibt. Etwa Sie versteigen sich da oben auf den Bergen und ständen plötzlich auf der Spitze einer steilen Felswand, die herabzusteigen unmöglich ist. Sie werden einen Sprung durch die Luft auf das nächste Tableau wagen müssen, und gerettet oder erledigt sein. – Sehen Sie, nur ein fanatischer Katholik kann überzeugter Satanist werden. Wer sich im Glauben verstiegen hat und an die absolute Unfehlbarkeit glaubt, dann aber plötzlich erkennt, daß nicht das Gute, sondern das Böse die Welt beherrscht, dem sind die Wege ruhigen Abwägens und vernünftiger Einkehr verschlossen, und er kann seine Seele nicht allmählich wieder ins Gleichgewicht bringen, sondern er wird sich mit derselben Leidenschaft, mit der er an Gott hing, nun dem Teufel in die Arme werfen. Gottlob! Ihr Weg ist der entgegengesetzte! Und ich rate Ihnen, ohne sich umzusehen und ohne zurückzudenken, sich in das neue Leben zu stürzen.«

 

Peter dachte nach, nickte mit dem Kopf und sagte:

»Ich will es versuchen.«

Das sprach er nicht nur so dahin; es war sein fester Wille. Denn deutlich sah er die Gefahr, die drohte, wenn es ihm nicht gelang, das Gefühl, das ihn zurücktrieb, zu verdrängen. Er drückte dem Arzt die Hand und fügte feierlich hinzu:

»Ich verspreche es Ihnen!«

»Bravo!« rief der blonde Husar und klopfte Peter auf die Schulter. »Fest im Willen, mein Junge, das ist die Hauptsache!«

»Nein! nein!« widersprach der Arzt, der wohl wußte, daß Peter noch krank war. »Sie müssen es als Ihren Wunsch fühlen. Aus dem Herzen muß es kommen. Nicht etwa, weil Sie es als zweckmäßig erkannt haben.« Und er zitierte des Dichters Worte: »Erst wenn der Geist von jedem Zweck genesen und nichts mehr wissen will als seine Triebe, dann offenbart sich ihm das weise Wesen verliebter Torheit und der großen Liebe.«

Peter war wieder nachdenklich geworden. Er ging auf dem dicht besetzten Schiffe, auf dem nur die für Engelberg bestimmten Offiziere waren, auf und ab und redete sich zu:

»Vergiß sie!« sagte er sich immer wieder. »Du kannst ihnen doch nicht helfen. Du mußt darüber hinweg! sonst gehst du zugrunde!« —

Wie ich vernünftig rede, dachte er und lächelte. Aber liegt es denn überhaupt in meiner Kraft, zu bestimmen, ob ich es vergesse oder mich immer mehr in diesen Gedanken vertiefe! – Kaum! Das wird und ist in mir! Und alles, was von außen kommt und verstandesgemäß geschieht, um dagegen anzugehen, ist zwecklos. Etwa, man wollte das Wachsen eines Baumes wegdiskutieren, indem man ihm sagte: Laß es! wachse nicht, deine Mühe ist umsonst. Ein Sturm wird kommen, ein Unwetter, und dich entwurzeln. Der Baum würde darum doch weiterwachsen. Denn der Trieb läßt sich nicht dem Zwecke unterordnen! Genau so ist es mit mir! – Und diese Erkenntnis stimmte ihn nicht traurig. Viel eher war er froh, die Lösung gefunden zu haben. Das Leben mochte nun kommen und ihm seine Bestimmung anweisen. Er war bereit, sich ihr zu unterwerfen.

Er setzte sich zu seinen Kameraden, die froh, fast übermütig, von der Zukunft sprachen, und von Gedanken, die durch Zeit und Umstände wohl berechtigt gewesen wären, nicht im mindesten beschwert waren.

Sie sind wohl glücklicher als ich, dachte Peter. Und doch, ich möchte nicht sein wie sie.

Als sie nach einstündiger Fahrt auf dem See und anderthalbstündiger Bergfahrt in Engelberg ankamen, scholl ihnen ein dreimaliges Hurra ihrer schon internierten Kameraden entgegen. Der rangälteste Offizier quälte sich zum Empfang ein paar nichtssagende Worte ab und dann ging’s über den Bahnsteig hinaus zu den Hotels. Freundliche Willkommensgrüße der Einheimischen und der Kurgäste begleiteten sie.

Peter ging nicht mehr wie in Luzern den Kopf teilnahmslos gebeugt zwischen seinen Kameraden. Er sah den Menschen, die da standen, ins Gesicht. Nach viereinhalb Jahren zum ersten Male sah er wieder Frauen, die sommerlich gekleidet, fröhlich und geschmückt, mit weißgepflegten Händen winkten, Blumen warfen und in seiner Sprache zu ihm redeten. Seine elegante Gestalt mit dem feingeschnittenen Gesicht fiel allen auf. Er, der Vielgewandte, errötete bei dem Anblick wie ein Gymnasiast und das Herz schlug ihm bis an den Hals hinauf. Und als eine der Frauen nahe an ihn herantrat und ihm Blumen reichte, zitterten seine Knie und er war so bewegt, daß er nicht einmal »danke« sagte.

»Haben Sie viel gelitten?« fragte die junge Dame.

Peter sah sie groß an und sagte nichts.

»Sie sehen leidend aus.«

Peter nickte.

»Waren Sie verwundet?«

Er schüttelte den Kopf.

»Nun also!« sagte sie lächelnd. »Dann werden Sie auch bald wieder gesund und fröhlich sein.« —

Wie lange hatte so keine Frau mit ihm gesprochen! »Gesund und fröhlich sein« klang ihre weiche Stimme in ihm fort.

»Sie sind so gütig!« drängte es ihn zu sagen. Aber während er sich vergebens mühte, ein Wort herauszubringen, suchte sie aus einem Strauß von Rosen die schönste Rose heraus und steckte sie ihm an. Während ihre gepflegten schmalen Finger seinen schmutzigen Rock berührten und der zarte Duft ihres Körpers an ihm aufstieg, lächelte sie und sagte:

»Rosen haben Sie wohl lange nicht mehr gesehen?«

Wieder nickte Peter und kam mit seinem Gesicht ganz nahe an ihr duftendes Haar. Sie befestigte noch immer die Blume und hatte den Kopf etwas nach vorn gebeugt. Er sah den weißen Nacken und schloß die Augen.

»Die sollen Sie jetzt öfter haben,« sagte die Dame.

Peter hörte es kaum. Ihm war schon ganz heiß. Er streckte die Arme aus, seine Knie zitterten. Langsam glitt sein Kopf nach vorn und seine Lippen küßten das weiche Haar, das sie kaum berührten.

»Aber! aber!« sagte die Dame leise und trat unauffällig von ihm weg. Peter verharrte in seiner Stellung. Die Arme ausgebreitet, den Kopf nach vorn gebeugt, stand er, schwer atmend, mit geschlossenen Augen da.

»Herr Oberleutnant!« durchschnitt es schrill wie eine Granate die Luft und traf Peter, der einen Augenblick lang am ganzen Körper zitterte und dann wie leblos zu Boden fiel.

Die Aufmerksamkeit war erregt. Niemand hatte von dem Vorgang etwas bemerkt außer der Dame, die Takt und Ruhe wahrte, dem Arzt, der in nächster Nähe, und dem rangältesten Offizier, der in einiger Entfernung stand.

»Wie dumm!« dachte die Dame und schüttelte den Kopf.

»Hätte sie ihn an die Hand genommen und auf ihr Zimmer geführt – noch heute wäre der arme Reinhart gesund geworden!« dachte der Arzt.

»Skandal! ein Skandal!« rief der rangälteste Offizier und stürzte, ohne sich um Peter zu kümmern, auf die Dame zu. Dann nahm er Stellung an, legte die Hand an die Mütze und sagte: »Verzeihen, Gnädigste, diesen ganz unerhörten Vorfall. Der Herr Oberleutnant wird sich bei Ihnen entschuldigen und auf das allerstrengste bestraft werden.«

Neugierig standen alle herum.

»Aber ich weiß gar nicht,« sagte die Dame und suchte Peter zu retten. »Was ist denn eigentlich vorgefallen?«

»Ja, haben Gnädigste denn nicht bemerkt?«

»Was?« fragte die Dame.

Der Offizier sah dupiert erst die Dame, dann die Menschen an, die ihn neugierig umstanden.

Der Arzt rettete die Situation und sagte:

»Der Herr Oberstleutnant glaubte, daß der Offizier Sie beim Fall berührt oder gar verletzt habe.«

Arzt und Dame verständigten sich sofort durch einen Blick.

»Der arme Mensch ist krank,« sagte er. »Und statt ihn zu bestrafen, sollte man lieber dafür sorgen, daß er gesund wird.«

»Dafür scheint mir dieser Oberst kaum der richtige Mann zu sein,« erwiderte die Dame.

»Gewiß nicht! Aber auch der Arzt vermag hier nicht zu helfen.«

»Hat er keine Familie? Keine Eltern?«

»Gewiß! eine sehr kluge und liebevolle Mutter. Aber auch hier hilft nur eins.«

»Nämlich?«

»Die Frau!«

Die Dame errötete – oder sie tat doch so. Jedenfalls sah sie zur Erde, und da der Arzt schwieg, so fragte sie:

»Jede Frau?«

»Nein! Eine bestimmte! Oder doch ein bestimmter Typ. Eine, bei der sich – wie soll ich sagen? – der Funke entzündet,« er schwieg, dann sagte er mit gedämpfter Stimme:

»Wie es bei Ihnen der Fall war.«

Was er noch sagte, hörte sie kaum. »Die Schmerzen, an denen er leidet, können nur durch eine große Leidenschaft enden. Das große Mitleiden mit andern, das ja der selbstloseste aller Schmerzen ist, kann nur durch das egoistischste Empfinden, die Liebe, geheilt werden.«

»Ein interessanter Fall, jedenfalls!« sagte die Dame, die ihn gar nicht verstand.

»Interessant genug, um sich mit ihm zu befassen,« erwiderte der Arzt und stellte sich vor.

»Wer ist er?« fragte die Dame.

»Dr. von Reinhart, aus einer der ersten Berliner Familien. Er war Regierungsassessor in Südwest; in Dahomey gefangen.«

»O Gott, der Aermste!«

»Unter den dortigen Eindrücken steht er noch heute. Sie müssen durch andere, stärkere, ersetzt werden.«

»Ich verstehe,« sagte die Dame.

Der Arzt mußte lächeln und sagte:

»Nun also.«

Sie waren vor dem Hotel stehen geblieben.

»Wollen wir nicht hineingehen?« fragte die Dame.

Der Arzt trat einen Schritt zur Seite und sagte:

»Bitte!«

Die Dame ging ein paar Schritte hinauf, dann blieb sie stehen, sah sich um und sagte zu dem Arzt:

»Ja, wo bleiben Sie denn, Herr Doktor?«

»Ich?« erwiderte der und tat erstaunt. »Ich sagte Ihnen doch, gnädige Frau, daß der Arzt hier nicht helfen kann.«

Sie lächelte und sagte:

»Nun, dann muß ich eben allein gehen.«

Sie nickte ihm noch einmal zu und eilte dann rasch die Treppen hinauf.

Der Arzt sah ihr nach und lachte.

Mit rotem Gesicht und offensichtlich noch immer in großer Erregung stürzte der Oberst auf ihn zu.

»Was sagen Sie nur zu der Blamage!« rief er laut. »Ein deutscher Offizier vergißt sich derart!«

»Aber, Herr Oberst!« suchte der Arzt ihn zu beruhigen.

»Die Sache ist ja nicht halb so schlimm.«

»So?« widersprach der Oberst. »Die Dame gehört zur allerbesten Gesellschaft. Meine Frau und ich verkehren mit ihr. Ihr Mann steht an einflußreicher Stelle! Wenn das einen Skandal gibt! – Wie fangen wir es nur an, ihr Genugtuung zu verschaffen? Seine Bestrafung allein wird ihr nicht genügen!«

»Genugtuung?« wiederholte der Arzt und sah den Obersten groß an.

»Ja!« wiederholte der mit martialischer Geste.

»Herr Oberst können beruhigt sein. Die verschafft sie sich bereits selbst.«

Der Oberst riß den Mund auf und sagte:

»Wa . . .?«

Der Arzt legte die Hand an die Mütze, ließ den Oberst stehen und verschwand.

V

Die nächsten beiden Tage, die Peter in der Gesellschaft der Dame verbrachte, vergingen schnell. Es wurde nicht viel gesprochen; um so mehr gehandelt. Und die wenigen Stunden, die er dann allein war, saß er meist unter Ausschaltung aller Gedanken auf seinem Balkon oder im Garten. Seine Kameraden sah er nur zu den Mahlzeiten. Oberflächliche Reden, an denen er sich selten beteiligte und die für die meisten andern ausreichende Zerstreuung waren, übten auf ihn keinerlei Wirkung.

Sein wahres Leben, das des Unbewußten, das sich bei ihm vor Tagen noch so stark an die Oberfläche gedrängt hatte, dies durch den Sexualtrieb wieder ins Unterbewußtsein verdrängte Leben, lebte er jetzt nur in seinen Träumen. Da sah er in den Gefangenenlagern Dahomeys wieder, wie seine Kameraden unter Aufsicht und auf Befehl französischer Offiziere von den Schwarzen bespien, getreten und halbtot geprügelt wurden. Zerfetzt sah er sie in die Knie sinken und mit letzter Kraft die Arme ausgebreitet, hörte er sie immer wieder rufen:

»Rette uns, Peter! Komm! hilf uns!«

Aber schnell fand er am nächsten Morgen in die Wirklichkeit zurück. Es war ein Rausch, nicht mehr, an dem weder das Herz, geschweige denn die Seele irgendwelchen Anteil hatten. Herz und Seele waren zerrissen und außerstande, zu lieben. Aber der Rausch betäubte ihn und er fühlte die Schmerzen nicht.

Als er am dritten Morgen in Engelberg erwachte, brachte man ihm ein Telegramm, darin stand, daß seine Mutter tags zuvor von Berlin abgereist sei und im Laufe des Tages eintreffen werde.

Sonderbar! Diese Nachricht wirkte so anders als vor Tagen am Morgen nach seiner Ankunft in Luzern das erste Telegramm seiner Mutter gewirkt hatte. Um den unmittelbar-innerlichen Zusammenhang zu ihr herzustellen, mußte er mühevoll erst allerlei Gedanken verdrängen. Und je mehr er das tat, um so deutlicher fühlte er, daß ihm schwer ums Herz wurde. Die Liebe für seine Mutter saß tief da, wo in nächster Nähe auch das große Leid seine Stätte hatte. Und nun, da er an diesem Gefühl rührte und sich durch seinen äußern Rausch hindurch den Weg zu diesen Tiefen bahnte, fühlte er deutlich auch schon wieder jenes leidenschaftliche Mitleid mit seinen ehemaligen Kameraden sich regen. Er kämpfte dagegen an, und, um sich abzulenken, öffnete er ein Kuvert, das ihm der Diener zugleich mit dem Telegramm gebracht hatte. Es war ein Befehl, der ihn vormittags zehn Uhr zu dem rangältesten Offizier rief. So gleichgültig an sich ihm diese Aufforderung war, so suchte er doch, um seine Gedanken abzulenken, zu erraten, was der Vorgesetzte wohl von ihm wissen wolle. Alle möglichen Einfälle kamen ihm, nur den wahren Grund, den jeder dritte ihm sofort genannt hätte, erriet er nicht.

 

»Also, Herr Oberleutnant,« empfing ihn der vorgesetzte Offizier sehr dienstmäßig. »Ihr skandalöses Benehmen, verstehen Sie,« und er wiederholte noch einmal und unterstrich es: »Ihr skandalöses Benehmen muß ein Ende haben. Und zwar sofort. Wie Sie da abbrechen, das ist Ihre Sache. Sie scheinen nämlich nicht zu wissen, daß Sie sich und nicht zuletzt diese Dame kompromittieren.«

Peter stand ganz verdutzt.

»Ja . . . das ist doch . . . rein zwischen uns . . . beiden . . .« stammelte er. »Das . . . kann doch höchstens eine Vermutung sein.« – Und er, der sich die Tage über um niemanden gekümmert, kaum jemanden gesehen hatte, begriff gar nicht, daß Fernstehende so aufdringlich und taktlos sein und sich um Dinge kümmern konnten, die sie nichts angingen.

»Das kombiniert man sich einfach,« erwiderte der Oberst. »Wir alle kombinieren uns das! Selbst meine Frau! Man muß sich schämen.«

»Ja, aber warum tut man das?« fragte Peter. »Wen es stört, der braucht es sich doch einfach nicht zu kombinieren, und wem es Freude macht, nun, der nimmt eben keinen Anstoß daran.«

»Es hört auf! Und zwar noch heute! Sieht man Sie noch einmal zusammen, so bestrafe ich Sie.«

»Man wird uns nicht mehr zusammen sehen,« versprach Peter.

»Und Sie werden mit der Dame auch nicht mehr unter vier Augen zusammen sein,« forderte der Oberst.

»Das kann ich Herrn Oberst nicht zusagen.«

»Es handelt sich um keine Zusage, sondern um einen Befehl!«

»Wenn Herr Oberst der Dame das dann vielleicht direkt sagen wollten.«

»Ich? Wieso ich?« erwiderte er verwirrt. »Was habe ich mit Ihren Liebschaften zu tun?«

»Ich dachte, nichts! Aber Herr Oberst haben mich soeben eines Besseren belehrt.«

Der Oberst zitterte jetzt am ganzen Körper.

»Kommt die Da —, die Frau etwa zu Ihnen aufs Zimmer?«

»Darüber bedaure ich Herrn Oberst keine Auskunft geben zu können.«

»Ich verbiete es Ihnen!«

»Ich bin auf die Entschlüsse der Dame ohne Einfluß.«

»Weisen Sie ihr die Tür.«

»Das verbietet mir außer meiner Erziehung in diesem Falle das Gefühl.«

»Sie haben Ihr Gefühl dienstlichen Befehlen unterzuordnen.«

»Ich bedaure, Herr Oberst, aber das vermag ich nicht.«

»Ich werde Sie zwingen.«

»Dazu hat man mich nicht einmal in Dahomey zwingen können.«

»Sie sind hier nicht in Dahomey, sondern stehen vor Ihrem deutschen militärischen Vorgesetzten.«

»Das ist mir inzwischen zum Bewußtsein gekommen.«

Der Oberst, der den Sinn dieser Worte mehr fühlte als verstand, fuhr Peter an und sagte:

»Sie haben drei Tage Stubenarrest wegen Renitenz.«  —

Aber der Gesichtsausdruck Peters, der ein leises Lächeln nicht unterdrücken konnte, machte ihn nachdenklich. – »Ae . . »das heißt . . . ä . . .,Sie werden natürlich umquartiert – und zwar in ein anderes Stockwerk. Sie werden Ihr Zimmer überhaupt nicht mehr betreten.« – Und er schien sehr zufrieden mit dieser Lösung.

»Verzeihung, Herr Oberst,« erwiderte Peter. »Die Neigung der Dame gilt nicht dem Zimmer, sondern der Person. Es dürfte sich daher nicht um die Ausschaltung des Zimmers, sondern um Ausschaltung der Dame handeln.«

»Ich verbiete Ihnen, die Dame von dem Zimmerwechsel in Kenntnis zu setzen! So! Und damit dürfte der Fall erledigt sein.«

Er war es leider nicht! Denn als am Nachmittage desselben Tages Frau Julie von Reinhart in Engelberg ankam und beim Hotelportier, der weder von dem Zimmerwechsel noch von dem Stubenarrest Peters Kenntnis hatte, nach der Zimmernummer ihres Sohnes fragte, wurde ihr die ehemalige Zahl genannt.

»Ja, hat mein Sohn das Telegramm denn nicht bekommen?« fragte sie beängstigt und bewegt, als sie im Fahrstuhl in die zweite Etage fuhr.

»Ich kann es nicht sagen,« erwiderte der Hoteldirektor, der infolge der doppelten Bedienung, in der Frau Julie reiste, an die Stelle des Portiers getreten war.

»Mir lag daran, ihn nicht zu überraschen, weil ich fürchte, daß ihn das zu stark erregen wird. – Ist er gesund? Hat er alle . . .?« Sie stutzte und brachte das Wort ›Glieder‹ nicht über die Lippen.

»Er macht einen durchaus gesunden Eindruck,« erwiderte der Direktor.

Für Frau Julie war das ein großer Augenblick. Auf eine Frage, die sie sich vier Jahre lang Tag für Tag, Stunde um Stunde gestellt hatte, war ihr endlich die erlösende Antwort geworden! Ihr wurde schwarz vor den Augen, die Knie zitterten und sie hielt sich an ihrer Zofe und Johann, dem Diener, fest.

Ein dankbarer Blick Johanns traf den Direktor.

»Die gnädige Frau hat vier Jahre lang nichts von dem jungen Herrn gehört,« sagte er zur Erläuterung. »Denken Sie, er war in Dahomey gefangen; in den Kolonien!«

»Nun, bei den Franzosen hat er es gewiß gut gehabt.«

»Glauben Sie?« fragte Johann.

»Ich bitt’ Sie, ein Kulturvolk wie die Franzosen wird seine Gefangenen doch nicht schlecht behandeln.«

Der Fahrstuhl hielt. Frau Julie hatte sich wieder in der Gewalt.

»Ich möchte doch lieber,« sagte Frau Julie mit geröteten Wangen. »Ich fürchte, er könnte zu sehr erschrecken. – Vielleicht, daß Sie zunächst mal Johann . . . Aber, dann denkt er womöglich, mir sei etwas zugestoßen und Sie sollen ihn vorbereiten.«

»Das wäre denkbar,« stimmte Johann zu. »Aber der Herr Direktor könnte vielleicht sagen, es sei von Luzern aus telephoniert worden, daß die gnädige Frau nach Engelberg unterwegs sei.«

»Das ginge!« meinte Frau Julie und war so erregt, daß sie den Direktor am Arm nahm und ihm mit einer Stimme, die zitterte und bebte, zuflüsterte: »Gehen Sie, gehen Sie zu meinem Sohne! Und dann, wenn er weiß, dann sagen Sie ihm: am Ende ist sie gar schon da! – Aber nur, wenn Sie sehen, daß er ruhig ist. Sonst muß man es ihm allmählich beibringen.«

Der Direktor ging den Flur hinunter. Frau Julie stand und hielt sich mit der einen Hand bei Johann, mit der andern bei ihrer Zofe fest. Jeden Schritt, den er tat, fühlte sie in ihrem Herzen. Jetzt blieb er stehen und wandte sich rechts zur Tür. Frau Julie lehnte sich leicht an Johann an. Der Direktor klopfte und öffnete, in dem Glauben, daß jemand »Herein!« rief, die Tür. Im selben Augenblick schrie eine Frau laut auf und man sah, wie der verdutzte Direktor zurückfuhr.

»Was ist?« rief Frau Julie laut.

Die Tür flog zu und wurde verschlossen.

Der Direktor kam zurück und verkündete verlegen:

»Es tut mir leid, gnädige Frau, aber Ihr Herr Sohn kann nicht empfangen.«

Frau Julie starrte noch immer zur Tür.

»Er . . . er . . . ist . . . doch . . . da?« fragte sie zaghaft.

»Gewiß . . . aber, Verzeihung, er ist nicht allein.«

In diesem Augenblick kam der Oberst, der sich persönlich davon überzeugt hatte, ob Peter auch in dem ihm angewiesenen Zimmer im oberen Stock die ihm zuerkannte Strafe absaß, die Treppe hinunter. Er gab dem Direktor ein Zeichen, daß er ihn zu sprechen wünsche. Der trat an ihn heran.

»Kennen Sie Frau . . .?« flüsterte er ihm zu und nannte einen Namen.

Der Direktor bejahte.

»Wenn die Da—, die Frau nach Herrn Oberleutnant Reinhart fragen sollte, so sagen Sie ihr nicht, daß er seit heute nicht mehr in Zimmer 43, sondern eine Etage höher in 117 untergebracht ist.«

Der Direktor machte nicht grade ein besonders kluges Gesicht.

»War sie etwa schon bei ihm?« fragte der Oberst lebhaft.

»Nein. Aber ich wußte gar nichts von diesem Zimmerwechsel und mir scheint, daß auch die Dame ihn übersehen hat.«

»Wieso? Was soll das heißen?«

»Ich hatte eben den Vorzug, einen Blick in Zimmer Nr. 43 zu werfen.«

»Da wohnt jetzt Rittmeister von Droste.«

»Gewiß. Aber es scheint, daß der Name nicht viel zur Sache tut.«

»Wieso? Was meinen Sie?«

»Die Uniformen der beiden Herren sind einander wohl zu ähnlich.«

»Der eine ist neunter, der andere vierzehnter Dragoner.«

»Dann scheint die Dame sich in der Nummer der Achselklappen geirrt zu haben«