Das Liebesleben eines deutschen Jünglings

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Unsere Wirtstochter mochte wohl eine stark sinnlich beanlagte junge Dame sein. Das zeigte sich mir eines Tages in mich recht überraschender Weise. Es war am Abend; ich hatte mich zum gemeinsamen Abendbrot verspätet. An der Wand gegenüber von der Flurtür, durch die ich eintrat, stand ein Sofa, auf dem, am runden Tisch, die Pensionsmutter und ihre beiden Töchter saßen. Ich nahm an einem kleinen, unweit der Tür stehenden Tische Platz, auf dem schon mein Abendbrot stand. Tiefes Schweigen herrschte; die drei weiblichen Wesen waren mit Lektüre beschäftigt. Da plötzlich sah ich, wie die ältere Tochter ihre Hand unter den Tisch sinken ließ und verstohlen ihren Rock langsam hinaufzog, fast bis zum Knie. Mir war's ein berauschender Anblick. Ein bildschönes, geradezu ideal geformtes Bein (sie mochte sich dieses Vorzugs wohl bewußt sein) enthüllte sich im hellen Strumpf meinen still bewundernden Blicken.

Ein, zwei Minuten dauerte meine geheime Lust. Dann fiel der Rock wieder hinab, aber der Eindruck, den dieses kleine Erlebnis auf mich gemacht hatte, hielt noch lange vor. Auf einsamen Spaziergängen zauberte die Erinnerung mir das Bild immer wieder vor die Seele; meine aufgeregte Phantasie malte mir ähnliche Erlebnisse; wie im Traum ging ich umher und sah auf Feldern und Wiesen kurzgeschürzte Landmädchen bei der Arbeit.

Dieser sinnliche Rausch, den meine Umgebung wie die natürliche Stimmung der Pubertätszeit immer wieder nährte, erfuhr eine Unterbrechung durch neue Eindrücke. Die Hundstagferien waren gekommen und es war von meinen Eltern bestimmt worden, daß ich die Ferienzeit, wie schon so oft, bei unseren Verwandten in Pommern zusammen mit meinen Geschwistern verleben sollte. Unweit von Stargard besaß der älteste Bruder meiner Mutter ein Rittergut, das er von seinem Vater ererbt hatte, hier haben wir Kinder schöne Tage voll Freiheit, in reiner ländlicher Luft, in starker körperlicher Bewegung verlebt. Wie ein Beruhigungs- und Heilmittel wirkte das gesunde Landleben auf meine erhitzten Sinne. Onkel und Tante empfingen uns, wie immer, mit liebenswürdigster Gastfreundlichkeit. Hier herrschte ein anderer Ton als im elterlichen Hause, wo die Gegenwart des ernsten, strengen Vaters jede laute, geräuschvolle Fröhlichkeit dämpfte und oft erstickte. In dem mehrere Morgen großen Garten und park, draußen auf den Feldern, auf Wiesen und im Wald konnten wir uns nach Herzenslust austoben. Die Hauptcharakterzüge des behäbigen, gemütlichen Onkels August waren eine herzliche, unversiegliche Gutmütigkeit und ein schlichter natürlicher Sinn. Unter meines Vaters Erziehungsgrundsätzen stand an erster Stelle die Pflicht unbedingten Gehorsams und eines tiefen heiligen Respekts vor der Autorität der Eltern, vornehmlich aber des Vaters. In unserer Familie gab es nur einen Willen, den des Vaters, dem sich alle, auch die Mutter, ohne jeden Versuch eines Widerstandes zu fügen hatten. Nie habe ich erlebt, daß meine Mutter auch nur den leisesten Widerspruch gegen eine vom Vater getroffene Bestimmung gewagt hätte. Nie fand vor uns Kindern auch nur der geringste Wortwechsel zwischen den Eltern statt. Und uns Kindern wäre es auch nicht einmal im Traum eingefallen, dem Vater zu widersprechen. Ja, wir wagten kaum in seiner Gegenwart den Mund zu öffnen, wenn wir nicht gefragt waren. Gewissermaßen wie eine göttliche Macht und Vorsehung thronte er über uns; sein Wille war uns unverletzliches, heiliges Gebot. Auf der anderen Seite aber sorgte er für unser körperliches Wohlbefinden ebenso liberal und gewissenhaft wie für unser geistiges Vorwärtskommen. Nie war ihm in dieser Hinsicht eine Ausgabe zu groß, und wenn wir in der Schule einigermaßen gut bestanden, so erwies er sich auch gegen unsere Wünsche willfähig und freigebig.

Mit vollen Sinnen genoß ich in Gesellschaft meiner Geschwister und meiner beiden Vettern (Töchter besaßen meine Verwandten nicht) das frische, freie Landleben. Den ganzen Tag waren wir draußen im Hof, Garten, Feld und Wald. Tagtäglich wurde gebadet, Reitversuche wurden unternommen und neue Freundschaften mit den Kindern und Besuchern auf den Nachbargütern geschlossen. Es herrschte unter den Gutsbesitzern und Pächtern eine ebenso schlichte wie herzliche Gastfreundschaft. Des Sonntags fuhr man stets irgendwohin. Es machte auf uns Stadtkinder immer einen halb komischen, halb rührenden Eindruck, wenn wir, die wir an die steifen Verkehrsformen des städtischen Lebens gewöhnt waren, sahen, daß die alten Gutsherren einander bei solchen Besuchen zur Begrüßung herzlich umarmten und küßten. Der alte Pastor Gerloff von einem der Nachbardörfer, der mit Frau, Tochter und Sohn unter den regelmäßigen Besuchern war, ging auch an uns fremden Kindern nicht vorüber, ohne jeden von uns mit einem Kuß zu begrüßen.

Während die älteren Herren sich in einem weiter abgelegenen Zimmer zum Boston oder L'hombre niederließen, suchten wir junges Volk zunächst stets den Garten auf, um uns hier an ländlichen Spielen zu vergnügen.

Auf dem nächsten Gute, der königlichen Domäne Luisenfließ, war es, wo ich von neuem mein Herz verlor und ich mich sterblich in die liebliche blonde Tochter des Oberamtmanns Schmitz verliebte. Ich sehe das fünfzehnjährige große schlanke Mädchen noch vor mir, mit den lieben freundlichen Blauaugen, mit dem so liebenswerten, ungemein sympathischen, natürlicher Herzenswärme entquellenden Wesen. Ich hatte sogleich bei der ersten Begegnung den Eindruck, daß ich ihr ebenso gefiel wie sie mir. Mit hochklopfendem, beseligten Herzen empfanden wir, wie sich zarte Fäden zwischen uns anspannen. Abgefallen war alles Sinnliche, Unreine von mir, was während der ersten Monate in Küstrin so bezwingend, betäubend von mir Besitz genommen. Ich war wieder ganz der ideale Schwärmer; die irdischen, allzu irdischen Regungen waren ganz der frommen Anbetung, dem wunschlosen, heiligen Gefühl selbstloser, innigster Herzensneigung gewichen. So oft ich dem geliebten Mädchen in diesen vier Wochen begegnete, gesellten wir uns sofort zueinander, und wenn wir auch wenig miteinander sprachen, es war uns beiden schon köstlichste Seligkeit, uns einander nahe zu fühlen, uns verstohlen die Hand zu drücken und glückberauscht zärtliche Blicke zu täuschen.

Die größte Rolle bei diesen ländlichen Besuchen spielte natürlich der Tanz am Abend. Wie haben wir doch geschwelgt, Johanna Schmitz und ich im Polka, im Walzer und im Galopp. Zart den Arm um das geliebte Mädchen geschlungen, während ihr Atem meine Wangen fächelte, ihr Blondhaar meine Stirn streifte, fühlte ich mich so unbeschreiblich glücklich, daß mir fast das ganze Herz zerspringen wollte.

Heilige Gelübde durchschauerten meine Seele: Immer, immer würde ich Johanna lieben, ihr teures Bild würde mich überallhin begleiten und alles häßliche aus meiner Nähe scheuchen, und jeden Augenblick würde ich bereit sein, ihr zuliebe alles, auch das schwerste und höchste, zu vollbringen.

Ach, wie bald bist du verflogen, schöner, reiner Jugendenthusiasmus! Andere weibliche Gestalten traten in mein Leben und entzündeten heißere, wildere Gluten in mir. Damals ahnte ich noch nicht, wie nahe ich dem verhängnisvollen Moment war, wo sich mir das Wesen der Geschlechtlichkeit enthüllte. Die irdische erstickte auf lange Zeit die himmlische Liebe.

Nach dem beglückenden, herrlichen, poesievollen Liebestraum empfand ich das tägliche Leben mit seiner verdrießlichen Prosa, die öde, jeden seelischen Schwung lähmende Schulfuchserei mit verdoppelter Unlust. Unter den pedantischen Schulmeistern war nur ein einziger, der es verstand, dem Unterricht belebende Geistigkeit, die Phantasie anregende, begeisternde Wirkung zu verleihen. Dies war unser Geschichtslehrer, ein freundlicher Mann von urbanem Wesen, mit prächtiger Rednergabe, wenn er uns einen Vortrag hielt, in schöner Sprache, mit hinreißendem Temperament und innerer Anteilnahme die geschichtlichen Vorgänge und Charaktere schildernd, hingen wir alle voll Aufmerksamkeit und tiefem Interesse an seinem Munde. Ich erinnere mich, daß ich mich besonders für Catilina begeisterte. Während mich Ciceros philiströse Reden langweilten und mit ihrem leeren Pathos nur Widerwillen in mir erzeugten, begeisterte ich mich an Sallusts Beschreibung der berühmten Verschwörung. Und meine Anteilnahme ging bei mir, dem trägen Schüler, der seine Arbeiten oft erst in den Pausen zwischen den Unterrichtsstunden anfertigte, so weit, daß ich zu Hause voll Eifer über Sallust saß und sogar eigene Anmerkungen zum Text machte. Überhaupt, die lateinische Sprache war mir sympathisch, während mir die griechische viele Schwierigkeiten bereitete und nur wenig Interesse einflößte. Schon als Quartaner hatte ich seinerzeit begonnen, eine Geschichte des römischen Reiches in lateinischer Sprache zu schreiben. Freilich, über die Anfangskapitel bin ich nicht hinausgekommen, von der griechischen Literatur interessierte mich nur Homer, dagegen war mir Sophokles ein Greuel. In Obersekunda verstieg ich mich sogar dazu, einige Stellen aus Homers Odyssee in deutsche Verse zu bringen, die ich in der Klasse mit Genehmigung des Lehrers vorlas.

Jetzt freilich, nach den Hundstagen, während mein Herz noch ganz erfüllt war von dem lieblichen Bild Johanna Schmitz', war ich nur lyrisch gestimmt, und mein heißes Sehnen ergoß sich in die weltschmerzlichen schlichten Verse:

Mein Schatz, laß dieses Lied dir sagen,

wie ich unsäglich lieb dich hab'!

Ach, will dein Herz für mich nicht schlagen,

bleibt mir nur noch der Weg zum Grab.

Wo du nicht bist, ist mir die Sonne

verhüllt in einen Nebelflor,

doch schau ich dich, zieht mich die Wonne

des Augenblicks zu Gott empor.

Ich habe in meinem ganzen Leben höchstens zwei Dutzend Gedichte geschmiedet; nur in frühester Jugend und bei sehr bewegtem Herzen wurde ein bißchen lyrisches Empfinden in mir wach.

Ein Erlebnis, das ich bald darauf hatte, lenkte meine Augen, freilich nur diese und nur für ganz kurze Zeit, auf ein anderes weibliches Wesen. Schon ein paarmal auf der Straße war mir ein junges Mädchen aufgefallen, das mit ihrem schon voll entwickelten Busen und mit ihrer kecken, bestimmten Art einen älteren Eindruck machte, als ihren sechzehn Jahren entsprach. Jedesmal sah sie mich mit ihren dunklen Feueraugen in so herausfordernder Weise an, daß mir das Blut ins Gesicht schoß. Eines Nachmittags sah ich aus dem Fenster der im ersten Stock gelegenen Wohnung meines Pensionsvaters. Da kam meine schöne Unbekannte die Straße herauf. Sie schaute mit einem Glutblick zu mir hinauf, während sie vorüberging.

 

Am Ende der kurzen Straße kehrte sie um und kam zurück. Diesmal hatte ihr Blick etwas so deutlich lockendes, daß unwillkürlich die Frage in mir aufstieg: »Was will sie von dir?« Nach ein paar weiteren Schritten drehte sie sich um und machte mit dem rechten Ellenbogen eine heftige, fast herrisch auffordernde Bewegung. Instinktiv gehorchte ich; es war kein Zweifel, sie wollte, daß ich zu ihr hinabkommen sollte. Also nahm ich meinen Hut und eilte auf die Straße. Sie ging langsam, von Zeit zu Zeit sich umblickend, ob ich ihr auch folgte, die Straße hinunter, dem Festungstor zu. Es war in der siebenten Abendstunde, im Dämmerlicht. Draußen bog sie in einen menschenleeren, vom Bäumen besäumten Weg ein. Jetzt verlangsamte sie ihre Schritte; mir hämmerte das Herz in der Brust. Noch nie in meinem Leben hatte ich ein mir unbekanntes Mädchen angesprochen, und allerlei beklemmende, lähmende Bedenken regten sich in mir. Bildete ich mir nicht am Ende etwas ein, das keinerlei realen Hintergrund hatte? Hatte ich ihrer Armbewegung nicht vielleicht eine falsche Bedeutung untergelegt? Würde sie mich nicht gehörig abblitzen lassen, wenn ich sie jetzt anredete? Und überhaupt, was sollte ich ihr eigentlich sagen?

Sie schritt so zögernd, daß ich es nicht vermeiden konnte, an ihr vorüberzugehen. Das Gesicht mit der Verlegenheitsglut auf die Brust gesenkt, schlich ich an ihr vorbei. In meiner hilflosen Befangenheit wußte ich nichts Besseres zu tun, als meine Schritte zu beflügeln. Da hielt mich ihre Stimme zurück.

»Haben Sie's denn so eilig, Herr Zell?«

Ich blieb stehen und starrte sie überrascht an.

»Sie kennen mich?«

»Freilich. Sie sind mir aufgefallen, und da habe ich mich erkundigt, wie Sie heißen und wo Sie wohnen.«

»Warum ... warum denn?«, stotterte ich tölpelhaft.

Sie lächelte und sah mich wieder mit ihren Glutaugen an, vor denen mir angst und bange wurde.

»Weil Sie mir gefallen und ich Ihre Bekanntschaft zu machen wünsche«, versetzte sie ohne Scheu.

Ich fühlte mich geschmeichelt. Nun war kein Zweifel mehr.

»Gefalle ich Ihnen denn nicht?«, fragte sie schelmisch, während wir unseren Weg wieder aufnahmen.

»Doch, doch!«, versicherte ich stammelnd, dabei den Blick vor ihren niederschlagend.

Aber meine Unbeholfenheit schien ihr Selbstgefühl, ihre Sicherheit noch zu erhöhen.

»Ein so hübscher Mensch wie Sie braucht doch nicht so schüchtern zu sein!«, ermunterte sie resolut.

Natürlich wurde ich dunkelrot; so geradeheraus hatte mir das doch noch keine gesagt, seit ich zum Jüngling gereift war. Es war eine eigentümliche Situation, die mich in grenzenlose Verwirrung brachte. Die Rollen waren vertauscht; das Weib, noch dazu ein so junges Geschöpf, war der aktive Teil, der Mann der passive.

Trotz der Schmeichelei war meine Stimmung keinesweges eine gehobene. Ich lächelte verlegen.

»Sie haben wohl noch niemals geküßt?«, fuhr sie fort.

»Doch – doch!«, gab ich zurück und dachte an Elise Grabert. Es war das einzige Mal gewesen, wo ich weibliche Lippen auf meinen gefühlt. Zugleich ärgerte ich mich über mich selber. Wenn ich damals so unternehmend gewesen war, warum benahm ich mich heute wie ein Stockfisch.

Sie wurde immer deutlicher. Sich ein wenig vorneigend und mich aus nächster Nähe mit ihren begehrlichen Blicken anblitzend, sagte sie schmeichlerisch:

»Sie haben einen so schönen Mund; ich glaube, Sie müssen sehr nett küssen können.« Trotz ihrer für ihre Jahre erstaunlichen Raffiniertheit kannte sie wohl das Menschenherz noch wenig. Gerade ihre dreiste, schamlose Art stieß mich ab und nahm ihr in meinen Augen allen Reiz. Ich weiß nicht mehr, welche Antwort ich ihr gab; ich erinnere mich nur, daß unsere Unterhaltung und unser Spaziergang bald ein Ende nahmen, wir verabschiedeten uns ziemlich kühl voneinander und verabredeten nicht einmal ein Wiedersehen.

Am nächsten Tage erkundigte ich mich über das Mädchen – sie hatte mir, noch ehe wir uns trennten, ihren Namen genannt. Was ich über sie erfuhr, steigerte die Antipathie, die mir ihr draufgängerisches Wesen eingeflößt, zum grenzenlosen Abscheu. Sie war eine Waise und lebte mit ihrem erwachsenen Bruder, der ein Geschäftsmann war, zusammen. Man erzählte sich von den Beiden kaum glaubliches, furchtbares.

Was sie mit mir vorgehabt hatte, konnte ich mir danach wohl denken. Aber noch war mir die geschlechtliche Begierde nicht zum Bewußtsein gekommen. Wenn ich dem kecken Mädchen in der Folge zufällig einmal begegnete, sah ich nach der anderen Seite.

Nach den Michaelisferien, die ich bei meinen Eltern zubrachte, kamen neue Schüler aus anderen Städten. Das Gymnasium in Küstrin bestand erst im zweiten Jahr und es hieß, daß man hier leichter das Abiturium würde bestehen können. Auch war bekannt, daß die Gymnasiasten sich hier größerer Freiheit erfreuten, als es sonst üblich war. Der Direktor war in der Tat ein humaner, freigesinnter Mann. So hatte er den Sekundanern und Primanern das Kneipen erlaubt und bestimmte Lokale für unseren Besuch freigegeben. Unter dem Einfluß von zwei neuen Freunden, die von Potsdam gekommen waren, gewöhnte ich mir noblere Passionen an, als ich sie bisher gepflegt hatte. Neunaugen, Sardinen und andere Leckereien sowie echtes Bier verdrängten die einfachen, billigeren Genüsse. Es waren zwei Brüder, die Söhne eines Geheimen Regierungsrats; der ältere war schon neunzehn Jahre alt, der andere anderthalb Jahre jünger; beide waren Primaner. Auf den Älteren hatte, wie er mir später erklärte, meine äußere Erscheinung einen sympathischen Eindruck gemacht und ich schloß mich, geschmeichelt, daß er, der Ältere, die Freundschaft des Sekundaners suchte, herzlich an ihn an. Wir wurden in der Folge gute Freunde. Ein guter Kitt unserer Freundschaft war auch das Übereinkommen, daß wir uns gegenseitig bei den Schularbeiten halfen: Ich diktierte ihm die deutschen Aufsätze und er machte meine mathematischen Aufgaben, denn der Mathematik stand ich geradezu hilflos gegenüber.

Den jüngeren Bruder mochte ich nicht leiden; er war eine auffallende Persönlichkeit. Trotz seiner jungen Jahre hochgewachsen und mit selten regelmäßigen Zügen. Manieren tadellos, immer mit einem verbindlichen Lächeln im Gesicht, aber mich fröstelte es bei seinem aalglatten Wesen, das großen Wert auf die äußeren Formen legte und sich immer wie das eines Erwachsenen gab. Er kleidete sich stets mit großer Sorgfalt, aber sein etwas arrogantes, renommistisches Benehmen machte ihn wenig beliebt. Er war der einzige in meinem damaligen Freundeskreise, der sich in erotischen Prahlereien gefiel und sich mit vielsagendem Lächeln und mit halben Andeutungen den Anschein gab, daß er in punkto Liebe ein Wissender sei.

Die Wirkung war allerdings die wahrscheinlich von ihm gewünschte. Er wurde für uns ein Gegenstand des Staunens, der Bewunderung und geheimen Neides. Erich Luckner war es auch, der uns eines Abends in eine Mädchenkneipe führte. Es war das erstemal, daß ich ein Lokal betrat, in dem eine freundliche Hebe das schäumende Bier kredenzte. Hübsch war sie und sehr munter; ihre Lebhaftigkeit und ihre halb anziehende, halb zurückscheuchende Art bezauberte uns alle. Erich Luckner war natürlich der Matador; sein gewandtes, einschmeichelndes Wesen versagte auch bei dem Schenkmädchen seine Wirkung nicht. Bewundernd, in steigender Erregung, von unbewußten Regungen durchglüht, sahen wir zu, wie er mit der Hebe verkehrte, ihr Artigkeiten sagte, ihre Hände ergriff und streichelte und schließlich seine Arme um ihre Taille legte. Mir wurde ganz heiß dabei, und uneingestandene Wünsche überfielen mich. Der jugendliche Don Juan brachte es richtig so weit, daß sich die nicht Allzuspröde von ihm küssen ließ. Sein Bruder folgte, und nun konnten auch wir übrigen drei uns nicht mehr zurückhalten. Das Mädchen ging sozusagen von einem Lippenpaar zum andern. Sie wollte sich ausschütten vor Lachen über die verliebten kußlüsternen Gymnasiasten. Ich aber war wie berauscht. Das war doch ein ganz anderer Kuß wie damals der von der kleinen Elise Grabert! Wie heiß es mich durchschauerte! In jedem Nerv verspürte ich die glutvollen Lippen der mich fest an sich pressenden Schenkin. Ja, die verstand zu küssen!

Und dann kam das große historische Ereignis, das meinem Leben eine plötzliche, ungeahnte Wendung gab und nicht nur in meinem äußeren Leben, sondern ebensosehr für mein inneres Leben und meine sittliche Entwicklung einen wichtigen Abschnitt bedeutete.

Am 19. Juli dieses Jahres erklärte Frankreich an Preußen den Krieg. Ich befand mich in den Ferien wieder auf dem Gute meines guten Onkels August. Auch bis in den stillen, weltabgeschiedenen Ort trieben die Wellen der ungeheuren Bewegung, die durch ganz Deutschland fluteten. Die Reservisten und Landwehrleute wurden eingezogen. Schon während der Anfänge des politischen Konflikts, noch vor unseren Ferien, hatten wir Pennäler mit großer Lebhaftigkeit die Möglichkeit eines zwischen Frankreich und Deutschland ausbrechenden Krieges erörtert. Hans und Erich Luckner und ich, wir hatten uns begeistert das Wort gegeben, als Freiwillige mitzugehen, wenn es wirklich ernst werden sollte. Nun, da die Würfel gefallen waren, ergriff es mich wie ein Fieber. Und als nun gar die Truppentransporte begannen – zehn Minuten vom Herrenhause befand sich die Eisenbahnstation, die den Namen von dem Gute meines Onkels hatte – da wurde der Wunsch, mein den Freunden gegebenes Wort einzulösen und den Feldzug mitzumachen, immer dringender in mir. Aber mein Onkel, dem ich mich offenbarte, riet mir ab. Mein Vater würde es doch nun und nimmer zugeben. Da kam eines Tages ein Brief von Hause, daß Robert, mein älterer Bruder, der das neunzehnte Jahr bereits zurückgelegt hatte, die Gestellungsorder erhalten hätte. Da war kein Halten mehr. Noch an demselben Tage schrieb ich einen langen, heiß flehenden Brief an meinen Vater. Was ich geschrieben, weiß ich nicht mehr, aber es hatte die erwünschte Wirkung. Nachdem ein paar Tage quälenden, bangen Wartens verstrichen waren, kam die zustimmende Antwort und mit der formellen Erlaubnis zugleich mein einjähriges Zeugnis, das der Vater bereits besorgt hatte. An meinen Onkel schrieb er, er möchte mich nach der nächsten Garnison bringen, denn wo ich einträte, sei ganz gleichgültig. Mein älterer Bruder aber – er war kleiner und schwächlicher als ich – war bei der militärärztlichen Untersuchung zurückgewiesen worden.

Keiner war froher als ich. Wir besannen uns nicht lange. Stettin wurde gewählt, und zwar das Ersatzbataillon des vierzehnten Infanterieregiments, weil der Kommandeur des Bataillons, ein alter, schon verabschiedet gewesener Major, seinerzeit meines Onkels Vorgesetzter gewesen. Einschalten will ich, daß die beiden Luckner, da ihnen der Herr Geheimrat seine Einwilligung nicht gegeben, heimlich durchgebrannt, aber von ihrem Vater wieder zur Schule zurückgebracht worden waren. Erst zu Neujahr, als der Krieg sich seinem Ende näherte, haben sie das sogenannte Notexamen gemacht und sind dann beide später Offiziere geworden. Vom Feldzug 1870/71 haben sie nichts gesehen.

Meinen Stolz kann man sich vorstellen, als mich der Militärarzt in Stettin für tauglich erklärt hatte. Leider erlitt meine Freude einen kleinen Dämpfer, als mir der Regimentsschneider erklärte, daß keine Monturen mehr da waren und er erst eine Uniform für mich anfertigen lassen müsse. Viele Einjährige exerzierten und gingen in ihren Zivilkleidern herum. Ich aber hätte um keinen Preis mehr das lumpige Zivil getragen; zum Glück hatte ich eine Drillichjacke aufgetrieben. Dazu legte ich ein paar eigene weiße Hosen an, umgürtete meine Lenden anstatt des fehlenden Säbels mit dem sogenannten »Spickaal« – eine Lederscheide, in der das abgeschraubte Bajonett des Zündnadelgewehrs steckte – zog ein paar weiße Tanzstundenhandschuhe an und stolzierte so, die Extramütze auf dem stolz emporgereckten Haupt, durch die Straßen Stettins.

Ein brausendes Leben begann. Das Exerzieren war ein Vergnügen, die Abende wurden im Kreise der Kameraden zechend, singend verbracht. Eines Tages kam an der Tafelrunde das Gespräch, das sich ja fast ausschließlich auf die täglichen Siegesnachrichten erstreckte, auch einmal auf erotische Dinge. Was da meine keuschen Ohren alles zu hören bekamen! Die Scham und die geheime Erregung brannten mir abwechselnd auf den Wangen. Die Kameraden waren fast alle über die Zwanzig, die meisten junge Kaufleute, ich, der siebzehnjährige Pennäler, war der jüngste in der Runde der Einjährigen unseres Bataillons.

 

Da tippte mir mein Nachbar auf die Schulter. Kersten hieß er, ungefähr dreiundzwanzig Jahre alt, Gutsinspektor seines Zeichens, ein netter, liebenswürdiger Mensch, der mir im Dienst und auch sonst stets freundlich zur Hand ging.

»Na, Zell, du sagst ja gar nichts! Mensch, ich glaube gar, du bist noch Jungfer!«

Beschämt saß ich da, unter den spöttischen und geringschätzigen Blicken der andern heftig errötend.

»Na, laß nur gut sein!«, tröstete mich der Kamerad, der schon einen Kinnbart und einen flotten Schnurrbart trug, mir gönnerhaft auf die Schulter klopfend. »Nichts wird man im Leben leichter und angenehmer los als die Jungfernschaft!«

Tosendes Lachen begrüßte und bestätigte diese Sentenz des Erfahrenen. Und als ich noch immer voll Scham den Kopf gesenkt hielt, fügte Kersten hinzu: »Scheinst ja höllisch schüchtern, Zell. Hast wohl Angst? Na, ich werde mich deiner annehmen.«

Der Kamerad hielt Wort. Schon am nächsten Nachmittag holte er mich aus meiner Wohnung ab.

»Ich habe etwas für dich. Werde dich zu dem Mädel begleiten. Wenn du erst auf den Geschmack gekommen sein wirst, findest du den Weg zu den süßen Weibchen schon allein.«

Mir war gar nicht wohl zumute, so neugierig ich auch war und so begierig mich schon die Prahlereien Erich Luckners und gar erst die Erzählungen der Kameraden gemacht hatten. Aber so par force, gewissermaßen unter militärischer Eskorte, widerstrebte es doch meiner noch unverdorbenen, noch nicht erotisch abgebrühten Natur.

Kersten führte mich in eine abgelegene, nicht eben freundliche Straße und in ein keineswegs einladendes Haus. Mir klopfte das Herz zum Zerspringen, als wir uns der Tür zu dem Parterrezimmer näherten. Wenn ich mich nicht geschämt hätte, wäre ich am liebsten ausgekniffen. Aber wenn Kersten es dann den andern erzählt hätte, ich wäre ja für immer unsterblich blamiert und Zielscheibe spöttischer Witze gewesen. Also ich biß die Zähne zusammen. Es ging eben einfach nicht anders. Kersten öffnete und zog mich mit sich über die Schwelle. Zum Glück herrschte schon Dämmerung. Vom Sofa löste sich eine Frauengestalt; sie mochte Mitte der Zwanzig sein. Soviel ich in meiner furchtbaren Befangenheit wahrnehmen konnte, sah sie gar nicht übel aus. Sie lächelte uns beide freundlich und einladend an. Ich kam mir wie ein Schlachtopfer vor.

»Da bringe ich dir was Rares«, sagte Kersten, seine Freundin mit einem Händedruck begrüßend. »So was hast du nicht alle Tage – ein ganzer Neuling!«

Er schob mich der Erstaunten, Lachenden entgegen; sie umschlang mich ohne weiteres herzhaft.

»Ist es wirklich wahr, Kleiner?«

Ich nickte beschämt, während es in meiner Brust stürmte und eine Flut der verschiedenartigsten Gedanken und Empfindungen in meinem Hirn wogte. Ich dachte an meine schwärmerische Jugendliebe: an Klara Bohm und an die zarte Blondine in Louisenfließ, die ich ebenfalls keusch und innig geliebt hatte, ich dachte auch an mein Elternhaus und verwünschte den Kameraden, der sich in seiner Rolle als Mentor blähte. Aber in die niederziehenden, sentimentalen Hemmungen spritzten auch ein paar aufschäumende Regungen der Neugierde und der Begehrlichkeit.

Bevor Kersten ging, eilte das Mädchen, ich wußte nicht, zu welchem Geschäft, in den Alkoven, der sich an ihr Zimmer schloß. Der Kamerad benutzte die Gelegenheit, um mir leise, hastig zuzuraunen: »Mehr als drei Mark gibst du ihr nicht – hörst du! Für einen Soldaten genug!«

Damit verließ er uns, und die Liebesverkäuferin zog mich zum Sofa.

Eine halbe Stunde später verließ ich die Priesterin der Venus vulgivaga, die mich die rein körperliche Liebe gelehrt hatte. Ein Glücksgefühl war nicht in mir, aber auf der Straße reckte ich mich doch stolz und sah jeden Jüngling in meinem Alter selbstbewußt, überlegen an. »Ich bin ein Mann!«, hätte ich jedem zurufen mögen. Dennoch fühlte ich keine Lust, die neue »Freundin« zu einem zweiten Liebesstündchen aufzusuchen. Wohl ging ich ein paarmal mechanisch, triebhaft in die Straße, aber ein Gefühl des Widerwillens hielt mich ab, in das schäbige Haus zu treten, in dem sich meine Wandlung zum Manne so nüchtern, so ganz poesielos, ich möchte fast sagen, so geschäftsmäßig vollzogen hatte. Ich Tor, ich ahnte ja nicht, um welches süßeste, himmelantragende, unvergänglich schöne Erlebnis ich betrogen worden war!

Acht Tage später war wieder Kersten der Verführer, der mich abermals zu einem bezahlten Schäferstündchen verleitete.

Wir waren im »Elysium«, wo alle Tage Tanz und zugleich ein förmlicher Liebesmarkt stattfand. Das weibliche Publikum bestand fast ausschließlich aus Prostituierten. Ich war schon damals ein flotter, und ich darf wohl sagen, ein gewandter Tänzer, und nach Herzenslust überließ ich mich den Freuden des Tanzes. Kersten aber, dessen Sinne wohl von der Berührung mit den aus allen Poren Sinnlichkeit schwitzenden Mädchen gereizt worden waren, hielt es für angezeigt, nach Terpsichore auch der Venus zu huldigen. Schon hing ihm, als Feierabend geboten war, eines der Weiber, das sich weder durch Schönheit noch durch Jugendfrische auszeichnete, am Arm. Er winkte mir mit dem Kopf, und halb widerstrebend, halb in erwachender Begierde, schloß ich mich ihm an. Alle drei begaben wir uns in seine Wohnung. Er hatte mit einem Freunde, einem Artilleristen, der einige Tage vorher zur Front gegangen war, zwei Zimmer inne. Im Schlafzimmer standen noch zwei Betten. Als Wirt war er so liebenswürdig, mir den Vortritt einzuräumen. Aber die an und für sich schon nicht gerade himmlischen Freuden in den Armen der wenig berauschenden Circe wurden durch Kerstens Ungeduld noch wesentlich gedämpft. –

Nur vier und eine halbe Woche dauerte meine militärische Ausbildung, woran der langsame Schritt und das Einzelexerzieren den Hauptanteil hatten. Kompagnieexerzieren gab es überhaupt nicht, und nur einmal waren wir zum Schießstande gezogen. Ganze fünf Schuß habe ich mit meinem Zündnadelgewehr abgegeben. Aber das kriegerische Feuer und die jugendliche Abenteuerlust waren groß. Doch beinahe wäre meine Freude zu Wasser geworden. Unser Major rangierte mich als Jüngsten aus der Reihe der von ihm gemusterten Einjährigen aus. Nur mein flehentliches Bitten und der Hinweis, daß ich nur des Krieges wegen freiwillig eingetreten, bewogen ihn, mich wieder zu den übrigen zurückzustellen.

Am nächsten Tag ging's mit rauschender Militärmusik nach dem Bahnhof. Wie stolz wir durch die Straßen marschierten, von der Menschenmenge lebhaft begrüßt! In Berlin wurde die erste größere Rast gemacht. Mein älterer Bruder und meine Mutter erwarteten mich hier. Das Mittagessen in der Bahnhofsrestauration wollte mir gar nicht schmecken. Es lag mir wie ein Alb auf der Brust und schnürte mir die Kehle zu. Die Unterhaltung wollte nicht in Fluß kommen. Über eine Stunde waren wir zusammen, dann erschallte das Signal: »Einsteigen!« Meine Mutter wollte mir auf dem Bahnsteig das Geleit geben. Aber ich litt es nicht. Nein, in dem Wirrwarr, unter den vielen Soldaten! In Wahrheit aber fürchtete ich für meine Standhaftigkeit, und es schien mir besser, meiner Mannhaftigkeit nicht allzuviel zuzumuten. Ziemlich hastig umarmte ich beide und lief dann eilig, ohne mich auch nur einmal umzusehen, davon. Als ich mein Abteil erreicht hatte, fiel es mir doch schwer aufs Herz. Der Abschied war ein gar zu flüchtiger gewesen, und vielleicht war es ein Abschied für immer. Meine liebe, innig verehrte, gute Mutter! Ich hatte es wohl bemerkt, wie sie die ganze Zeit über mit ihrer Bewegung gekämpft, wie sie ihre Tränen aber um meinetwillen zurückgedrängt hatte. So war sie immer gewesen, selbstlos, opferbereit. Wieviele Opfer hatte sie mir nicht bereits gebracht, wieviele Sorgen um meinetwillen erduldet, wenn es galt, zwischen dem strengen Vater und mir zu vermitteln! Wie oft hatte sie mir heimlich ein paar Taler zugesteckt, um meine kleinen Schulden zu bezahlen. Immer war sie über die Maßen voll Güte und Nachsicht gegen uns Kinder gewesen.