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Viertes Kapitel
Was Günther in den ersten Jahren zu leiden hatte

Die nächsten Lebensjahre verliefen für Günther und Frida ohne besondere Erschütterungen.

Daß die Preise, die man für Leder, Decken und Konserven zahlte, immer weiter in die Höhe gingen, bewies der Luxus in der Berndtschen Lebensführung, die immer großartiger wurde. Für Günther wuchsen damit die Unbequemlichkeiten. Kaum hatte er sich an ein Kleidungsstück gewöhnt, so erschien Cäcilie schon wieder mit einem neuen im Arm. Wenn die braunen Kartons von den Lieferanten kamen, erfaßte Günther schon immer ein Grauen. Oft mußte er unter Fiffis Assistenz, die darin besondere Technik besaß, an einem Vormittag ein halbes Dutzend solcher Kleidchen anprobieren. Und Cäcilie fiel zu Günthers Entsetzen bei solcher Modeschau von einer Begeisterung in die andere.

»Sieht er nicht aus wie ein Prinz!?« war der Ausruf, der immer wiederkehrte. Und Fiffi, die von Günthers zweitem Lebensjahre an wieder Zivil trug, erwiderte dann stets:

»Gewiß! gnädige Frau! Wie aus dem Gesicht geschlossen!«

Das hatte zwar keinen Sinn, beglückte aber Cäcilie, die dann regelmäßig die Augen schloß und bedeutungsvoll mit dem Kopfe nickte. Was sie sich dabei dachte, war nicht ersichtlich. Denn da Günther nicht nur dem Namen nach männlichen Geschlechts war, so war an solchen Aufstieg durch eine Ehe nicht zu denken. Wäre Frida Berndts Tochter gewesen – dann freilich! Aber so!

Aber in dem Toilettenwechsel erschöpften sich die Peinigungen, denen Günther dank ʼdem Reichtum Berndts ausgesetzt war, nicht. Die modernen Sportwagen, in denen er seine Spazierfahrten machte, mochten für die Augen des Beschauers wohl ihre Reize haben. Aber derjenige, der drin saß, empfand anders. Und die Feinheit der Wagenfeder, auf die Cäcilie so stolz war, erweckte in Günther nur das ängstliche Gefühl, jeden Augenblick in die Höhe geschleudert zu werden.

Seine Haare waren kaum greifbar lang, da stellte Fiffi täglich Versuche an, ihm eine Frisur beizubringen, die sie an ihren früheren Chef erinnerte. Die Versuche waren qualvoll für Günther und erwiesen sich als Versuche am untauglichen Objekt.

Kam die Stunde der Ausfahrt, dann begann die Toilette, die ihren Höhepunkt darin erreichte, daß man ihm über die Händchen, die so gern frei in der Luft herumfuhren, dicke Fausthandschuhe stülpte. Überaus lästig empfand er sie und verwandte seine ganze geistige und körperliche Energie darauf, sie abzustreifen. Wohl dreißig Mal während einer Ausfahrt gelang es ihm. Aber ebenso oft zog Fiffi sie ihm mit einer Schnelligkeit, die er bestaunte, wieder auf. Und wenn er von seiner Spazierfahrt, deren Zweck es war, ihn zu erfrischen, heimkehrte, lag er erschöpft in seinen Kissen.

Alle vierzehn Tage wurde er photographiert. Der Blödsinn, mit dem man ihm dann ein freundliches Gesicht zu entlocken suchte, brachte ihn meist zum Weinen. Die Bilder waren dementsprechend. Aber in dem Riesenalbum mit der Aufschrift »Unser Heinz-Günther« fanden sie trotzdem Aufnahme. Jeder bekam dies Album vorgelegt und mußte die Heldenlaufbahn Heinz-Günthers bestaunen. Datum der Aufnahme und erläuternder Text standen darunter. »So sah unser Bubi an dem Tage aus, als er zum ersten Male ›Adda‹ sagte« – oder »Bubi machte zum ersten Male backe, backe Kuchen«. – Damit glaubten Berndts die geistige Entwicklung ihres Sohnes festzuhalten.

Das Schlimmste aber kam nach dem Schlafengehen. Schon wenn er gewaschen wurde, stieg ihm im Vorgefühl dessen, was ihn erwartete, der üble Geschmack auf. Er schloß den Mund und preßte die kleine Zunge wie zur Abwehr zwischen die Zähnchen. Aber es half ihm nichts. Emma hielt ihn, Fiffi öffnete gewaltsam seinen Mund und Cäcilie goß mit einem Porzellanlöffel den klebrigen Lebertran zwischen das Gehege seiner Zähne. Dann hielt man ihm noch eine ganze Weile den Mund zu, um ihn nach des Tages Qualen nachts über endlich sich selbst zu überlassen

Wie hätte er Frida beneidet, wenn er gewußt hätte, wie friedlich und still ihr Leben dahinging. Da gab es keine Kleiderschau: der Wagen, in dem sie lag, war altmodisch schon als Paul, der Erstgeborene, darin gefahren wurde. Für Handschuhe, Lebertran und anderen Luxus hatten Linkes weder Zeit noch Geld, noch Verständnis. Wenn Frida im Tiergarten in ihrem Wagen lag, bereiteten ihr weder Handschuhe, noch die moderne Feder des Wagens Beschwerden. Sie sah mit ihren dunkelbraunen Augen zu den Bäumen und zum Himmel empor und lachte, wenn sich die Zweige im Winde bewegten und die weißen Wolken über ihr hinzogen.

So kam es, daß sie gesündere Farbe hatte und daß man sie, im Gegensatz zu Günther, für ein freundliches Kind hielt. Dabei stopfte man nicht die teuersten Dinge in sie hinein, und sie blieb den ganzen Sommer über in Berlin, während Günther mit Berndts an die See und von der See aus ins Gebirge reiste. Da litt er mehr noch als zu Hause, da ihm Cäcilie im Konkurrenzkampf gegen andere herrschaftliche Kinder keine ruhige Stunde gönnte.

Frida kroch inzwischen unter Pauls Aufsicht ungeniert auf allen Vieren in Berndts Garten umher, den sie, wenn die Herrschaft da war, nicht betreten durfte. Sie zupfte Gras aus, spielte im Sande und war totmüde und rabenschwarz, wenn Emma sie abends ins Haus holte.

Als Günther und Frida sechs Jahre alt waren, schulten die Eltern sie ein. Günther kam in das Königliche Wilhelmsgymnasium, Frida in die zweiunddreißigste Gemeindeschule.

Während Frida in der schulfreien Zeit mit ihren Geschwistern im Tiergarten herumspielte und sich ihre Freundinnen nach eigenem Geschmack wählte, promenierte Günther an der Seite Fiffis, die sich gegen hohes Gehalt zur typischen Gouvernante entwickelt hatte, im Garten der Berndtschen Tiergartenvilla und pflegt Umgang mit Kindern, die Cäcilie hierzu für geeignet erklärte.

Günthers Geschmack traf sie dabei selten. Sie traf die Auswahl nach der sozialen Stellung und Vermögenslage der Eltern, Dinge, für die Günther keinerlei Verständnis hatte.

Ebensowenig reagierte er auf Musik, was wohl die Folge der zahllosen mechanischen Musikinstrumente war, mit denen man ihn in den ersten Jahren seines Lebens gepeinigt hatte. Er stand daher seiner Violine durchaus feindlich gegenüber.

Zweimal in der Woche erschien ein glattrasierter Maestro mit einer Riesenmähne, der auf den Namen Santo Bre hörte, und der ihn, für fünf Mark die Stunde, in die Geheimnisse der Violinkunst einzuweihen suchte. Indes vergebens!

»Barbar!« schalt er Günther und klopfte ihm mit dem Violinbogen auf die Finger. »Es ist eine Sünde, dir das heilige Instrument in die Hand zu geben. Steine sollten sie klopfen, diese seelenlosen Hände!«

So sprach der Glattrasierte zu Günther – und er sprach die Wahrheit.

Wenn aber Cäcilie während des Unterrichts hereinkam, um sich nach den Fortschritten ihres Lieblings zu erkundigen, dann warf er den Kopf zurück, daß die Künstlermähne in hellem Aufruhr in die Höhe fuhr, rieb die Fingerspitzen aneinander und rief:

»Oh! eminent! eminent! Joseph Joachim rediviuus! Musikalisch bis in die Fingerspitzen!«

Er nahm ihm die Violine ab und reichte Cäcilie Günthers Hand. – »Da! Fühlen Sie selbst!«

Cäcilie ließ Günthers Finger durch ihre Hand gleiten, schloß die Augen, zuckte leicht zusammen und sagte:

»Sie haben recht!«

Und Günther schwieg. Aus Furcht, die doppelte Zeit üben zu müssen.

»Wann wird er so weit sein?« fragte Cäcilie

»Sie meinen?« erwiderte der Maestro.

»Nun, um öffentlich . . .«

»Oh! ich will Ehre mit ihm einlegen!« unterbrach er sie. – »Alle Wunderkinder haben nachher enttäuscht, weil man sie zu früh herausbrachte. Aber über ihn wachʼ ich!« und er legte gütig wie ein Vater die Hand auf Günther.

»Was meinen Sie, wenn man ihm statt zwei, dreimal in der Woche . . .«

»Nein!«ʼ brüllte Günther.

»Ja!!« überschrie ihn der Maestro, »dann ginge es schneller.«

Und von dem Tage an hatte Günther dreimal wöchentlich Unterricht – zu fünf Mark die Stunde. In anderer Weise trat dies Mehr nicht in die Erscheinung. Cäcilie und Leo aber stritten sich, ob dies Künstlertum ihm von väterlicher oder mütterlicher Seite überkommen war. —

Der jeweilige Ordinarius gab ihm Nachhilfestunden. Das Fach spielte dabei keine Rolle. Entscheidend waren die Konserven, die Qualität des Leders und der Decken, die man dank dieser Verbindung zum Engrospreis von Herrn Berndt bezog – zu zahlen vergaß und, wenn der eigene Bedarf gedeckt war, an gute Bekannte weiter verkaufte. Auf Zensur und Versetzung übte das jedenfalls seine Wirkung. Nur Günthers Kenntnisse wurden dadurch nicht erweitert.

Da war der französische Unterricht, den Fiffi erteilte, denn doch eine andere Sache.

Fiffi war, bevor sie die seidenen Froufrous mit dem Spreewälderkostüm vertauschte, tatsächlich mehrmals mit ihrem Chef zum Einkauf und so in Paris gewesen. Von jeder dieser kleinen Reisen brachte sie ein paar Brocken Französisch mit nach Haus, die sie als eisernen Bestand in ihren Sprachschatz aufnahm.

Das ging bei Berndts Anspruchslosigkeit gegenüber allem, was Günther anging, eine Zeitlang. Wenn es klopfte und er auf Fiffis Wink hin »Entrez« rief oder »sʼil vous plait« sagte, wenn er bei Tisch etwas forderte, so sahen sich Leo und Cäcilie gerührt an. So etwas genügte für ein paar Wochen, dann flaute die Wirkung ab und Berndts erwarteten neue Überraschungen.

Aber Fiffis Vorrat reichte nicht lange, und als er verbraucht und der Versuch, die alten Beziehungen zu ihrem Chef wieder aufzunehmen, gescheitert war, offenbarte sie sich Cäciliens Bruder, der nicht nur Referendar und ein netter Kerl war, sondern auch Humor hatte und schon längst zu Fiffi neigte.

Referendar Alfred besaß Langenscheidts Sprachlehre in vierundzwanzig Lieferungen, die seit vielen Jahren unbenutzt in seinem Schranke stand. Und da er klug genug war, zu erklären, daß er sie nicht aus dem Hause gäbe, so blieb Fiffi nichts anderes übrig, als sich zu ihm zu bemühen.

 

Er brachte ihr während ihres Besuchs in angenehmer Art immer nur so viel bei, wie bei Berndts bescheidenen Ansprüchen für eine Woche nötig war. Und in dem Maße, in dem mit dem Alter Günthers Aufnahmefähigkeit zunahm, nahmen auch die Beziehungen zwischen Fiffi und dem Referendar einen immer innigeren Charakter an. Denn bald reichte der wöchentliche Besuch für das, was Günther an französischer Sprache konsumierte, nicht mehr aus. Fiffi war gewissenhaft, zog die Konsequenzen und kam häufiger.

Und als diese Beziehungen Berndts gegenüber nicht mehr zu leugnen waren, erhielt Fiffi ganz offiziell, und zwar in Gegenwart des Dienstpersonals, die Erlaubnis, Herrn Referendar Alfred, der sich angeblich für vergleichende Rechtswissenschaft interessierte und gerade mit dem Studium des Code Napoleon beschäftigt war, »zur Vervollkommnung in der französischen Sprache« Nachhilfeunterricht zu erteilen.

Und zwar im Hause des Referendars. Denn als Cäcilie des Geredes der Leute wegen das für bedenklich hielt, warf sich Fiffi in die Brust, die sie noch von der Zeit des Spreewälderkostüms her mit besonderem Stolze trug, rief: »Honny soit, qui mal y pense« und stellte die Kabinettsfrage.

Und Cäcilie, die nicht einzugestehen wagte, daß sie das nicht verstand, erklärte sich für überzeugt und sagte:

»Dann allerdings. Das ist was anderes!« und erteilte die Erlaubnis.

Daß Günther auf dem Gymnasium trotz dieser privaten Vorstudien gerade im Französischen hinter den Leistungen der Klasse zurückblieb, war für Berndts ein Rätsel, zu dessen Lösung Fiffi auf Befehl Cäcilies den Lehrer, der den französischen Unterricht erteilte, aufsuchte.

Fiffi wußte, es ging um ihr Prestige. Sie ließ alle Künste springen. Und obgleich der Oberlehrer Sasse so gar nicht das war, was Fiffi liebte, so war das Resultat doch ein ständiger »Gedankenaustausch« zwischen beiden, der ausgezeichnete Erfolge brachte. Denn zu Michaelis ging Günther, statt mit einer Admonition im Französischen, mit dem Prädikat »gut« in die Quinta über.

Fiffi erhielt Gehaltserhöhung.

»Woran lag es nur?« fragte Cäcilie.

»Sehr einfach,« erwiderte Fiffi, »Professor Sasse hatte seine Studien in Bordeaux betrieben, ich in Paris.«

»Ja – und?«

Fiffi war erst um die Antwort verlegen. Dann aber meinte sie:

»Wir haben uns auf der mittleren Linie geeinigt.«

»Dann ist ja alles gut,« sagte Cäcilie.

Denn das hatte Fiffi längst heraus, daß Cäcilie, aus Scheu, sich zu blamieren, alles billigte, was sie nicht begriff.

Von dieser Schwäche machte Fiffi ausgiebigen Gebrauch.

Das eigentliche Regime im Hause aber führte Linke.

Nach außen freilich trat das nicht in die Erscheinung. Denn Linkes wahrten die Distanz, die sie Röhrens gegenüber als etwas Natürliches empfunden hatten, auch ihrer neuen Herrschaft gegenüber. Nur, daß ihrer Ehrerbietung die Ehrfurcht fehlte und sie nicht frei von Ironie war.

Das trat am deutlichsten zutage, als Berndts ihr erstes Diner im neuen Stil gaben, und Franz nicht nur bei der Zusammenstellung des Menus, der Auswahl der Weine und Zigarren half, sondern auch bei der Tischordnung und allen anderen Fragen des gesellschaftlichen Taktes das entscheidende Wort sprach.

Günther lag damals noch in den Windeln und wurde zwischen der süßen Speise und dem Käse gereicht. Das heißt, nur ein paar Stühle weit. Denn seine Kunst, sich derartigen Ovationen durch Äußerungen, die beredter waren, zu entziehen, übte er schon damals mit Erfolg.

Immerhin muß anerkannt werden, daß Berndts gelehrige Schüler waren und sich schon in wenigen Jahren ohne grobe Verstöße sicher auf dem Parkett der neuen Gesellschaft bewegten. Zwar war das nicht übermäßig glatt, und man konnte auch ruhig einmal ausrutschen, ohne darum gleich Gefahr zu laufen, daß man ausgeschlossen wurde. Jedenfalls wurden die Fälle, in denen sie Linkes Rat bedurften, immer seltener. —

Eines Tages trat Cäciliens Bruder, der längst Assessor geworden, dabei aber doch ein netter Kerl geblieben war, vor Fiffi hin und bekannte, daß er mit einer Nichte seines Schwagers Leo verheiratet werden solle. Und er bekannte: da er finanziell von Leo abhängig, an ein gutes Leben gewöhnt und zudem nicht schuldenfrei sei, so bliebe ihm keine Wahl.

Fiffi war weltklug und sah das ein. Auch auf die übliche Szene verzichtete sie. Die Langenscheidtsche Sprachlehre in vierundzwanzig Lieferungen, die trotz des jahrelangen Verkehrs der beiden jungen Leute kein Buchhändler für antiquarisch angesprochen hätte, wanderte in den Schrank zurück. Der Unterricht, und was mit ihm zusammenhing, hörte auf.

Eine Woche später verlobte sich Fiffi mit dem Oberlehrer am Königlichen Wilhelmsgymnasium – Professor Sasse. Da der damals gerade Günthers Ordinarius war, so nutzte Cäcilie die Konjunktur und feierte die Verlobung in ihrem Hause. Die Rückwirkung zeigte sich zu Weihnachten. Günther erhielt eine Prämie, die nach der Zensur nicht eben   überzeugend war.

Um diese Zeit etwa fing auch Günther an, nachzudenken und sich über seine Handlungen und die seiner Mitmenschen Rechenschaft zu geben.

Fünftes Kapitel
Wie sich der Familienrat konstituierte

Das mit dem Familienrat hatte Cäcilie aus dem Roman einer illustrierten Zeitung. Irgend ein Fürst mit hochtönendem Namen hatte da die männlichen Mitglieder seines Geschlechtes zusammenberufen, um über Maßnahmen gegen seinen Sohn, der entartet war und freiheitlichen Anschauungen huldigte, zu beraten. Das hatte auf Cäcilie gewaltigen Eindruck gemacht.

»Gewiß, so was ist ja ganz schön!« hatte Leo gesagt, als Cäcilie ihn mit diesem neuen Spleen plagte. »Aber wo nehmen wir schon die Mitglieder dieses Familienrates her?«

»Für Geld kriegt man alles,« erwiderte Cäcilie. »Auch einen Familienrat. Einfach ein Inserat.«

»Was heißt das?«

»Etwa so: Zwecks Gründung standesgemäßer Institution sucht erste Familie Damen und Herren von altem Adel gegen hohen Salair.«

»Das ist unmöglich!«

»Wenn du glaubst, daß du es besser machst – bitte!« – Und sie schob ihm Papier und Bleistift hin.

»Der Witz eines Familienrats,« erklärte Leo. »besteht darin, daß er sich aus Mitgliedern der Familie zusammensetzt. Gehʼ deine Familie durch! In meiner ist niemand, der sich dazu eignet.«

»Alfred.«

Leo nickte mit dem Kopf.

»Er als Assessor – allerdings, das ginge!«

»Und seine junge Frau geht auch. Beate ist so fein wie wir.«

»Gehören denn Frauen auch in den Familienrat?«

»Einen Augenblick!« rief Cäcilie. »Ich will ʼmal nachsehn.« Sie suchte die illustrierte Zeitung, fand sie, blätterte, las. Dann verzog sie das Gesicht. »Hiernach nicht. Aber was geht das uns an? Wir machenʼs eben.«

»Du mußt ja wissen.«

»Na, und dann Fiffi und ihr Mann! Prima!!«

»Die gehören doch auch nicht zur Familie.«

»Wenn schon. Das weiß kein Mensch. Sie sieht gut aus und er ist Professor.«

»Und ihre Vergangenheit?«

»Sie hat keine.«

»Soo?«

»Die haben wir ihr angedichtet.«

»Sooo?«

»Du meinst doch die Amme?«

»Ich meine überhaupt.«

»Lächerlich! Wer weiß das?«

»Du hast recht! Was gehtʼs uns an? Wir wissen von nichts. – Also das wären wir beide, Alfred und Frau und Professors.«

»Ist das genug?«

Cäcilie blätterte wieder in dem Roman und verzog wieder das Gesicht.

»Hier sindʼs neun!« sagte sie. »Aber wie wäre es mit Röhrens?«

»Wie kommst du ausgerechnet auf die?«

»Nu, ich meinʼ nur.«

»Wir haben sie eingeladen, und sie sind weder gekommen, noch haben sie die Einladung erwidert.«

»Wenn du so peinlich bist, werden wir nie zu einem standesgemäßen Verkehr kommen.« Leo ging den Verkehr durch und Cäcilie lehnte alle ab.

»Es ist schon schlimm genug, daß man solche Leute zum Umgang hat,« sagte sie. »Sie aber auch noch in den Familienrat zu nehmen, wäre lächerlich. – Da fällt mir ein, du hast doch da das Theater finanziert.«

»Ja, und?«

»Nu, zum mindesten könnte man doch den Direktor . . .«

»Gewiß! Er ist zwar in erster Linie Komiker. Immerhin: er hat als Künstler Renommee.«

»Und sieht gut aus.«

Sie setzte sich an den Schreibtisch, nahm einen der Geschäftsbogen, tauchte die Feder ein und schrieb. Dann reichte sie Leo den Brief:

»Da lies!«

Leo Berndt      Finanzierungen jeder Art
Privat      Telegrammadresse: Finanzgenie
Sehr verehrter Herr Direktor!

In einer höchst persönlichen Angelegenheit möchte ich mich Ihres Rats bedienen und bitte um sofortigen telephonischen Anruf.

Mit bestem Gruß

Cäcilie Berndt
i.F. Bernd & Tie.
Leder-Decken-Konserven-en gros.

»Laß das mit der Maschine abschreiben, das macht sich besser als mit der Hand.«

»Und über was soll dieser Familienrat beraten?« fragte er.

Cäcilie erschrak.

»Du hast recht! Daran habe ich nicht gedacht! Worüber soll er?«

»Vielleicht über Günthers Zukunft?«

»Ausgezeichnet! Da können wir dann auch den Maestro hinzuziehen.«

»Wie du meinst.«

»Natürlich! Der behauptet ja, Günthers Zukunft liege auf der Musik.«

»Hältst du das für praktisch?«

»Was?«

»Ich meine, das ist doch kein Beruf: Musik!«

»Eben darum! Das ist ja gerade das Vornehme. Unser Sohn braucht keinen Beruf. Das ist der Luxus, den wir uns erlauben können.«

»Und mein Geschäft?«

»Es ist nicht jeder ein Finanzgenie. Bei ihm ist das Genie eben auf die Musik geschlagen.«

»Dann wird nichts anderes übrig bleiben, als aus Berndt & Tie. eine Aktiengesellschaft zu machen.«

»Nu und?«

»Gewiß! Mit dem Gedanken trage ich mich schon lange.«

»Also! – Und Günther wird natürlich Vorsitzender des Aufsichtsrats.«

»Ohne eine Ahnung von geschäftlichen Dingen zu haben?«

»Grade! Umso weniger Schwierigkeiten wird er den Direktoren in den Weg legen.«

»Na, vorläufig scheint mir ʼmal wichtiger, daß er Michaelis nach Unter-Sekunda kommt.«

Acht Tage später trat der Familienrat zu seiner ersten Sitzung zusammen. Cäcilie führte den Vorsitz. Es war genau alles wie in dem Roman der illustrierten Zeitung.

In der Mitte des Herrenzimmers stand der große, runde Tisch, auf dem ein Riesenperser lag. Um den Tisch herum waren acht Ledersessel aufgestellt. Alle gleich groß. Nur einer ragte hervor. Seine Lehne war doppelt so hoch, sein Sitz beinahe noch ʼmal so breit wie die der andern. Und auf dem Sessel saß, thronte Cäcilie.

Da allen Teilnehmern ein pünktliches Erscheinen ans Herz gelegt war, so kamen sie beinahe gleichzeitig. Zwei Diener nahmen ihnen die Sachen ab und öffneten die Tür zum Herrenzimmer.

Cäcilie empfing sie mit feierlicher Miene, und Leo, der links von ihr saß, wies jedem seinen Platz an. Zeit zur Unterhaltung oder Fragen zu stellen blieb ihnen nicht.

Leo stellte sie einander vor.

Alfred, der Assessor, der noch immer ein netter Kerl war, und Fiffi, die als Frau des Oberlehrers Professor Sasse zwar ein bißchen versimpelt aussah, im übrigen aber noch immer ein wenig hautgout war, taten, als hätten sie sich nie gesehen. Trotzdem benutzte Fiffi die erste Gelegenheit, um Alfred durch eine mokante Geste ihr abfälliges Urteil über seine Frau, die auf den Namen Beate hörte, zu erkennen zu geben.

Beate saß dem Maestro gegenüber. Und der Maestro, der gewohnt war zu siegen, fand nichts Ungewöhnliches dabei, daß Beates schwarze Augen von ihm Besitz ergriffen und ihn nicht mehr losließen.

Der kleine runde Direktor der Residenzbühne, der mitten in den Proben zu einer Operette steckte, war nur gekommen, weil er – Geld brauchte.

Der Oberlehrer Professor Sasse, der mit einer der großen Berndtschen Abfütterungen gerechnet hatte, war nicht wenig erstaunt, statt an eine gedeckte Tafel an einen Tisch genötigt zu werden, dessen Aussehen ihn mehr an eine seiner Lehrerkonferenzen als an ein Symposion erinnerte.

Weiter kam keiner in seinen Betrachtungen, denn jetzt reckte sich Cäcilie – genau wie Arthur Reichsgraf von Donnersbruck es im Roman der illustrierten Zeitung getan hatte – in ihrem Sessel in die Höhe, schlug die große Ledermappe auf, klopfte mit einem Bleistift von einem viertel Meter Länge auf den Tisch und begann:

»Wir wollen zusammenhalten!«

Das verstand keiner, und jedem drängte sich die Frage auf: Gegen wen?

Cäcilie gab die Erklärung und fuhr fort:

»Wenn auch nicht durch Bande das Blutes miteinander verbunden, so hält uns doch das gemeinsame Interesse für die Zukunft eines wertvollen Menschenlebens zusammen.«

 

Die Gesichter wurden nicht schlauer. Der Oberlehrer Professor Sasse rückte sich zurecht und bereitete sich auf eine patriotische Kundgebung vor. Nur der Maestro, von dem Beate inzwischen völlig Besitz ergriffen hatte, ahnte, daß es um Günther ging. Und richtig.

»Die Liebe zu unserem Sohne,« fuhr Cäcilie fort, und der Oberlehrer Professor Sasse zog die Brust wieder ein, »läßt es uns wünschenswert erscheinen, in allen für seine Zukunft wichtigen Fragen Ihr Urteil zu hören. Es ist daher unser Wunsch, diesen Familienrat, der heute zum ersten Male tagt, zu einer ständigen Institution« – dies Wort, auf das sie stolz war, bereitete ihr Schwierigkeiten – »zu machen.«

»Das könnte mir fehlen!« dachte der Professor. Als er aber draußen Gläser klirren hörte, sagte er sich: »Wer weiß!« Und der Geschmack des 93er Haut Brion, den es stets bei Berndts zu trinken gab, legte sich ihm auf die Zunge.

Der Maestro dachte: »Mir kannʼs recht sein.« Denn sein Entschluß, fünf Mark für die Stunde zu liquidieren, stand längst fest.

»Das trifft sich ja ausgezeichnet!« dachte der Direktor. »Manus manum lavat!« Und er rieb sich die Hände.

Beate dachte an die so geschaffene ständige Verbindung mit dem Maestro, blinzelte ihm verständnisvoll zu und lachte.

In Fiffi, die vom ersten Tage der Ehe an Vergleiche zwischen dem Oberlehrer, ihrem Gatten, und Alfred, dem Assessor, gezogen hatte, siegte die Erinnerung über die Gegenwart. Und auch in Alfred hatte Langenscheidts Sprachlehre in vierundzwanzig Lieferungen, die vorn an in seiner Bibliothek stand, die Erinnerung an Fiffi wachgehalten. Von der toten Sprachlehre zur lebendigen Wirklichkeit zurückzukehren, schien ihm, je mehr er zu Fiffi hinäugte, umso erstrebenswerter.

So konnte Cäcilie denn auf allen Gesichtern Bereitwilligkeit feststellen. Und wenn sie deren Ursache auch fälschlicher Weise als Interesse für Günther deutete, so erwirkte sie doch, was sie wollte: den einmütigen Beschluß, daß die Gesellschaft sich als Berndtscher Familienrat konstituierte. Einmal monatlich, schlug Cäcilie vor, mit anschließendem Souper. Und die Gesellschaft beschloß dem Antrage gemäß.

Nachdem so die Gründung erfolgt war, trat man in den geschäftlichen Teil der Tagesordnung, auf der als einziger Punkt: »Günthers Zukunft« stand.

»Um was es sich dabei handelt,« begann Cäcilie, »wird euch allen, die ihr Gelegenheit hattet, unsere Verhältnisse und den Aufschwung der Firma Berndt & Tie., kennen zu lernen, ohne weiteres klar sein. Mit dem Engroshandel von Leder, Fellen, Konserven und Finanzierungen großen Stils ist das Riesenvermögen verdient, das wir nun der deutschen Kultur nutzbar machen wollen.«

Alle dachten an eine große Stiftung und berichtigten ihr Urteil über Berndts – soweit sie eins hatten. Besonders der Oberlehrer Professor Sasse schob wieder seine Brust heraus und rief: »Bravo!«

Beate, die längst nicht mehr zuhörte, erschrak, zog erst die Beine, dann den Stuhl zurück.

»Denn,« fuhr Cäcilie mit erhobener Stimme fort, »Günther wird nicht, wie das in anderen Familien üblich ist, in die Firma eintreten. Sein Leben wird der Kunst gewidmet sein!«

Jetzt schob auch der Maestro, der Beate gegenüber saß, seinen Stuhl zurück und dachte: »Allmächtiger!«

Schon wies die Hand Cäciliens auf ihn.

»Da!« rief sie. »Fragt den Maestro! Einen gottbegnadeten Künstler hat uns der Himmel in unserem einzigen Sohne beschert.«

Fiffi war, was man so musikalisch nennt. Es war nicht weit her. Immerhin, sie hatte ein wenig Gehör und ein bißchen Stimme. Sie sang Lieder zur Laute. Und für den Hausgebrauch reichte es aus, zumal die Pose, in der sie sang und spielte, und die Art, in der sie die feinen Finger setzte, reizvoll war und nicht eben kritisch stimmte. Soviel aber wußte auch sie, die damals noch im Hause war, daß die Versuche des Maestro, Günther in die Anfangsgründe der Musik einzuführen, sich als Versuch am untauglichen Objekt erwiesen hatten. Es war daher die natürliche Reflexion ihrer Gedanken, wenn sie auf die Eröffnung Cäciliens hin laut rief:

»Nicht möglich!«

»Bitte, keine Zwischenrufe!« forderte Cäcilie. »Wer etwas zu sagen hat, der melde sich bei mir zum Wort. Das dürfte in diesem Fall zunächst wohl der Maestro sein, der euch sagen wird, wie er sich die künstlerische Laufbahn Günthers denkt. Im Anschluß daran mag dann die Diskussion einsetzen.«

Der Maestro wurde unruhig, räusperte sich, fuhr sich erst mit der rechten, dann mit der linken Hand durchs Haar, fühlte, wie aller Augen auf ihm ruhten, setzte sich in den Sessel zurück, stützte den rechten Daumen auf den Tisch, nickte mit dem Kopf und sagte: »Gewiß!«

Das war für Cäcilie eine Erlösung. Und der Maestro, zu dem noch immer alle aufsahen und der sich bewußt war, daß es mit diesem »Gewiß« nicht getan war, fuhr fort:

»Ich bin kein Freund von Wunderkindern. Die Erfahrung lehrt, daß sie in den seltensten Fällen die Hoffnungen, zu denen sie in früher Jugend berechtigen, erfüllen. Sie versagen meist schon in einem Alter, in dem die Entwicklung des normalen Künstlers längst noch nicht abgeschlossen ist. Daher sind mir Schüler wie Günther lieber, die langsam, aber für das Auge des Künstlers sichtbar vorwärts schreiten. Darum glaube ich an Günther, und darum billige ich den Entschluß der Familie.«

Man sah sich an. Hatte man doch eine Hymne auf Günthers ungewöhnliches Talent erwartet. Denn das allein rechtfertigte Cäciliens Entschluß. Stattdessen erfolgte eine nüchterne, unverbindliche Erklärung; die nichts besagte. Das rief den Oberlehrer Sasse auf den Plan.

»Ich bitte ums Wort!« rief er.

Cäcilie nickte. Der Professor stand.

»Zur materiellen Prüfung des Falles fehlt mir das musikalische Verständnis. Indes: was der Maestro sagte, überzeugt mich nicht. Die Quintessenz seiner Rede ist: Wunderkinder erwecken Hoffnungen. Erfüllen sie sie nicht, so enttäuschen sie. Günther ist kein Wunderkind, erweckt daher auch keine Hoffnungen und kann daher auch nicht enttäuschen.«

»Sehr richtig!« sagte Alfred, und Cäcilie rief:

»Keine Zwischenrufe, bitte!«

»Mit demselben Rechte,« fuhr der Professor fort. »kann man dafür plädieren, Günther Dichter, Maler . . .«

– Cäcilie strahlte. —

». . . Schuster oder Schneider werden zu lassen.«

»Entsetzlich!« schrie Cäcilie und hielt sich die Ohren zu.

Aber der Professor ließ sich nicht beirren.

»Nirgends« – fuhr er fort – »ist der Dilettantismus unerträglicher als in der Kunst. Wenn ich daher um meine Meinung gefragt werde und damit ein Teil Verantwortung auf mich nehme, dann muß mir, soll ich dem Antrage zustimmen, auch die Überzeugung beigebracht werden, daß Günthers Anlagen den Entschluß rechtfertigen.«

Alle nickten. Nur der Maestro zog die Stirn in Falten und rückte unruhig auf seinem Sessel umher.

Der Direktor bat ums Wort.

»Ich stimme dem bei,« sagte er, »und meine, Günther soll uns was vorspielen, damit wir uns überzeugen . . .«

»Nein!« rief der Maestro und klopfte mit dem Daumen auf den Tisch.

»Warum nicht?« fragte der Direktor.

»Weil ich ein Feind von Schaustellungen jeder Art bin, ehe das Studium abgeschlossen ist.«

»Das ist keine öffentliche Schaustellung,« widersprach der Direktor, »sondern eine Selbstverständlichkeit. Ich beantrage Abstimmung.«

»Ich widerspreche!« rief der Maestro, und Beate platzte heraus: »Ich auch.«

Alfred sah sie erstaunt an.

»Wieso du?« fragte er.

Beate errötete, senkte den Kopf und sagte nichts mehr.

Aber sie stimmte als Einzige neben dem Maestro mit »nein«.

»Wer von den Anwesenden hält sich denn für kompetent, ein derartiges Urteil abzugeben?« fragte der Maestro, der die Katastrophe noch immer abzuwenden suchte.

»Ich!« erwiderte der Direktor.

»Sie sind Coupletsänger, soviel ich weiß.«

Der Direktor sprang auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und rief:

»Was fällt Ihnen ein! Ich bin Theaterdirektor und in meinem Fach eine Kanone. Ich verdiene an einem Gastspielabend mehr als Sie mit Ihrer Kratzerei im ganzen Jahr!«

»Was für den schlechten Geschmack des Publikums zeugt.«

»Mein Herr!« raste der Direktor. Dann wandte er sich an Cäcilie. – »Ich bitte Sie, mich gegen die Insulten dieses Geigenlehrers, die mich natürlich nicht kränken können, in Schutz zu nehmen.«

Cäcilie war in höchster Verlegenheit.

»Gewiß!« sagte sie. »Das geht ja nicht . . .«

Aber der Maestro überschrie sie.

»Ein Mann, der allabendlich für Geld blöde Chansons singt und noch blödere Tänze aufführt, ist ein Harlekin, aber kein Künstler.«