Za darmo

Lu die Kokotte

Tekst
0
Recenzje
iOSAndroidWindows Phone
Gdzie wysłać link do aplikacji?
Nie zamykaj tego okna, dopóki nie wprowadzisz kodu na urządzeniu mobilnym
Ponów próbęLink został wysłany

Na prośbę właściciela praw autorskich ta książka nie jest dostępna do pobrania jako plik.

Można ją jednak przeczytać w naszych aplikacjach mobilnych (nawet bez połączenia z internetem) oraz online w witrynie LitRes.

Oznacz jako przeczytane
Czcionka:Mniejsze АаWiększe Aa

Über den Grund des Renkontres befragt, äußerte sich Madame Lu de Courcelles wie folgt: ›Herr F.‹ – sie scheute sich, den Namen auszusprechen – ›hatte mich nicht mit dem Respekt behandelt, den ich verlangen darf, und den ich gewöhnt bin, und die Folge war, daß Herr Helldorf ein Sektglas nahm und es ihm ins Gesicht warf. Es entstand eine allgemeine Deroute. – Nun, Sie werden begreifen, für mich lag, da ich ja kein Berichterstatter bin,« fügte sie mit liebenswürdigem Lächeln hinzu, ›kein Grund vor, länger in dieser Gesellschaft zu bleiben. Ich nahm den Arm meiner Gesellschafterin und fuhr in mein Hotel, aus dem ich mich seitdem noch nicht herausgerührt habe.‹ Mademoiselle Courcelles verfiel dann in ein konvulsivisches Schluchzen, so daß ich es für taktvoll hielt, mich zu entfernen.«

Dies konvulsivische Schluchzen kehrte in fast allen Blättern wieder; viele brachten das Ereignis an hervorragender Stelle in gesperrter Schrift. Das Morgenblatt schloß:

»Wir hoffen, über diesen Fall, der der beteiligten Personen wegen allgemein großes Aufsehen erregt und in der Gesellschaft viel besprochen wird, morgen unseren Lesern Genaueres mitteilen zu können.« Und darunter als nächste Nachricht stand:

»Herr Geh. Medizinalrat Prof. Dr. Laßmann berichtete in der gestrigen medizinischen Gesellschaft vor einem erlesenen Kreise von Gelehrten über eine grundlegende Entdeckung, durch die unsere Krebsforschung in völlig neue Bahnen gelenkt und die Aussicht auf erfolgreiche Bekämpfung des Krankheitserzeugers befestigt wird. – Über diese epochemachende Entdeckung des deutschen Gelehrten können wir aus Mangel an Raum unsern Lesern erst in der nächsten Nummer unseres Blattes Näheres mitteilen.«

Diese Zeitungsberichte hatten zur Folge – einmal:

Als Helldorf am Morgen nach dem Renkontre vom Grafen Seydlitz und von Georg Held, die er des Nachts zu seinen Kartellträgern erkoren hatte, geweckt wurde, da hatte er die Vorgänge vom vergangenen Abend nur noch sehr lose in der Erinnerung.

»Richtig«, sagte er, als Held rekapitulierte, und setzte sich auf.

»An sich«, meinte Held, »ist es ja etwas jungenhaft, eines solchen Frauenzimmers wegen sein Leben aufs Spiel zu setzen. Das tun Studenten, aber keine ernsten Menschen.«

Aber Seydlitz widersprach.

»Jrund is Nebensache,« dozierte er, »und wenn’s ’n Droschkenjaul is, um den man in Streit jerät, Nebensache; sobald ’ne tätliche Beleidigung vorliegt, muß jeschossen werden.«

»Seydlitz hat recht«, entschied Helldorf. »Ich habe nach meinen Erfahrungen das Schießen zwar ein für allemal abgeschworen – aber es hilft nichts.«

Es klingelte, und der Diener brachte die Karten zweier Herren.

»Aha«, sagte Helldorf. »Aber ich kann doch unmöglich im Bett empfangen. – — Die Herren in den Salon«, befahl er dem Diener; und zu Held und Seydlitz sagte er: »Sagt, ich sei krank, Ihr habt Pleinpouvoir. Handelt, wie Ihr’s für richtig haltet.«

Und Held ging mit Seydlitz nach vorn und empfing die Herren.

»Wir kommen im Auftrage des Herrn Freudenheim«, begann der eine. Und der andere fuhr fort:

»Herr Freudenheim hat in den letzten zehn Jahren fünf Ehrenhändel mit der Pistole und sieben mit schweren Säbeln ausgefochten. Es kann ihn daher nicht der Vorwurf treffen, daß er nicht jederzeit bereit sei, für seine Ehre sein Leben einzusetzen. Wenn er also geneigt ist, den gestrigen Vorfall mit der beiderseitigen Erklärung des Bedauerns als beigelegt zu betrachten, so geschieht das, weil er meint, daß es sich für zwei seit Jahren gut miteinander bekannte junge Leute aus gutem Hause nicht verlohnt, einer internationalen Kokotte wegen, zu der keiner von beiden bisher in Beziehungen stand, ihr Leben aufs Spiel zu setzen.«

»Dieser Auffassung«, sagte Held, »trete ich in jeder Beziehung bei.«

»Das freut uns ungemein«, erklärten die Herren.

Aber Seydlitz sagte: »Jrund is Nebensache; und wenn’s ’n Droschkenjaul is, um den man in Streit jerät, Nebensache; sobald ’ne tätliche Beleidigung vorliegt, muß jeschossen werden.«

Trotzdem gelang es Held, durch Abgabe gegenseitiger Erklärungen den Streitfall beizulegen, und das Duell unterblieb.

Freudenheim war aufs Land zurückgekehrt, und Helldorf saß, wie jeden Mittwoch nachmittag, bei Haaks Freundin, Herta Flohr, und trank Tee, als das Abendblatt mit der Nachricht von dem Duell und seiner lebensgefährlichen Verletzung kam.

»Teufel!« rief er. »Das ist eine nette Bescherung.«

Aber Herta heulte laut auf, fiel ihm um den Hals und küßte ihn zärtlich.

»Nein, Fritz«, jammerte sie und war ganz außer sich. »Da bist du nun seit zwei Stunden bei mir und schwebst in Gefahr, und ich weiß es nicht.«

»Aber Kind, so beruhige dich doch, es ist ja kein Sterbenswort daran wahr.«

»Doch! Doch!« widersprach Herta.

»Aber so überleg’ doch: bin ich denn vorhin nicht genau so lieb zu dir gewesen wie an jedem Mittwoch?« fragte er.

Aber Herta lehnte alle Vernunftgründe ab.

»Wenn es doch in der Zeitung steht!« wiederholte sie ein über das andere Mal. »Hier, ganz deutlich!« Und sie hielt ihm das Blatt hin. »Ein anderer kann es doch nicht sein! So lies doch, es ist ja ganz sicher, daß du gemeint bist! Entsetzlich!«

Und je bestimmter er widersprach, um so erregter wurde sie.

»Ich bitt’ dich, sag’ mir die Wahrheit, schone mich nicht. Hat dieser ekelhafte Kerl auf dich geschossen? Schwebst du in Lebensgefahr? – — Natürlich! Du siehst ja aus wie der Tod! – — Himmel!« schrie sie laut. »Du wirst doch nicht etwa hier – — bei mir! – — Das wäre ja schrecklich! Was sage ich dann dem Paul – — wenn man dich hier findet – — er ist schon immer eifersüchtig auf dich – —« und sie rief laut ihre Zofe.

»Martha, schnell ein Automobil für den Herrn von Helldorf! Aber laufen Sie, ehe es zu spät ist – —«

Dann holte sie seinen Hut und Überzieher aus dem Entree und half ihm hinein.

»Nicht wahr, Lieb,« und sie sah ihn ganz ängstlich an, »du nimmst es mir nicht übel, – aber du siehst es ein, daß du bei mir . . . Gott nein! Wie du aussiehst; so eil’ dich nur! Du Ärmster!«

Helldorf kam gar nicht zu Worte.

»Lebe wohl!« rief sie ihm zu und schlug die Tür zu. Dann ging sie wieder in den Salon.

»Gott sei Dank!« sagte sie und atmete auf. »Den Paul wäre ich los gewesen, wenn er bei mir gestorben wäre!« —

Als Helldorf nach Hause kam, erwarteten ihn schon Held und Graf Seydlitz mit großer Ungeduld.

»Eine nette Bescherung!« rief er, als er ins Zimmer trat. »lrréparable!«

»Ich habe jleich jesagt,« erklärte Seydlitz, »Jrund is Nebensache, und wenn’s ’n Droschkenjaul is, um den man in Streit jerät, Nebensache, sobald ’ne tätliche Beleidigung vorliegt, muß jeschossen werden!«

»Das glaube ich jetzt auch,« sagte Held, »nachdem der Vorfall einmal publik ist – — es gibt heute abend keinen Klub und keine Gesellschaft, wo man nicht davon spricht.«

»Selbstredend«, erklärte Helldorf.

Man setzte sich mit Freudenheim in Verbindung, der die gleiche Auffassung hatte; und am nächsten Morgen hatte Helldorf, der leichtsinnig genug war, in die Luft zu schießen, das Pech, daß seine Kugel Freudenheim in die linke Schulter drang, von wo man sie nur mit Mühe und Gefahr am übernächsten Tage entfernen konnte.

Morgens und abends brachten die Zeitungen lange Berichte, die von Liane inspiriert waren; in allen illustrierten Blättern sah man ihr Bild: »Lu de Courcelles, die berühmte Pariser Schönheit, deretwegen dieser Tage zwischen zwei Herren der Berliner Gesellschaft ein Pistolenduell stattfand, bei dem einer der Duellanten lebensgefährlich verletzt wurde«, stand darunter. Mit jeder Post erhielt Liane Liebes- und Engagementsanträge; beides zu teilweis ungewöhnlich günstigen Bedingungen. In dieser Woche war Liane, die sich von nun an nur noch Lu de Courcelles nannte, die berühmteste Frau beider Welten.

XXXII

Geldern hatte noch am selben Tage mit seiner Tante gesprochen. Auch ihr hatten die Menschen kein Leid erspart, und so hatte sie Sinn und Herz für alle Schmerzen, die andere litten. Sie war sofort bereit, sich Luises anzunehmen, kam ihr gütig wie eine Mutter entgegen und empfand es wie eine Wohltat, daß sie ihr helfen durfte.

»Man kämpft gegen das Unrecht anderer nicht an, indem man Gleiches mit Gleichem vergilt«, sagte sie; »damit gibt man ihnen ja nur recht; man muß vielmehr ihre schlechten Taten in ihrer Wirkung aufheben; muß die aufrichten, die sie verdammen, und denen Gutes tun, die sie ins Unglück stürzen.«

»Das muß man«, bestätigte Geldern.

»Aber darauf kommt es zunächst nicht an«, sagte die Tante; »laß die Menschen laufen! Ob sie sich nun kränken oder lustig machen, uns soll es gleich sein. Hier« – und sie nahm Luises Hand – »gibt’s Besseres zu tun. Das Gescheiteste: man kümmert sich überhaupt nicht um die Menschen. Man braucht sie nicht, es geht auch ohne sie.«

»Nun Luise, glauben Sie jetzt, daß Sie in den richtigen Händen sind?« sagte Geldern und wies auf die Tante.

»Wenn ich nicht viel sage,« erwiderte Luise, »so ist es, weil sich so vieles in mir regt, wofür ich nicht die Worte finde. – Ich kann es nicht sagen, was es ist . . . als ob es anfinge, hell in mir zu werden . . . ich kann wieder vorwärts sehen . . . und mir ist, als ob etwas vor mir läge . . . irgendein Ziel – nicht mehr diese große Leere wie bisher – ob es nun das Ende ist – oder das neue Leben . . .?« – sie schüttelte den Kopf – ». . . das weiß ich nicht.«

Die Tante nahm sie in den Arm.

»Es ist das neue Leben, mein Kind«, sagte sie mütterlich; »lassen Sie uns nur ein paar Wochen weiter sein, dann wird sich’s schon zeigen.«

Man beschloß, noch am gleichen Abend zu fahren; Geldern übernahm es, Liane zu verständigen, der man alles, was Luise gehörte, überlassen wollte. Das Nötigste, was Luise brauchte, kaufte man in Berlin, alles andere sollte an Ort und Stelle besorgt werden.

 

Geldern verständigte seinen Freund, der im Taunus ein Sanatorium hatte, telephonisch und meldete sich und die Damen an.

Dann fuhr er zu Liane, die gerade einen Reporter bei sich hatte und erst gar nicht begriff, was eigentlich vorging. Aber als Geldern ihr die Chancen klar machte, die sich ihr boten, wenn sie jetzt als Lu Courcelles auftrat, fragte sie nicht mehr und willigte ein. Freilich mußte er versprechen, ihr ständig über Luise zu berichten und sie mit ihr zusammenbringen, sobald sie wieder nach Berlin kam.

Auch war sie nicht zu bewegen, alles, was Luise gehörte, als ihr Eigentum zu betrachten; denn sie glaubte nicht an Werners ernste Absicht, Luise für immer bei sich zu behalten; rechnete vielmehr damit, daß sie über kurz oder lang zu ihr zurückkehren würde. Schließlich verständigte man sich dahin, daß alles in Koffer gepackt und irgendwo für Luise aufbewahrt wurde.

»Ohne das Parfüm kann sie nicht atmen«, sagte Liane und packte die Flakons in eine Schachtel. »Das müssen Sie ihr mitnehmen; als letzten Gruß von mir. – Einen Moment!« rief sie dem Reporter zu, der in der Nebenstube saß und alle Augenblicke unsanft an die Tür klopfte, – und sie tat ein Briefchen hinein, in dem stand:

»Treulose Lu! Vergiß mich nicht; und wenn Du seiner überdrüssig bist, dann kehre zurück, ich bin immer für Dich da. Liane.«

Luise lächelte, als sie das las.

»Sie hat mehr Herz als die andern.«

»Das ist ganz sicher«, erwiderte Geldern, der wußte, wen sie mit den andern meinte.

Des Abends reisten sie ab.

Am nächsten Tage untersuchte sie der Arzt, und seine Diagnose lautete: Cerebrale Neurasthenie. Wohl auch ohne daß er sie sah, hätte er nach den Aufschlüssen, die ihm Werner gab, darauf schließen können. »Ihr Einfluß und der Ihrer Frau Tante wird auf die Kranke heilsamere Wirkung ausüben als unsere Kunst«, hatte er mit großer Offenheit erklärt. Und in der Tat vollzog sich in Luise bald ein völliger Wandel.

Die Tante verstand es, ihr Gewissen von jedem Vorwurf, der sie noch quälte, freizumachen und auf den Gang ihrer Gefühle so zu wirken, daß sie für jede ihrer Handlungen eine Erklärung und mit der Erklärung auch eine Entschuldigung fand.

Die täglichen Briefe Werners, des einzigen Menschen, auf den sich jetzt all ihre Gedanken zusammendrängten, lehrten sie alles, was hinter ihr lag, mit ganz anderen Augen ansehen. In ihr wurde das Bewußtsein immer stärker, daß man sich schwer an ihr versündigt hatte, daß gerade die, die sich als Hüter der Moral berufen glaubten, sie zu richten, alle ihre Leiden verschuldet hatten.

Bald lebte sie ganz in den Ideen Werners und wartete froh und zuversichtlich auf die Stunde, wo er sie holen und mit ihr das neue Leben beginnen würde.

Sie war vier Wochen fort, als ihr Werner schrieb:

»Liebe Luise! Wir haben uns nichts mehr zu schreiben; denn in allem kenne ich nun Deine Gesinnung und Deine Gedanken.

›Ist es noch möglich, daß der eine versteht, was dem andern fremd bleibt?‹ fragst Du mich. Nein! Denn der Sinn, den Du und ich ins Leben legen, ist der gleiche.

Sieh, Luise, wir hatten am Leben verzagt; aber wir hatten vergessen, um die Deutung des Lebens zu ringen. Unsere Gedanken hingen weder an Gott noch an der Welt; wir fragten nicht einmal unser Gewissen.

Wir hingen mit allem nur an den Menschen und glaubten: alles Heil hinge davon ab, wenn nicht mit dem Strome, dann gegen ihn zu schwimmen.

Wir versuchten’s; aber wir fühlten bald, daß unsere Kräfte nicht reichten. Um nicht umgerissen zu werden, standen wir still und wußten nicht weiter.

Da standen wir und sannen und betrachteten den Strom, der an uns vorbeischoß und unbarmherzig alles mit sich fortriß; grau und schmutzig stürmte er dahin. Tausend schwache Äste brach er und spülte sie fort, unterwühlte die stärksten und edelsten Stämme, und nur wo kalt und starr ein Fels stand, an dem jede Flut spurlos abglitt, wich er aus.

Da, als Du eben verzagtest, lenkte ich Deinen Blick von dem Strom ab – und wir sahen die Ufer! Menschenleer! Friedlich! Blühend! Von der Sonne beschienen.

Ich nahm Dich in den Arm und trug Dich hinüber – andere Luft wehte da! Alle Qual fiel von uns ab. Wir sanken in die Knie und gelobten: einen Wall gegen den Strom in uns zu errichten, ihm nie mehr zu nahen; wenn aber ein Opfer sich zum Ufer rettet, es nicht in den Strom zurückzustoßen, sondern ihm barmherzig, wie einem Bruder, zu begegnen.

Ich stehe mit Dir am Ufer; den Blick zur Sonne gerichtet; ich holte Dich in meinen Armen, und uns beiden ist leicht. Seit wir die Menschen nicht mehr fürchten, fürchten wir Gott. Aber die Furcht ist Liebe und Ergebung; in seinen Willen! Nicht in den der Menschen! Ihr Spott trifft uns nicht mehr!

Wir wollen abseits gehen mit unseren Gedanken und Gefühlen, uns unsere Welt in uns errichten; wir stehen auf festem Boden.

Ich lege schützend meinen Arm um Dich, Luise, und gelobe Dir Treue.

Werner.«
– — – — – — – — – —

Und wenn die Tante sagte: »Nun werdet ihr bald zusammen sein«, dann sah Luise sie groß und strahlend an. In ihr war alles zur Ruhe gekommen. Es war nicht mehr das laute Glück eines vollen Herzens, das in seiner jungen Liebe jauchzte und am liebsten alle Menschen in die Arme schloß; – es war eine tiefe Ruhe und ein stiller Frieden; und ihr Herz empfand es dankbar, daß sie nun feststand und geborgen war.

Und alle Tage erzählte ihr die Tante von neuem:

»Nun ist es bald so weit; in ein paar Tagen wird er kommen und dich holen, und ihr werdet auf seinem kleinen Landgut leben – ganz für euch, so wie er es sich immer gewünscht hat.«

»Und du wirst viel bei uns sein«, bat Luise.

»So oft man mich braucht, werde ich kommen«, versprach sie und erzählte ihr viel von der schönen Lage, den Wäldern und Wiesen und dem ruhigen, sorglosen Leben.

»Du wirst bald zu jedem Strauch eine innere Beziehung haben,« sagte sie, »wirst Blumen und Bäume pflanzen und hochziehen, dich mit dem Leben der Vögel, der Bienen und der vielen andern Tiere, die du dort findest, befreunden, – was nicht hindert,« – fügte sie scherzend hinzu – »daß hin und wieder auch so ein kleines Menschenkind mit unterläuft, das dich zur Mutter hat.«

Luise drückte ihr die Hand und sah zur Erde.

»Und ringsherum,« sagte die Tante, »aber doch in gehörigem Abstand, so daß ihr wochenlang keinen fremden Menschen zu sehen braucht, wenn ihr nicht wollt, wohnen in kleinen Gehöften Hunderte von Bauern, fleißig und genügsam, zu denen oft Krankheit und Elend kommen, und wo es dann viel zu helfen gibt.« —

Am selben Abend noch kam ein Telegramm von Werner:

»Nächste Woche komme ich und hole euch ab.«

XXXIII

Der alte Geldern war achtzig und seit über zwanzig Jahren Witwer.

Die Gelderns zählten zu Berlins ältesten Familien. Fast zweihundert Jahre lang spielten sie in der Handelswelt eine Rolle. Erst in den achtziger Jahren, als der moderne Geist zur Herrschaft kam und mit aller Tradition brach, zogen sie sich vom geschäftlichen Leben zurück und verschlossen sich auch gesellschaftlich allen, die pietätlos mit dem Althergebrachten brachen und dem »Zuge der Zeit« folgten. Gelderns gehörten zu den wenigen, die im alten Stile weiterlebten. Das Haus, das sein Großvater erbaut hatte, in dem er und sein Vater geboren waren, mit einer Villa im Westen zu vertauschen, wie es die meisten andern taten, war ihm nie in den Sinn gekommen. Nicht etwa, weil darin ein Mangel an Pietät lag, sondern weil er das Gefühl hatte, als gäbe er damit seine Persönlichkeit auf und würde ein anderer.

Denn dies Haus, in dem jeder Raum seine Geschichte hatte, war ihm mehr als nur der Rahmen zu seinem Leben. Es stand in einer Grundbedeutung zu seinem Menschen, der nicht unbeeinflußt von der Tradition, die in jedem dieser Räume herrschte, eben der wurde, der er heute war.

In diesem Hause hatten ihm Vater und Großvater aus ihrem Leben erzählt und die Räume für alle Zeit mit ihrem Wesen ausgefüllt. Und die Luft dieser Räume atmete er mit jedem Augenblicke von neuem. Hier lebten tausend Erinnerungen, die gegenständlich blieben, solange der Schauplatz unverändert blieb, die mit seiner Veränderung aber nur noch mittelbar und unpersönlich wirkten.

Aus diesem Hause trug man ihn lebend nicht heraus.

Seinen Umgang hatte er auf zwei, drei Freunde, die geblieben waren wie er, beschränkt. Denn auf Gesellschaften, die andere gaben, lief man Gefahr, Leuten zu begegnen, von denen man gar nicht wußte, wer sie waren; die ganz ungeniert Gespräche mit einem anknüpften, nach einer Viertelstunde wie alte Bekannte über Familie und Geschäft mit einem sprachen, einen am andern Tag auf der Straße begrüßten und – selbst das war vorgekommen – ohne daß man sie darum bat, die Karte bei einem abwarfen.

Der alte Geldern hatte seinen Wagen mit keinem Automobil vertauscht und seinen alten Kutscher beibehalten. Wie ein Protest gegen die Hast und den Prunk der Zeit mutete der unmoderne Landauer mit dem langbärtigen Kutscher auf dem Bocke an, wenn er in gemächlichem Tempo durch die laut lärmenden Straßen fuhr. Die alten Pferde wurden nicht verkauft, sondern bekamen das Gnadenbrot; und für die Leute im Hause, die er zum Teil von seinem Vater übernommen hatte, sorgte er, wenn sie alt bei ihm wurden, wie ein Bruder und Freund, bis an ihr Ende. Neue Leute waren ihm ein Greuel.

Seine ganz anders geartete, in allem nur aufs Äußere bedachte Tochter, die herz- und gemüts- und daher auch traditionslos nur den Wunsch kannte, sich mit ihrem Gelde eine gesellschaftliche Position zu schaffen, suchte er nur der Kinder wegen auf. An ihnen hing er mit großer Liebe, und auf ihre Entwicklung wirkte er, ohne daß die Eltern es merkten, in seinem Geiste ein. Hingegen war Werner, nachdem er in seiner Ehe völlig zusammengebrochen war und sich von allen Menschen innerlich losgemacht hatte, dem Vater immer näher gekommen. Werner beschäftigte sich mit philosophischen Studien und hatte sein kleines Gut, auf dem er die größte Zeit des Jahres über lebte. Alle acht Tage kam er nach Berlin und sah nach seinem Vater, den er auch oft auf ein paar Tage mit zu sich hinausnahm. Auf dem Lande fühlte sich der alte Geldern am wohlsten; aber nach wenigen Tagen zog es ihn doch immer wieder in sein Haus zurück.

Das letztemal ließ ihn Werner nicht fort, bevor er ihm seine Begegnung mit Luise erzählt hatte.

»Wie ich dazu kam, Helds Einladung anzunehmen, weiß ich eigentlich selbst nicht recht«, begann er. »Ich traf ihn am Vormittag Unter den Linden, und er machte mir, wie immer, Vorwürfe, daß ich mich von aller Welt zurückzöge. Um ihm ein für allemal zu zeigen, daß ich in seine Kreise nicht mehr passe und mit meinem Trübsinn eine ganze Gesellschaft anstecken kann, versprach ich endlich zu kommen. Es waren lauter oberflächliche, geputzte Menschen; Herren aus der Gesellschaft und ein halb Dutzend Frauenzimmer; außerdem zwei junge Französinnen. Die eine: der Typ der guten Pariser Kokotte – die andere . . .« und nun erzählte er dem Vater alles, was sich seit jenem Abend, bis heute, ereignet hatte.

Der hörte ihn bis zu Ende an und unterbrach ihn nicht; nur ein, zwei Male, als er Luises Leiden schilderte und vor Rührung nicht recht weiterkam, klopfte er ihm auf die Schulter und sagte:

»Aber Junge!«

Wohl eine halbe Stunde sprach Werner und ließ kein Auge von seinem Vater, und als er fertig war, da saßen beide erst eine Zeitlang, ohne ein Wort zu reden und sahen sich an.

Dann griff der Alte über den Tisch nach Werners Hand und hielt sie fest.

»Wie gut, daß die Mutter das nicht mit erlebt«, sagte er; und als er sah, daß Werner erstaunt und enttäuscht war, setzte er hinzu: »Denn Frauen sehen immer nur das Tatsächliche, und ihnen fehlt jede Wertung der Motive.«

»Was meinst du damit?« fragte Werner.

»Nun, daß dies arme Geschöpf für die selige Mutter trotz allem doch immer nur, die Frau mit der Vergangenheit« gewesen wäre.«

»Und wenn sie das alles wüßte, was ich dir eben erzählt habe? . . .« warf Werner ein.

Der alte Geldern schüttelte den Kopf.

»Dann würde sie Mitleid mit ihr haben und über die schlechte Welt entsetzt sein.«

»Nun also«, sagte Werner.

»Ja, aber am Ende würde sie doch sagen: Wer von den Leuten weiß denn das? Willst du es jedem einzelnen erzählen? – Nein, mein Junge, eine Frau folgt solchen Dingen innerlich nur in Romanen; sobald sie aber aus dem Romanhaften heraustreten – also schon auf der Bühne – wird ihr Urteil von tausend Rücksichten beeinflußt. Und wenn es sich gar um die Wirklichkeit handelt, dann würde sie an einer solchen Frau schließlich doch immer allerlei zu tadeln finden – und von einem Mann, der handelte wie du, sagen: So eine Verrücktheit! – Und darum« – und er hielt noch immer die Hand seines Sohnes, – »ist es gut, mein Junge, daß der guten Mutter der Kummer erspart bleibt.«

 

»So hältst du es also auch für ein Unglück?« fragte Werner enttäuscht.

»Nein«, erwiderte der Alte bestimmt. »Aber bei einer so wichtigen Entscheidung, die ihren Sohn angeht, muß ich dir zunächst alles das vor Augen halten, was die Mutter, wenn sie hier neben uns säße, dir gesagt hätte. Ich weiß, wie sehr du an ihr hingst . . . du muß also wissen . . . ob du trotzdem . . .«

»Wenn die Mutter sie kennen gelernt hätte . . .« unterbrach er den Vater . . .

»Die Mutter hätte sie nie kennen gelernt«, erwiderte der. »Aber ich will dir das Herz nicht unnütz schwer machen . . . am Ende, wenn sie gesehen hätte, daß du zufrieden warst, – und was will denn eine gute Mutter mehr, als ihr Kind glücklich sehen – dann hätte auch sie sich schließlich damit abgefunden; wenigstens innerlich – nach außen, da hätte sie es natürlich nie zu erkennen gegeben.«

»Und du, Vater?« fragte Werner.

»Ich achte deine Gesinnung«, sagte er.

»Ich darf sie dir also ins Haus bringen?«

Der Alte sah ihn an, als verstünde er die Frage nicht recht.

»Das wird sich wohl so gehören«, sagte er. Dann stand er auf, nahm den Kopf seines Sohnes zwischen die Hände, küßte ihm die Stirn und sagte: »Alles Gute, mein Junge. Ich habe das Gefühl, daß du mir diesmal ein braves Mädchen ins Haus bringst.«

»Dafür verbürge ich mich, Vater.«

»Ich brauche dir nicht zu sagen, daß unser guter Name durch die Schande deiner ersten Frau beschmutzt ist; du mußt damals blind gewesen sein. Sieh mal, ich weiß, wie sehr du darunter gelitten hast, wie all der Schmutz dich zermürbt hat. Aber mehr als ich, mein Junge, hast du gewiß nicht gelitten; wenn man es einem in meinem Alter auch weniger anmerkt; aber im stillen hat es gefressen; ich habe mich vor meinen toten Eltern geschämt und bin in meinem eigenen Hause wie ein Gezeichneter mit gebeugtem Haupte herumgelaufen.«

»Vater!« sagte Werner entsetzt.

»Ich sage dir das nicht, um dir weh zu tun. Aber du sollst wissen, daß du nicht der einzige bist, der gelitten hat. Nur hast du dich mehr in deinem Schmerz gehen lassen als ich. Aber« – und er legte die Hände auf Werners Schultern und sah ihm in die Augen – »wenn du mir nun wirklich eine brave Frau ins Haus bringst, du weißt, was ich darunter verstehe, eine, die vornehm in der Gesinnung ist, Verständnis für die Schwächen anderer und ein Herz für die Armen hat, ohne Hochmut, ohne gesellschaftlichen Ehrgeiz, nicht so eine kalte Weltdame, wie deine Schwester ist, siehst du, wenn deine Luise so ein gutes Geschöpf ist, wie du sagst, und noch dazu ein schwer geprüftes, dann wird sie es sein, die die alte Schande auslöscht.«

»Luise wird immer glücklich sein, wenn sie Gutes wirken kann«, beteuerte Werner.

»Du weißt, wie ungern ich neue Menschen kennen lerne,« sagte der Alte, »und wie wenig ich auf gesellschaftliche Formen gebe, – mir scheint es aber doch nötig, daß man das Opfer bringt und mit der Familie deiner Braut trotz allem wenigstens äußerlich eine Art Verbindung herstellt, die ihr nach der Hochzeit ja wieder lösen könnt.«

»Sieh, Vater,« erwiderte Werner, »wie wir, so muß auch Luise alles Böse, das hinter ihr liegt, vergessen. Wenn wir sie nun mit diesen Menschen zusammenführen, dann wird doch alles wieder in ihr wachgerufen.«

Der Alte dachte nach.

»Hast recht,« sagte er, »das geht nicht. Das wäre eine Tortur für sie.« – Dann überlegte er wieder. – »Und doch, so verhaßt mir alles Konventionelle ist, – ganz ohne, scheint mir, geht es nun einmal nicht, – schon Brehmers wegen; sie ist doch nun mal deine Schwester.«

Werner sah das ein.

»Ich werde mit Luise sprechen«, sagte er.

»Um keinen Preis! Das wirst du nicht tun«, forderte der Alte mit großer Bestimmtheit. »Du weißt ja nicht, ob du damit nicht alte Wunden wieder aufreißt. Du kannst mit ihr gar nicht vorsichtig genug sein.«

»Gewiß,« erwiderte Werner, »aber es ist ja möglich . . .«

»Nein, nein!« unterbrach ihn der Alte wieder. »Ganz unmöglich ist das. Hier« – und er hielt ihm die Hand hin – »versprich mir, daß du es nicht tust, daß du es mit keiner Silbe ihr gegenüber erwähnst. – Du kannst sie gar nicht schonend genug behandeln, – denke nur, wie wund noch alles in ihr ist.«

Und Werner schlug ein und sagte:

»Du bist zu gut, Vater! – Was also, meinst du, soll geschehen?«

»Ich werde es mir durch den Kopf gehen lassen; fahr’ du nur zu ihr und nimm ihr die Minna mit; es schickt sich nicht, daß sie keine Frau zur Bedienung um sich hat.«

»Die alte Minna?« fragte Werner.

»Ja,« erwiderte der Alte, »ich habe es ihr für den Fall deiner Wiederverheiratung zugesagt, daß sie um deine Braut sein darf. Sie hat es deiner Mutter auf dem Totenbett versprochen und redet sich nun ein, daß damals alles anders gekommen wäre, wenn sie nicht krank gewesen wäre. Also tu ihr die Liebe.«

»Von Herzen gern«, sagte Werner.

»Und dann sag’ deiner Luise, daß hier ein alter Vater auf seine Tochter wartet.«

»Ja, Vater, das will ich tun; ich fahre noch heute.«

»Halt, da fällt mir noch etwas ein,« fiel ihm der Alte ins Wort, »da war vor ein paar Tagen der Geheimrat Beronson bei mir.«

»Beronson? Seit wann verkehrst du mit dem?« fragte Werner erstaunt.

Der Alte schüttelte den Kopf: »Ich nicht – — er kam deinetwegen . . .«

»Meinetwegen? Was will er von mir?«

»Er hat eine Tochter – ein bildhübsches Mädchen, das Bild trug er bei sich —«

»Ich kenne sie.«

»Das sagte er. – Du hast ihr gefallen . . . er hielt für sie um deine Hand an.«

»Was?«

»Und bot eine runde Million und außerdem noch Zinsen – ich habe die Summe vergessen.«

»Und du?«

»Ich habe ihm erklärt, daß ich mich nicht mit Heiratsvermittlung befasse und es ablehne, dir seine Vorschläge zu übermitteln.«

»Das war die richtige Antwort«, sagte Werner. »Und gab er sich damit zufrieden?«

»Keine Spur; er erhöhte daraufhin die Million um 100.000 Mark und verdoppelte die Zinsen; stand auf, stellte sich breit vor mich hin und fragte: ›Was sagen Sie nun?‹ Ich stand auf und ging, ohne ihn zu beachten, aus dem Zimmer.«

»Und er?«

Der Alte zog die Schultern in die Höhe: »Ich weiß nur, als ich nach einer halben Stunde wieder ins Zimmer kam, war er nicht mehr da. – Aber im Ernst, Werner, obgleich ich weiß, daß es deinen Entschluß nicht ändert, hielt ich mich für verpflichtet, dir das heute zu sagen.«

Am selben Abend noch packte Werner seine Sachen und fuhr in einer Stimmung, die er seit Jahren nicht mehr an sich kannte, zu Luise.