Sherlock Holmes: Eine Studie in Scharlachrot

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Es war am 4. März und ich habe gute Gründe mich daran zu erinnern, da ich etwas früher als sonst aufgestanden war und feststellte, dass Sherlock Holmes sein Frühstück noch nicht beendet hatte. Die Hauswirtin hatte sich so sehr daran gewöhnt, dass ich erst spät erschien, so dass mein Platz weder gedeckt noch der Kaffee gebrüht war. Mit der unvernünftigen Gereiztheit des Mannes läutete ich und gab kurz Bescheid, dass ich fertig sei. Dann nahm ich ein Magazin vom Tisch und versuchte mir damit die Zeit zu vertreiben, während mein Mitbewohner schweigend an seinem Toast kaute. Die Überschrift eines Artikels war mit Bleistift markiert worden und ich begann ihn deshalb zu überfliegen.

Der ein wenig hochtrabende Titel lautete »Das Buch des Lebens« und es stellte den Versuch dar, aufzuzeigen wie viel ein aufmerksamer Mensch durch eine exakte und systematische Untersuchung all dessen, was ihm über den Weg lief, lernen könne. Es erschien mir als eine bemerkenswerte Mischung aus Scharfsinn und Absonderlichkeit. Die Argumentation war knapp und eindringlich, aber die Schlussfolgerungen waren meiner Meinung nach zu weit hergeholt und übertrieben. Der Verfasser gab vor durch einen flüchtigen Gesichtsausdruck, das Zucken eines Muskels oder den Blick eines Auges die innersten Gedanken eines Menschen ergründen zu können. Täuschung war, nach seinem Dafürhalten, für einen Mann scharfer Beobachtungsgabe und Analyse ein Ding der Unmöglichkeit. Seine Rückschlüsse waren so unfehlbar wie die Thesen von Euklid. Seine Ergebnisse würden den Uneingeweihten so verwirrend erscheinen, bis sie den Prozess begriffen hätten, durch den er zu diesen gelangt sei, und sie würden ihn wahrscheinlich als einen Nekromanten betrachten.

»Aus einem Tropfen Wasser«, sagte der Verfasser, könnte ein Logiker auf den Atlantik oder den Niagara schließen, ohne von beiden je etwas gesehen oder gehört zu haben. Das ganze Leben ist eine Kette von Abläufen, deren Beschaffenheit bekannt wird, sobald uns ein Glied dieser Kette vor Augen geführt wird. Wie alle anderen Kunstfertigkeiten kann die Deduktion und Analyse nur durch lange und geduldige Studien erworben werden, doch währt kein Leben lange genug, um die höchste Vollkommenheit darin zu erreichen. Bevor er sich jenen moralischen und mentalen Seiten der Angelegenheit zuwendet, welche die größten Schwierigkeiten darstellen, hat der Forscher die elementareren Probleme zu meistern. Wenn er einem anderen Sterblichen begegnet, lernt er auf einen Blick die Geschichte des Mannes zu erfassen, dessen Handwerk oder Beruf, dem er zuzurechnen ist. Wenngleich eine solche Übung kindisch erscheinen mag, schärft sie doch die Beobachtungsfähigkeiten und lehrt einen wohin man zu blicken und wonach man zu suchen hat. Durch die Fingernägel eines Menschen, seinen Mantelärmel, seine Stiefel, seine Kniebundhosen, die Schwielen an seinem Zeigefinger und Daumen, seinen Gesichtsausdruck, seine Manschetten – durch jedes Detail wird der Beruf eines Mannes offenkundig. Dass alles zusammen den fähigen Forscher nicht aufklären könne, erscheine auf jeden Fall höchst unvorstellbar.

»Was für ein unsäglich dummes Geschwätz!« rief ich und knallte das Magazin auf den Tisch, »ich habe in meinem ganzen Leben noch nie solchen Unsinn gelesen.«

»Worum geht es?« fragte Sherlock Holmes.

»Nun, dieser Artikel«, sagte ich und deutete mit meinem Eierlöffel darauf, da ich gerade beim Frühstück saß. »Ich sehe, dass Sie ihn gelesen haben, weil Sie ihn kennzeichneten. Ich leugne nicht, dass er recht klug geschrieben ist. Dennoch irritiert er mich. Es ist offensichtlich die Theorie eines Stubenhockers, der in seinem Lehnstuhl sitzt und aus seinen eigenen Studien all diese netten kleinen Paradoxien schließt. Er ist ohne praktischen Nutzen. Ich möchte ihn gerne in einem Wagen dritter Klasse in der Untergrundbahn eingezwängt sehen, und ihn fragen, wie er die Berufe aller Mitfahrenden bestimmen möchte. Ich würde eins zu tausend gegen ihn wetten.«

»Sie würden Ihr Geld verlieren«, bemerkte Sherlock Holmes ruhig. »Und was den Artikel angeht, den habe ich geschrieben.«

»Sie!«

»Ja, ich habe einen Hang zur Beobachtung und zur Deduktion. Die Theorien, die ich hier zur Sprache gebracht habe, und die Ihnen so phantastisch erscheinen, sind in Wirklichkeit äußerst praktikabel – so praktikabel, dass davon mein täglich Brot abhängt.«

»Und wie das denn?« fragte ich unwillkürlich.

»Nun, ich habe mein eigenes Handwerk. Ich vermute, dass ich der einzige auf dem Gebiet weltweit bin. Ich bin ein beratender Detektiv, falls Sie verstehen, was das ist. Hier in London haben wir jede Menge Detektive der Regierung und auch jede Menge privater. Wenn diese Burschen nicht mehr weiter wissen, kommen sie zu mir und ich bringe sie auf die richtige Spur. Sie bringen mir alle Beweise und ich bin, dank meiner Kenntnis der Verbrechensgeschichte, im Allgemeinen in der Lage, die Dinge zurechtzurücken. Es gibt bei Missetaten große Familienähnlichkeiten, und wenn man alle Details von tausend Verbrechen in Händen hält, wäre es seltsam, nicht auch das tausendunderste aufzudecken. Lestrade ist ein bekannter Detektiv. Bei einem Fall von Fälschung lief er unlängst in die Irre und kam deshalb hierher.

»Und die ganzen anderen Leute?«

»Sie werden meist von privaten Detekteien geschickt. Es sind alles Leute, die wegen irgendetwas in Schwierigkeiten stecken und aufgeklärt werden wollen. Ich höre mir deren Geschichte an, sie hören meinen Kommentaren zu und dann streiche ich mein Honorar ein.«

»Aber wollen Sie damit sagen«, meinte ich, »dass Sie, ohne Ihr Zimmer zu verlassen, imstande sind, ein paar Knoten lösen, mit denen andere nichts anfangen können, selbst wenn diese alle Details kennen?«

»Ganz genau. Ich besitze eine Art Intuition. Hin und wieder stellt sich ein Fall als etwas komplexer dar. Dann muss ich mich selbst tummeln und die Dinge mit eigenen Augen sehen. Wie Sie wissen, verfüge ich über ein spezielles Wissen, das ich auf die Sache anwende und das die Angelegenheit wunderbar erleichtert. Die Regeln der Deduktion, die ich in diesem Artikel dargelegt habe, und die Ihre Verachtung hervorgerufen haben, sind für meine praktische Arbeit von unschätzbarem Wert. Das Beobachten ist mir zur zweiten Natur geworden. Sie schienen, als wir uns zum ersten Mal begegneten, erstaunt, als ich sagte, Sie kämen aus Afghanistan.«

»Das hatte Ihnen sicherlich jemand erzählt.«

»Keineswegs. Ich wusste, dass Sie aus Afghanistan kamen. Aus langer Gewohnheit gehen mir die Gedanken so schnell durch den Kopf, dass ich bei der Schlussfolgerung anlange, ohne mir der Zwischenschritte bewusst zu sein. Der Denkvorgang lief folgendermaßen ab: Hier ist ein Gentleman der medizinischen Sparte, aber mit der Haltung eines Militärs. Bestimmt ein Armeearzt. Er ist gerade aus den Tropen gekommen, denn sein Gesicht ist dunkel, aber das ist nicht seine natürliche Hautfarbe, denn seine Handgelenke sind hell. Er hat einiges an Mühsal und Krankheit durchlitten, was sein hageres Gesicht deutlich aussagt. Sein linker Arm wurde verletzt. Er hält ihn unnatürlich steif. In welchen tropischen Gebieten könnte ein englischer Armeearzt solche Mühsal durchlebt haben und sein Arm verwundet worden sein? Natürlich in Afghanistan. Dieser ganze Gedankenablauf dauerte nicht einmal eine Sekunde. Und dann ließ ich die Bemerkung fallen, Sie kämen aus Afghanistan und Sie waren erstaunt.«

»Es klingt einfach, wie Sie das erklären«, sagte ich mit einem Lächeln. »Sie erinnern mich an Edgar Allen Poes Dupin. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass solche Individuen außerhalb von Erzählungen existieren.«

Sherlock Holmes stand auf und zündete seine Pfeife an. »Sie denken sicher, dass Sie mir ein Kompliment machen, wenn Sie mich mit Dupin vergleichen«, bemerkte er. »Nun, in meinen Augen war Dupin ein minderwertiger Bursche. Sein Trick, in die Gedanken seiner Freunde mit der Bemerkung ach übrigens nach einer Viertelstunde Schweigen hineinzuplatzen ist wirklich sehr angeberisch und oberflächlich. Er hatte ein gewisses analytisches Talent, ohne Zweifel; aber er war keineswegs so phänomenal, wie sich das Poe vorzustellen schien.«

»Haben Sie die Werke von Gaboriau gelesen?« fragte ich. »Kommt Lecoq Ihrer Vorstellung von einem Detektiv näher?«

Sherlock Holmes schnaubte sardonisch. »Lecoq war ein erbärmlicher Stümper«, sagte er in ärgerlichem Tonfall; »er hatte nur eine gute Eigenschaft, und das war seine Energie. Das Buch hat mich geradezu krank gemacht. Die Frage war die Identifizierung eines unbekannten Gefangenen. Das hätte ich in vierundzwanzig Stunden erledigt. Lecoq brauchte dazu etwa sechs Monate. Man könnte daraus ein Lehrbuch für Detektive machen, um sie zu lehren, was man vermeiden sollte.«

Ich war ziemlich entrüstet, dass zwei Charaktere, die ich bewundert hatte, auf so geringschätzige Art abgetan wurden. Ich ging hinüber zum Fenster und sah auf die belebte Straße. »Der Bursche mag sehr klug sein«, sagte ich mir, »aber er ist sehr eingebildet.«

»Es gibt zur Zeit keine Verbrechen und keine Verbrecher«, sagte er verdrossen. »Wozu ist es in unserem Beruf gut, Köpfchen zu haben? Keiner der jetzt Lebenden oder niemand der je gelebt hat, brachte in die Aufdeckung von Verbrechen so viel Wissenschaft und natürliche Begabung ein, wie ich es getan habe. Und wozu? Es gibt kein Verbrechen zu entdecken oder höchstens einen stümperhaften Schurken, mit einem so offensichtlichen Motiv, dass es sogar ein Beamter von Scotland Yard erkennen kann.«

Ich war immer noch von seiner aufgeblasenen Art der Unterhaltung verstimmt. Ich dachte, es wäre besser das Thema zu wechseln.

»Ich frage mich, wonach dieser Bursche sucht?« sagte ich und zeigte auf eine stämmige, schlicht gekleidete Person, die langsam die andere Straßenseite hinunterging und dabei besorgt auf die Hausnummern sah. Er hielt einen großen blauen Umschlag in der Hand und war offensichtlich der Überbringer einer Botschaft.

 

»Sie meinen den ehemaligen Sergeanten der Marine?« sagte Sherlock Holmes.

»Prahlerei und Aufschneiderei!« dachte ich. »Er weiß, dass ich sein Raten nicht verifizieren kann.«

Kaum war mir dieser Gedanke durch den Kopf gegangen, als der Mann, den wir beobachteten, die Nummer an unserer Haustür entdeckt hatte und rasch über die Fahrbahn lief. Wir vernahmen ein lautes Klopfen, eine tiefe Stimme im Erdgeschoß und schließlich schwere Schritte auf der Stiege.


»Für Mr. Sherlock Holmes«, sagte er, als er das Zimmer betrat und meinem Freund den Brief aushändigte.

Hier bot sich mir die Gelegenheit ihm seine Einbildung auszutreiben. Daran hatte er bei seinem Schuss ins Blaue bestimmt nicht gedacht. »Darf ich fragen, guter Mann«, sagte ich mit der freundlichsten Stimme, »was Sie für einen Beruf haben?«

»Dienstmann, Sir«, sagte er schroff. »Die Uniform ist beim Ausbessern.«

»Und davor?« fragte ich, mit einem leicht boshaften Blick auf meinen Gefährten gerichtet.

»Sergeant Sir, Leichte Infanterie der Königlichen Marine, Sir. Noch Fragen? In Ordnung, Sir.«

Er schlug die Hacken zusammen, hob seine Hand zum Gruß und verschwand.

3. Das Rätsel von Lauristons Garden

Ich gestehe, dass mich dieser erneute Beweis der praktischen Umsetzung der Theorien meines Freundes zutiefst erstaunte. Meine Achtung für seine analytischen Fähigkeiten wuchs gewaltig. Doch noch immer lauerte in mir der Argwohn, dass es sich hier um eine abgesprochene Episode handelte, die dazu dienen sollte mich zu verblüffen, doch welchen Zweck er damit um alles in der Welt verfolgte, blieb mir rätselhaft. Als ich ihn ansah, hatte er die Mitteilung gelesen und seine Augen nahmen einen leeren, stumpfen Ausdruck an, der mir seine Geistesabwesenheit verriet.

»Wie in aller Welt konnten Sie das deduzieren?« fragte ich.

»Was deduzieren?« sagte er verdrießlich.

»Nun, dass er ein ehemaliger Sergeant der Marine war.«

»Ich habe keine Zeit für Nebensächlichkeiten«, antwortete er brüsk; dann, lächelnd, »Entschuldigen Sie meine Ruppigkeit. Sie haben meinen Gedankengang unterbrochen; aber vielleicht ist das ganz gut. Sie haben also wirklich nicht erkannt, dass der Mann Marinesergeant gewesen war?«

»Nein, wirklich nicht.«

»Das zu sehen war einfacher als zu erklären, warum ich es wusste. Wenn Sie beweisen müssten, dass zwei und zwei vier ist, dürfte das einige Schwierigkeiten bereiten, doch Sie wären sich dessen ganz sicher. Sogar über die Straße hinweg konnte ich den großen blauen Anker sehen, der auf den Handrücken des Burschen tätowiert war. Das riecht nach Meer. Er hatte ein militärisches Benehmen, und den üblichen Backenbart. Da haben wir den Mann von der Marine. Er war ein Mann mit einer gewissen Portion Aufgeblasenheit, aber dennoch einem Verhalten, das zeigt, dass er Befehle gewöhnt war. Sie müssen doch bemerkt haben, wie er seinen Kopf hielt und seinen Stock schwenkte. Ein, wie man sehen konnte, zuverlässiger, ehrbarer Mann mittleren Alters – lauter Tatsachen, die mich zu der Annahme führten, dass er ein Sergeant gewesen war.«

»Wunderbar!« rief ich aus.

»Banalität«, sagte Holmes, doch aus seiner Mine schloss ich, dass er über meine offensichtliche Überraschung und Bewunderung erfreut war. »Ich sagte gerade, dass es keine Verbrecher gibt. Es scheint, ich habe mich geirrt – sehen Sie her!« Er warf mir die Mitteilung zu, die der Dienstmann gebracht hatte.

»Nun«, rief ich, als ich sie überflog, »das ist ja schrecklich!«

»Es scheint etwas außerhalb des Üblichen zu liegen«, bemerkte er gelassen.

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir das Schreiben laut vorzulesen?«

Das ist der Brief, den ich ihm vorlas:

»Mein lieber Mr. Sherlock Holmes,

In der Nacht trug sich in Nr. 3, Lauriston Gardens, nahe der Brixton Road eine üble Sache zu. Unser Mann, der seinen Rundgang machte, sah um zwei Uhr morgens dort ein Licht brennen und da das Haus leer steht, argwöhnte er, dass etwas nicht in Ordnung sei. Er fand die Tür offen vor, und im vorderen Zimmer, welches bar jeglicher Möbel ist, entdeckte er die Leiche eines gut gekleideten Gentleman, der in seiner Tasche Visitenkarten mit dem Aufdruck ›Enoch J. Drebber, Cleveland, Ohio, USA‹, trug. Es wurde nichts gestohlen, noch gab es irgendwelche Hinweise, wie der Mann den Tod fand. Es waren Blutspuren im Zimmer, doch wies diese Person keine Verletzungen auf. Wir haben keine Ahnung, wie der Mann in das leere Haus gekommen war; tatsächlich ist die ganze Sache ziemlich rätselhaft. Wenn Sie noch vor zwölf Uhr in das Haus kommen können, werden Sie mich dort antreffen. Ich werde alles so lassen, wie es war, bis ich von Ihnen höre. Sollten Sie verhindert sein, würde ich Ihnen mehr Details zukommen lassen. Ich wäre Ihnen außerordentlich verbunden, wenn Sie so freundlich wären, mir Ihre Meinung mitzuteilen.

Mit den besten Grüßen

Tobias Gregson.«

»Gregson ist der gescheiteste Mann von Scotland Yard«, bemerkte mein Freund, »er und Lestrade sind ein Lichtblick in dem ganzen Verein. Sie sind beide schnell und entschlossen, aber konventionell – entsetzlich konventionell. Sie können einander nicht ausstehen. Sie sind so eifersüchtig aufeinander wie ein Paar berufsmäßiger Schönheiten. Wenn beide auf diesen Fall angesetzt sind, wird das sicher viel Spaß geben.«

Ich war erstaunt, mit welcher Gelassenheit er vor sich hin plauderte. »Wir dürfen doch gewiss keine Minute verlieren«, rief ich, »soll ich uns eine Droschke holen?«

»Ich weiß nicht so recht, ob ich überhaupt dorthin gehen soll. Ich bin der unheilbarste faule Hund, den es je gegeben hat – das heißt, wenn ich einen meiner Anfälle habe, doch mitunter kann ich recht flink sein.«

»Wieso? Das ist doch genau die Chance, auf die Sie gewartet haben.«

»Mein Lieber, was kümmert mich das. Angenommen, ich kläre die ganze Sache, dann können Sie sicher sein, dass Gregson, Lestrade und Co. alle Lorbeeren einheimsen werden. Das hat man davon, wenn man keiner Behörde angehört.

»Aber er bittet Sie, ihm zu helfen.«

»Ja. Er weiß, dass ich ihm überlegen bin, was er mir gegenüber auch zugibt. Aber er würde sich lieber die Zunge abbeißen, als das einem Dritten gegenüber zu äußern. Auf jeden Fall könnten wir hingehen und uns die Sache ansehen. Ich werde es auf meine Weise machen. Und wenn ich nur über sie lachen könnte, falls nichts dabei herauskommt. Kommen Sie!«

Er schlüpfte hastig in seinen Überzieher und wirbelte herum, was bewies, dass ein energischer Schub den apathischen abgelöst hatte.

»Nehmen Sie Ihren Hut«, sagte er.

»Sie möchten, dass ich mitkomme?«

»Ja, wenn Sie nichts Besseres zu tun haben.« Eine Minute später befanden wir uns in einer Droschke, die mit uns wie wild in Richtung Brixton Road raste.

Es war ein nebliger, wolkenverhangener Morgen und ein fahlbrauner Schleier hing über den Dächern, der wie eine Reflexion der lehmfarbigen Straße wirkte. Mein Gefährte war bester Laune und plapperte über Geigen aus Cremona und den Unterschied zwischen einer Stradivari und einer Amati. Ich selbst war schweigsam, da sich mir das trübe Wetter und die melancholische Aufgabe, die vor uns lag, aufs Gemüt geschlagen hatten.

»Sie scheinen sich ja nicht allzu viele Gedanken über das zu machen, was vor uns liegt«, sagte ich schließlich und unterbrach Holmes’ musikalische Ausführungen.

»Ich habe noch keine Einzelheiten«, antwortete er. »Es ist ein schwerwiegender Fehler Theorien aufzustellen, bevor man alle Beweisstücke hat. Das beeinflusst die Urteilskraft.«

»Sie werden bald Ihre Einzelheiten bekommen«, bemerkte ich und deutete mit dem Finger; »das da ist die Brixton Road und das ist das Haus, wenn ich mich nicht irre.«

»Stimmt. Halten Sie an Kutscher, halt!« Wir waren noch ein paar hundert Yards entfernt, aber er bestand darauf, dass wir ausstiegen und so gingen wir das letzte Stück zu Fuß.

Nummer 3, Lauriston Gardens sah nach bösen Vorzeichen und bedrohlich aus. Es war eines von vier Häusern, die ein wenig von der Straße zurückgesetzt waren. Zwei Häuser waren bewohnt, und zwei standen leer. Letztere hielten mit drei Reihen leerer, melancholischer Fenster Ausschau, die blind und trist waren, ausgenommen dass hier und da ein Schild »Zu vermieten« sich wie grauer Star in den getrübten Scheiben entwickelt hatte. Ein kleiner Garten, über den ein Ausbruch kränklicher Pflanzen verteilt war, trennte jedes dieser Häuser von der Straße, durchzogen von einem schmalen, gelblichen Weg, der offensichtlich aus einer Mischung Lehm und Kiesel bestand. Durch den Regen der letzten Nacht war alles sehr schmuddelig geworden. Der Garten wurde von einer drei Fuß hohen Ziegelmauer eingefasst, auf der sich ein zerfallenes Holzgeländer befand. Gegen diese Mauer gelehnt stand ein stämmiger Wachtmeister, umringt von einer Horde Schaulustiger, die, in der vergeblichen Hoffnung einen Blick auf das zu erhaschen, was im Hause vorging, ihre Hälse reckten und angestrengt starrten.

Ich hatte angenommen, dass Sherlock Holmes sofort in das Haus eilen würde, um sich in die Untersuchung des Rätsels zu stürzen. Nichts schien von seinen Absichten weiter entfernt zu sein. Mit einer lässigen Haltung, die für mich unter diesen Umständen an der Grenze zur Affektiertheit zu sein schien, schlenderte er auf dem Pflaster auf und ab, und starrte mit leerem Blick auf den Boden, den Himmel, die gegenüberliegenden Häuser und die Reihe der Geländer. Nachdem er seine Untersuchung beendet hatte, schritt er gemächlich den Weg hinunter, genauer gesagt den Grasstreifen, der den Weg säumte, und hin und wieder sah ich ihn lächeln oder einen Ausruf der Befriedigung ausstoßen. Auf dem schlammigen Boden befanden sich viele Fußabdrücke, aber da die Polizei ein und aus gegangen war, konnte ich nicht begreifen, wie mein Gefährte etwas daraus zu erfahren hoffte. Doch da ich solch außerordentliche Beweise seiner schnellen Wahrnehmungsfähigkeit bereits erhalten hatte, zweifelte ich nicht, dass er vieles zu sehen vermochte, was mir verborgen blieb.

An der Haustür stießen wir auf einen großen Mann mit blassem Gesicht und flachsfarbigem Haar, der ein Notizbuch in seiner Hand hielt, auf uns zueilte und die Hand meines Gefährten überschwänglich schüttelte. »Das ist wirklich sehr freundlich von Ihnen, dass Sie gekommen sind«, sagte er, »ich habe alles unberührt gelassen.«

»Abgesehen davon!« antwortete mein Freund, und zeigte auf den Weg. »Wäre hier eine Büffelherde durchgezogen, hätte es nicht schlimmer aussehen können. Aber zweifellos haben Sie Ihre eigenen Schlüsse gezogen, Gregson, bevor Sie dies zuließen.«

»Ich hatte so vieles im Haus zu tun«, sagte der Kriminalbeamte ausweichend. »Mein Kollege Lestrade ist hier. Ich hatte mich darauf verlassen, dass er sich darum kümmern würde.«

Holmes sah mich an und zog seine Augenbrauen ironisch in die Höhe. »Mit zwei solchen Männern wie Ihnen und Lestrade auf dem Schauplatz, bleibt für einen dritten nicht viel übrig, das er finden könnte.«

Gregson rieb sich selbstzufrieden die Hände. »Ich denke, wir haben alles getan, was möglich war«, antwortete er; »es ist ein seltsamer Fall und ich kenne Ihre Vorliebe für derlei Dinge.«

»Sie sind nicht in einer Droschke hierhergekommen?« fragte Sherlock Holmes.

»Nein, Sir.«

»Und Lestrade?«

»Auch nicht, Sir.«

»Dann wollen wir uns mal das Zimmer ansehen.« Mit dieser Bemerkung, die in keinem Zusammenhang mit dem Vorherigen stand, schritt er ins Haus, gefolgt von Gregson, dessen Miene Erstaunen ausdrückte.

Ein kurzer Flur mit blanken und staubigen Dielen führte in die Küche und Stuben. Zwei Türen auf der linken und rechten Seite standen offen. Eine davon war offensichtlich für viele Wochen verschlossen gewesen. Die andere gehörte zu einem Speisezimmer, in welchem sich der kuriose Vorfall ereignet hatte. Holmes ging hinein und ich folgte ihm mit jenem beklemmenden Gefühl im Herzen, das die Nähe des Todes auslöst.


Es war ein großer quadratischer Raum, der größer wirkte, da sämtliches Mobiliar fehlte. Die Wände waren mit einer ordinären, auffallenden Tapete geschmückt, die an einigen Stellen Schimmelflecken aufwies, und von der sich hier und dort große Streifen gelöst hatten und herunterhingen, so dass der gelbe Putz darunter zum Vorschein kam. Gegenüber der Tür befand sich ein protziger Kamin mit einem Sims aus imitiertem weißen Marmor. Auf einer Ecke des Simses war ein Stummel einer roten Wachskerze aufgeklebt. Das einzige Fenster war so schmutzig, dass das Licht nur diffus und verschwommen hereindrang, was dem ganzen Raum einen dumpfen grauen Farbton verlieh, der durch die dicke Staubschicht, die den gesamten Raum bedeckte, noch verstärkt wurde.

 

Diese ganzen Einzelheiten nahm ich erst später wahr. Im Augenblick war meine ganze Aufmerksamkeit auf die einzelne, grauenvoll reglose Gestalt gerichtet, die ausgestreckt auf den Dielen lag, und mit ausdruckslosen Augen auf die farblose Decke starrte. Es handelte sich um einen Mann von etwa drei- oder vierundvierzig Jahren, von mittlerer Größe, breitschultrig, mit kräftigem schwarz gelocktem Haar und einem kurzen Stoppelbart. Er trug einen Gehrock und eine Weste aus schwerem Tuch sowie helle Hosen und einen makellosen Kragen und ebensolche Manschetten. Ein Zylinder, gut gebürstet und gepflegt, lag neben ihm auf dem Boden. Seine Hände waren geballt und seine Arme weit ausgebreitet, wohingegen seine unteren Gliedmaßen verrenkt waren, so als ob sein Todeskampf fürchterlich gewesen sei. Auf seinem starren Gesicht stand der Ausdruck des Grauens geschrieben, und wie mir schien auch des Hasses, wie ich ihn nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Diese bösartige und schreckliche Verzerrtheit, zusammen mit der niedrigen Stirn, der platten Nase und dem hervorstehenden Kiefer verliehen dem Toten ein einzigartig affenähnliches Aussehen, das durch seine verrenkte, unnatürliche Haltung noch verstärkt wurde. Ich hatte den Tod in vielen Formen gesehen, aber keine war mir je zuvor schrecklicher erschienen als jene in diesem düsteren schmutzigen Raum, der auf eine der Hauptverkehrsadern Londons hinausschaute.

Lestrade, hager und frettchenhaft wie immer, stand neben der Tür und begrüßte meinen Begleiter und mich.

»Dieser Fall wird für Aufsehen sorgen, Sir«, bemerkte er. »Das übertrifft alles, was ich bisher gesehen habe und ich bin wirklich nicht empfindlich.«

»Es gibt keinen Hinweis?« sagte Gregson.

»Nicht einen«, stimmte Lestrade ein.

Sherlock Holmes näherte sich der Leiche und untersuchte sie eingehend, nachdem er sich niedergekniet hatte. »Sie sind sicher, dass es keine Verletzungen gibt?« fragte er, und zeigte auf die zahlreichen Blutspritzer und Flecken, die über den Boden verteilt waren.

»Sicher nicht!« riefen beide Kriminalbeamte.

»Dann gehört das Blut natürlich zu einer zweiten Person – wahrscheinlich dem Mörder, falls hier überhaupt ein Mord verübt wurde. Es erinnert mich an die Umstände, die beim Tod von Van Jansen in Utrecht im Jahre 34, aufgetreten waren. »Erinnern Sie sich an den Fall, Gregson?«

»Nein, Sir.«

»Sie sollten darüber nachlesen – wirklich. Es gibt nichts Neues unter dem Himmel. Es war alles schon einmal dagewesen.«

Während er sprach, huschten seine flinken Finger hierhin und dorthin, sie fühlten, drückten, knöpften auf, untersuchten, wobei seine Augen denselben entrückten Ausdruck zeigten, den ich schon an ihm bemerkt hatte. Die Untersuchung erfolgte so schnell, dass man daraus kaum auf die Gründlichkeit schließen konnte, mit der sie durchgeführt wurde. Schließlich schnüffelte er an den Lippen des Toten und betrachtete dann die Sohlen seiner Glanzlederschuhe.

»Er ist bestimmt nicht bewegt worden?«

»Nur so viel, wie für unsere Untersuchung nötig war.«

»Sie können ihn dann ins Leichenschauhaus bringen«, sagte er. Mehr ist nicht in Erfahrung zu bringen.«

Gregson hatte eine Bahre und vier Männer zur Hand. Auf seinen Ruf hin betraten sie den Raum und der Fremde wurde hochgehoben und hinausgetragen. Gerade als sie ihn anhoben, fiel klirrend ein Ring hinab und rollte durch das Zimmer. Lestrade hob ihn auf und sah ihn entgeistert an.

»Es war eine Frau hier«, rief er. »Es ist der Trauring einer Frau.«

Während er sprach, hielt er uns den Ring auf seiner ausgestreckten Hand hin. Wir standen um ihn herum und starrten den Ring an. Es konnte kein Zweifel bestehen, dass dieser schlichte Goldring einst den Finger einer Braut geziert hatte.

»Das macht die Sache komplizierter«, sagte Gregson. »Der Himmel weiß, dass es auch vorher schon kompliziert war.«

»Meinen Sie nicht, dass das die Angelegenheit vereinfacht?« bemerkte Holmes. »Durch bloßes Anstarren werden wir nichts erfahren. Was haben Sie in seinen Taschen gefunden?«

»Das liegt alles hier«, sagte Gregson, und zeigte auf einen Haufen Gegenstände auf einer der unteren Stufen der Stiege. »Eine goldene Uhr, Nummer 97163 von Barraud, London. Eine goldene Uhrkette, sehr schwer und massiv. Goldener Ring mit Freimauerzeichen. Eine goldene Krawattennadel – der Kopf einer Bulldogge mit Rubinaugen. Eine Kartentasche aus russischem Leder mit Karten von Enoch J. Drebber aus Cleveland, was den Initialen E. J. D. auf der Wäsche entspricht. Keine Börse, aber loses Geld von sieben Pfund und dreizehn Schilling. Taschenausgabe von Boccaccios Decamerone, mit dem Namen Joseph Stangerson auf dem Deckblatt. Zwei Briefe – einer adressiert an E. J. Drebber und einer an Joseph Stangerson.«

»An welche Anschrift?«

»American Exchange, The Strand – zur Abholung. Sie sind beide von der Guion Dampfschiffgesellschaft und beziehen sich auf die Abfahrt ihrer Schiffe von Liverpool. Es ist klar, dass dieser unglückliche Mann nach New York zurückkehren wollte.«

»Haben Sie über diesen Mann, Stangerson, Nachforschungen angestellt?«

»Das habe ich sofort gemacht, Sir«, sagte Gregson. »Ich habe an alle Zeitungen Anzeigen geschickt, und einer meiner Männer ging zu American Exchange, aber er ist noch nicht zurück.«

»Haben Sie Cleveland benachrichtigt?«

»Wir haben heute Morgen ein Telegramm geschickt.«

»Und wie ist der Wortlaut Ihrer Anfrage?«

»Wir haben einfach die Umstände mitgeteilt, und gesagt, dass wir uns über jede Information freuen würden, die uns weiterhilft.«

»Sie haben nicht nach Einzelheiten zu den Punkten gefragt, die Ihnen als wichtig erscheinen?«

»Ich fragte nach Stangerson.«

»Sonst nichts?« Gibt es keine Umstände, an denen dieser Fall aufgehängt zu sein scheint?« Wollen Sie nicht noch einmal telegraphieren?«

»Ich habe alles gesagt, was ich zu sagen habe«, sagte Gregson in beleidigtem Ton.

Sherlock Holmes kicherte in sich hinein und schien eine Bemerkung machen zu wollen, als Lestrade, der sich im vorderen Zimmer während unseres Gesprächs in der Diele aufgehalten hatte, wieder auf der Bildfläche erschien und seine Hände in hochtrabender und selbstzufriedener Manier rieb.

»Mr. Gregson«, sagte er, »ich habe gerade eine Entdeckung von höchster Bedeutung gemacht, und die übersehen worden wäre, hätte ich nicht die Wände aufmerksam untersucht.«

»Die Augen des kleinen Mannes funkelten, als er sprach und er war offensichtlich in einer Verfassung unterdrückten Jubels, weil er seinem Kollegen gegenüber einen Punkt voraus war.

»Kommen Sie«, sagte er und eilte ins Zimmer zurück, dessen Atmosphäre heller erschien, seit der grässliche Bewohner entfernt worden war. »Nun, stellen Sie sich hierhin!«

Er zündete ein Streichholz an seinem Schuh an und hielt es gegen die Wand.

»Schauen Sie sich das an!« sagte er triumphierend.

Ich hatte erwähnt, dass die Tapete teilweise von der Wand abgelöst war. In diesem besonderen Teil des Raums war ein großes Stück abgefallen und hatte ein gelbes Viereck groben Putzes entblößt. Auf dieser kahlen Stelle war etwas in blutroten Buchstaben geschrieben – ein einziges Wort – RACHE.

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